Die Berichte des EXPRESS, 16.01.2016

von Gerhard VOOGT, EXPRESS in Köln, Christian WIERMER, EXPRESS in Köln

Herr Minister, diese Fragen müssen Sie jetzt beantworten

Die Silvester-Schande von Köln war knapp eine Woche alt, als der Innenminister am Dreikönigstag einen dringenden Appell loswerden wollte. "Wir haben noch keine Täter, um es deutlich zu sagen", sagte Ralf Jäger (54, SPD) in Düsseldorf. "Spekulationen darüber, aus welcher Gruppe diese Täter sich zusammensetzen" seien "völlig verfrüht".

Vielleicht galt der Aufruf vor allem ihm selbst. Denn zwei Tage zuvor noch, als sich Jäger gegenüber dem EXPRESS äußerte, hielt er folgenden Satz jedenfalls nicht für "völlig verfrüht": "Wir nehmen es nicht hin, dass sich nordafrikanische Männergruppen organisieren, um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen." Das war deutlich - und weit mehr jedenfalls als Polizeipräsident Wolfgang Albers (60) kurz zuvor über den tatsächlichen Ermittlungsstand mitteilte.

Inzwischen weiß man darüber mehr: Junge Männer aus Algerien, aus Iran, der Türkei, aus Marokko, Albanien, Syrien, Somalia und Tunesien stehen im Visier der Ermittler. Zu Planung und Ablauf des Polizei-Einsatzes und über das Wissen des Ministers gibt es allerdings immer neue Widersprüche. Und so viel steht fest: Jäger ("Für Vertuschungen stehe ich nicht zur Verfügung") weicht unangenehmen Fragen aus, muss Fakten nachreichen und versucht seine eigene Rolle kleiner zu machen als sie war. Und ist. EXPRESS zeigt: Diese Fragen muss der  Minister  noch beantworten!

Was wusste Jäger zu welchem Zeitpunkt persönlich - und warum schwieg er bis zum Abend des 4. Januar?

Sicher ist: Jäger wusste früher Bescheid als bisher bekannt und verheimlichte wichtige Informationen. Nach tagelangem Ausweichen verkündete Jäger am Donnerstag im Landtag zunächst: "Eine WE-Meldung, die die Dimension in dieser Größenordnung (...) oder überhaupt eine WE-Meldung (hat) ist nicht an mich gesteuert worden." Nur wenige Minuten später musste er aber einräumen, dass genau das falsch ist. Bereits um 14.36 Uhr am Neujahrstag erhielt Jäger tatsächlich eben eine solche Meldung über ein "wichtiges Ereignis" (WE)- Titel: "Sexuelle Übergriffe Bahnhofsvorplatz, Köln": Darin war von "bislang elf bekannten Übergriffen zum Nachteil junger Frauen, begangen durch eine 50- bis 50 -köpfige Personengruppe" die Rede. "Die Frauen wurden hierbei von der Personengruppe umzingelt, oberhalb der Bekleidung begrapscht und Schmuck entrissen". Und wie das Ministerium auf EXPRESS-Anfrage am Freitag mitteilte, war darin auch "die Tätergruppe als Nordafrikaner" beschrieben. Spätestens ab 21.40 Uhr wusste Jäger von der wachsenden Anzahl der Anzeigen und der Einrichtung der Ermittlungsgruppe, und am Mittag des 3. Januar las er eine weitere WE-Meldung aus Köln mit dem aktuellen Stand.

Doch der NRW-Innenminister schwieg öffentlich noch weitere 36 Stunden.

Wann wusste Ministerpräsidentin Kraft Bescheid?

Unklar. Sie war mit ihrer Familie im Urlaub. Die Ministerpräsidentin sagt selbst, sie sei erst am 4. Januar informiert worden. In der Opposition gibt es daran Zweifel.

Stellte das Land ausreichend Kräfte zur Verfügung?

Die Bundespolizei (67 Beamte) hat für ihre Zuständigkeit im Bahnhof im Vorfeld extra eine robuste Einheit ihrer Bereitschaftspolizei zur Verfügung gestellt (ebenfalls in Hamburg und Berlin), ohne die laut internem Einsatznachbericht der Landesbereitschaftspolizei "eine sachgerechte Durchführung" des Einsatzes gar nicht möglich gewesen wäre.

Im Vorfeld wurden vom Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) zwar mehr Beamte (ein Zug der Bereitschaftspolizei) genehmigt als im letzten Jahr, aber weniger als aus Köln angefordert. Warum?

Dazu gibt es Widersprüche im  Minister -Bericht: Einerseits sei die Lage vergleichbar mit dem Vorjahr gewesen, andererseits habe es eine "aktuelle Sicherheitslage" (Gefahr möglicher Terror-Anschläge) gegeben. Außerdem teilte das Kölner Polizeipräsidium mit: "Nach Lagebeurteilung und Prognose für die Silvesternacht 2015/2016 war im Vergleich zu den Vorjahren mit einer erhöhten Anzahl von Delikten im Bereich Taschen- und Trickdiebstahl sowie Straßenraub zu rechen."

Wäre die Verstärkung überhaupt rechtzeitig gekommen?

Jäger wirft der Polizei das Ausbleiben der Anforderung vor (um 23.30 Uhr wurden Kräfte vom Land aus Gelsenkirchen, Aachen und Wuppertal angeboten) - aber gestern musste er durch seinen Sprecher einräumen lassen, dass die Polizisten zu Hause waren und daher mit "ersten (Teil-) Kräfte am Einsatzort" frühestens nach "ca. 90 Minuten" zu rechnen gewesen wäre. "Nicht zielführend", befand deswegen der Polizeiführer bereits in der Silvesternacht.

Wie viele Polizisten waren tatsächlich vor Ort?

Daran, dass tatsächlich wie behauptet ab 21 Uhr 143 Landesbeamte am Bahnhof im Einsatz waren, gibt es mittlerweile erhebliche Zweifel. Jägers Sprecher räumt inzwischen ein, dass es bei der bisherigen Darstellung mindestens eine "noch nicht geklärte Abweichung" gibt.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2017