Die Berichte des EXPRESS, 01.07.2016

von Gerhard VOOGT, EXPRESS in Köln, Christian WIERMER, EXPRESS in Köln

Die erschütternden Anzeigen aus der Silvesternacht

Köln - Es dauert Tage, alle Akten zu lesen. Ein halbes Jahr nach dem Kölner Silvester-Mob liegen der Polizei mehr als 500 Anzeigen wegen sexueller Übergriffe vor, von insgesamt 1190. Die Lektüre der Dokumente geht unter die Haut. Mit diesem Bericht wollen wir das Ausmaß und die Dimension der Übergriffe deutlich machen. Das persönliche Leid, die Scham und die Hilflosigkeit der Opfer dürfen bei der Aufarbeitung des Staatsversagens nicht zur Nebensache werden. Die Hilferufe der Frauen beleuchten einen Skandal, über den bisher zu wenig gesprochen wurde: Viele Opfer beschweren sich massiv über unterlassene Hilfeleistung durch die Polizei!

Beleidigung auf sexueller Grundlage", "Sexuelle Nötigung durch eine Gruppe", "Vergewaltigung". Das sind die Straftaten, die die Täter der  Silvesternacht  reihenweise verübt haben. Als "Begehungsweise", wie es im Polizeideutsch heißt, wird in den Anzeigen häufig "anpöbeln", "grapschen", "drängeln" angegeben. Das hört sich harmlos an, im Vergleich zu dem, was die Frauen tatsächlich erlebt haben. Denn die Männergruppen handelten brutal und rücksichtlos - viele Opfer stehen bis heute unter Schock.

Unübersichtliche Lage

Die meisten Frauen geraten völlig unvorbereitet in den Sex-Mob. Sie sind nach Köln gekommen, um mit Freunden zu feiern, einen netten Abend zu verleben, sich das Feuerwerk am Dom anzusehen. Von der Hohenzollernbrücke hat man eine gute Sicht auf das Spektakel. Touristen aus ganz Deutschland freuen sich auf den Jahreswechsel in der rheinischen Metropole. Sie vertrauen darauf, sicher zu sein. Doch weil der Staat versagt, endet der Abend für viele in der Katastrophe.

Das Unheil nimmt weit vor Mitternacht seinen Lauf. Die Stadt Köln versäumt es, Fußstreifen über die Hohenzollernbrücke zu schicken. Als eine Massenpanik wegen Überfüllung droht, bekommt das von den Ordnern keiner mit. Die Menschen auf der Brücke fliehen auf die Gleise. Der Zugverkehr muss gesperrt werden. Die Folgen sind fatal.

Der Bahnhof läuft zu, weil es nicht vor und zurück geht. Polizisten, die im Gebäude für Ordnung sorgen sollten, müssen sich um die prekäre Lage auf der Hohenzollernbrücke kümmern.

Im Hauptbahnhof und auf dem Bahnhofsvorplatz wird es drangvoll eng.

Die Täter nutzen die unübersichtliche Lage und ihre Überzahl unerbittlich aus. Während der 80-minütigen Gleissperrung kommt es alle 13 Sekunden zu einer Straftat.

Frauen werden umzingelt

Bis jetzt ist ungeklärt, warum sich so viele Männer aus Nordafrika an jenem Abend in der Domumgebung versammelten. Es sollen bis zu 1500 gewesen sein. Sie waren vom Alkohol enthemmt, viele wollten ihren Frust loswerden. Bislang waren "Nafris" vor allem durch Trickdiebstähle straffällig geworden. Den meisten Tätern in der  Silvesternacht  geht es offenbar nur in zweiter Linie um Handys und Bargeld - sie sind von ihrer Gier nach Sex getrieben. Der "Modus Operandi", die Vorgehensweise, ist fast immer gleich. Frauen, die in Gruppen oder mit Freunden und Ehemännern unterwegs waren, werden von ihren Begleitern abgedrängt, umzingelt und von mehreren Tätern angegangen. Oft werden die Frauen von hinten attackiert, an die Brüste gepackt, dreist in den Schritt gefasst. Die Hände und Finger der Männer scheinen überall zu sein. "Ich habe mich in dem Moment so erniedrigt gefühlt, wie ein Stück Fleisch, wir hatten solche Angst", berichtet eine junge Frau. Den Männern sei es ganz egal gewesen, dass andere in der Nähe waren. Eine Auszubildende gibt zu Protokoll: "Als der Mann von hinten zwischen meine Beine fasste und mich dort sehr intim berührte, verspürte ich eine große Scham. Ich merkte, dass die Männer dort keinen Respekt vor mir und meiner Würde hatten." Die Kölner Domumgebung - sie war in der  Silvesternacht  ein rechtsfreier Raum. Die knapp 80 Bereitschaftspolizisten, die im Laufe des Abends auf dem Bahnhofsvorplatz zu Spitzenzeiten zusammengezogen wurden, reichten bei Weitem nicht aus, um die Frauen zu schützen. In den Anzeigen, die von der Kölner Polizei aufgenommen wurden, finden sich jedoch kaum kritische Anmerkungen zur Rolle der eingesetzten Beamten. Das Leid der Opfer wird sogar zum Teil extrem verharmlost. In einer Strafanzeige vom 12. Januar 2016, 17.16 Uhr, heißt es lapidar: "Die Geschädigte wurde in der  Silvesternacht  aus einer Gruppe am Gesäß gestreichelt. Sie kann die Personen nur vage beschrieben. Entwendet wurde der Geschädigten nichts."

