Die Berichte der Kölnischen Rundschau, 21.05.2016

von Simon LORENZ, Jens MEIFERT, Kölnische Rundschau

Falsch verbunden

Die Aufarbeitung der Silvesternacht offenbart ein Absprachendesaster

Vor dem Kölner Hauptbahnhof steht seit Anfang des Jahres eine mobile Wache der Polizei. Viel zu tun gibt es nicht, die Beamten blinzeln in die Sonne, ab und an fragt ein Tourist nach dem Weg. Die Maßnahme soll das subjektive Sicherheitsgefühl stärken. Warum die Situation an dieser Stelle in der Silvesternacht völlig außer Kontrolle geriet, ist längst nicht lückenlos geklärt, und doch schärft sich das Bild. Es ist ein Bild von Fehleinschätzungen, Kommunikationspannen und Behördenirrsinn.

Die erste verheerende Fehleinschätzung passiert vor dem Silvestertag. Der Leiter der Innenstadtwache der Kölner Polizei, Peter Römers, forderte am 2. Dezember mit Verweis auf die Zunahme von Taschendiebstählen durch Täter aus Nordafrika eine komplette Hundertschaft für die Silvesternacht an. Die Direktion Gefahrenabwehr/Einsatz der Polizei leitete die Anforderung an das Landesamt für polizeiliche Dienste (LZPD) in Duisburg weiter - allerdings in entschärfter Form. Der Verweis auf nordafrikanische Täter fehlte. Warum, ist bis heute unklar. Das LZPD bewilligte gegen Römers' Wunsch statt der Hundertschaft nur zwei Züge, also 38 Beamte weniger, für die Silvesternacht. Römers sagte im Untersuchungsausschuss: "Damit musste ich leben." Er habe das nicht für "kriegsentscheidend" gehalten.

Tatsächlich sahen sich die 80 Beamten einem Einsatz ausgesetzt, der sie "an die Leistungsgrenze" brachte, wie es ein leitender Polizist formulierte. Ein Video, das dem WDR zugespielt wurde, zeigt die dramatischen Bilder der Räumung des Bahnhofsvorplatzes gegen 23.30 Uhr. Fast flehentlich ruft ein Beamter seinem Kollegen zu: "Was ist ... was sagt der Einsatzleiter?" Die schmale Antwort: "Dass das mit zwei Mann nicht zu halten ist." Zu diesem Zeitpunkt waren alle Polizeikräfte aus der Altstadt und den Ringen zusammengezogen. Was verwundert: Der Polizei wurden vom Duisburger Landesamt weitere Kräfte angeboten - die Kölner Polizei lehnte ab. 114 Beamte hätten kurzfristig zur Verfügung stehen können, teilte das LZPD schon im Januar der Rundschau mit. Man habe die ganze Nacht in Kontakt gestanden.

Dies verwundert umso mehr, als der Einsatzleiter der Kölner Polizei, Günter R., vor dem Ausschuss aussagte, er habe "Angst vor einer Massenpanik" gehabt und sich daher gegen 23.30 Uhr zur Platzräumung entschieden. Auf Videobildern ist zu sehen, wie die Türen des Bahnhofs geschlossen und die Menschen immer dichter zusammengedrückt werden. Im Nachhinein ist klar, dass der größte Teil der Straftaten ab diesem Zeitraum vorgefallen sein muss. Günter R., der wegen seines zupackenden Naturells intern "Joe Bombe" genannt wird, sagt: Von den Übergriffen habe er nichts mitbekommen. "Hätten wir davon erfahren, hätten wir eine andere Situation gehabt." Nach der Räumung habe sich die Situation beruhigt.

Was für ein Irrtum. Dass die grob unterzähligen Beamten offenbar nicht über das Ausmaß der Delikte informiert waren, liegt auch an den Zuständigkeiten. Die Bundespolizei ist fürs Bahnhofsgebäude zuständig, aber nur für einen Teil des Vorplatzes. Der hätte von der Landespolizei gesichert werden sollen. Das Ordnungsamt wiederum war auf den Brücken zuständig - und dort nicht Herr der Lage. Weil mit dem erlebten Ausmaß an Gewalt nicht zu rechnen war, gab es keine Kommandobrücke. Aber offenbar konnten einzelne das Ausmaß zumindest erahnen. So berichtet Detlef M., Einsatzleiter der Bundespolizei, von einem Gespräch mit Günter R. gegen 2 Uhr morgens. Zu diesem Zeitpunkt seien Sexualdelikte schon bekanntgewesen. Der Kölner Einsatzleiter bestreitet dies.

Detlef M. hat nach eigener Aussage auch die chaotischen Zustände auf der Hohenzollernbrücke registriert. Über die hatte die Rundschau am 2. Januar als erste Zeitung berichtet. M. fühlte sich an Zustände bei der "Loveparade" erinnert. "Ich werde erdrückt", hätten Menschen in der Masse gerufen. Knallkörper detonierten, Raketen wurden ziellos abgeschossen. Es war die Bundespolizei, die schließlich den Zugverkehr stoppen ließ. Von der Panik hat die Leiterin des Ordnungsdienstes nichts mitbekommen. 22 Mitarbeiter des Amts waren Silvester im Einsatz, dazu 65 eines privaten Sicherheitsdienstes. Im Bereich der Brücken überwachten sie aber nur den Zulauf an den Köpfen. Weil das Mobilfunknetz überlastet war, war keine Kommunikation zwischen der Einsatzleiterin des Ordnungsamtes und der Polizei möglich. Ein Funkgerät hatte die 38-jährige Einsatzleiterin bei der Polizei für die Kontaktaufnahme abgegeben - es wurde die ganze Nacht nicht genutzt.

Das Kommunikationsdesaster geht bei der Erfassung der Taten weiter. 30 bis 50 Personen, darunter viele weinende Frauen, saßen auf der Innenstadtwache, um Anzeige zu erstatten. Nur eine Beamtin stand zur Verfügung, um diese aufzunehmen. Von den chaotischen Szenen an der Stolkgasse hat der Chef der Leitstelle, Marco S., nichts mitbekommen. Er vermied zudem in der ersten WE-Meldung ("Wichtiges Ereignis") das Wort "Migranten" oder "Flüchtlinge". Und das, obwohl der Einsatzleiter darauf bestanden habe. Dies sei ihm zu heikel gewesen, sagte S. im Landtag.

Das Kommunikationschaos geht weiter in der Beschreibung der Taten. In schroffem Ton, so berichtete Kriminalhauptkommissar Jürgen H. habe ihn ein Anrufer einer Polizeibehörde aufgefordert, aus einer WE-Meldung den Begriff "Vergewaltigung" zu streichen. Wer der mysteriöse Anrufer war, ist bis heute ungeklärt. Den Namen notierte H. nicht. Dass es sich um eine Anweisung aus dem Ministerium gehandelt habe, bestritt Innenminister Ralf Jäger (SPD) energisch. Auch über die Dienststelle des Anrufers herrscht Verwirrung. H. verortete den Anrufer im Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste, das Innenministerium bestreitet dies. Am Ende blieb der Begriff "Vergewaltigung" im Bericht. 

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