Auswärtige Behörden nehmen die massive Kritik am Einsatz der Polizei hingegen durchaus zu Protokoll. Viele Frauen schildern eindrucksvoll, dass sie erst durch die Polizeitaktik zum Opfer wurden. Die Polizeiketten, die nach der Überfüllung des Hauptbahnhofs gebildet wurden, waren auch für die Hilfesuchenden Frauen unüberwindbar. In einer Strafanzeige vom 5. Januar 2016, 19.37 Uhr, verdeutlicht ein Polizist die Lage einer Frau aus Düsseldorf: "Ständig habe man ihr in den Intimbereich zwischen die Beine gefasst und ihr auch das Kleid hochgezogen. Sie habe sich durch die Menge auf der Domplatte unter ständigen Übergriffen ,gekämpft', und zu einer auf der anderen Seite stehenden Polizeikette bewegt. Dort wollte sie sich hinflüchten, aber die Polizisten wollten sie nicht durchlassen, sodass sie weiter auf dem Domplatz bleiben mussten."

Polizei glaubt Opfern nicht

Eine Schülerin aus Remscheid klagt in ihrer Strafanzeige vom 4. Januar, 12.59 Uhr, an: "Irgendwie, wir wissen nicht wie, sind wir dann da raus gekommen und zum Bahnhof zur Polizei gelaufen. Die Polizisten, die wir angesprochen haben, haben uns nicht geglaubt und nicht geholfen. Es waren drei Polizisten und eine Polizistin. Die haben sich das Ganze nur angeschaut und nichts getan. Wir sind darüber ziemlich entsetzt und auch verärgert."

Eine junge Frau aus Dormagen berichtet (Strafanzeige vom 5. Januar, 13.28 Uhr): "Jessica und ich sind dann zu drei Polizisten gegangen, die standen am Bahnhof. Dort haben von dem Vorfall berichtet. Die taten das aber so ab und meinten, wir seien halt Mädchen und wir müssten immer mit so etwas rechnen." Ein anderes Opfer berichtet am 5. Januar um 17.14 Uhr: "Es war das nackte Chaos und zwanzig Schritte im Eingangsbereich standen seelenruhig zwei Polizisten."

Riesenwut auf Beamte

Haben die Beamten absichtlich weggeguckt? Wollten sie sich selber nicht in Gefahr bringen? Viele Opfer haben am Silvesterabend das Vertrauen in die Polizei verloren. "Die Gruppe der Männer hat hinter dem Eingang immer weiter gemacht und auch andere Leute belästigt", berichtet eine Touristin. "Und dies alles unter den Augen des Polizisten. Deshalb habe ich den Polizisten aufgefordert, hier einzugreifen, was er allerdings nicht getan hat. Er sagte zu mir persönlich: Da kann man nichts machen. Den Namen des Polizisten weiß ich natürlich nicht. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch eine Riesenwut, da ich in der Situation um Hilfe rief und keiner der Passanten geholfen hat, nicht einmal der Polizist."

Noch kein Täter ermittelt

Bei der Aufnahme der Anzeigen geht es drunter und drüber. Bei der Einsatzplanung wurde versäumt, in den Dienststellen genügend Beamte für die Schreibtischarbeit bereitzustellen. Bisweilen geht es ruppig zu. In der Polizeiwache Stolkgasse nahm ein Polizist die Täter offenbar in Schutz. Er sagte, dass dies "ein freies Land" sei und "wir die Regierung selbst gewählt hätten", heißt es in einer Anzeige.

Bei der Staatsanwaltschaft Aachen liegen unterdessen 60 Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung gegen Polizeibeamte vor. Sie richten sich unter anderem auch gegen den Kölner Ex-Polizeipräsident Wolfgang Albers (60), der nach dem Silvester-Mob seinen Job verlor. Ob konkrete Ermittlungen aufgenommen werden, ist noch unklar.

Viele Frauen glauben nicht daran, dass ihr Leid juristisch gesühnt wird. Bislang wurde trotz einer Flut von Hinweisen und intensiver Auswertung der Videoaufnahmen noch nicht ein einziger Sex-Täter ermittelt.

Eine Auszubildende aus Wipperfürth zieht ihre eigenen Schlussfolgerungen: "Ich habe gelernt, mich Silvester aus Großstädten fernzuhalten.."

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2017