Die Berichte des EXPRESS, 07.05.2016

von Gerhard VOOGT, EXPRESS in Köln, Christian WIERMER, EXPRESS in Köln

'Ich glaube, die spinnen'

Die Landesregierung versprach im Januar eine "lückenlose Aufklärung" der Silvesternacht - doch lesen Sie mal, was tatsächlich passiert

Wir müssen alles dafür tun, damit sich das nicht wiederholt. Dazu muss am Anfang eine lückenlose Aufklärung stehen. Das sind wir den Betroffenen, den Opfern schuldig", sagte Hannelore Kraft (54, SPD).

"Ich will, dass nichts, aber auch gar nichts zum Einsatz in Köln offenbleibt, sondern alles offen und transparent gegenüber dem Parlament, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, vor allem aber auch gegenüber den Opfern dieser Nacht dargestellt wird", ergänzte Ralf Jäger (55, SPD). Es war eine hitzige Diskussion in der Sondersitzung des Landtags zur Silvesternacht, Rücktrittsforderungen machten bereits die Runde. Die Ministerpräsidentin und ihr Innenminister gingen an diesem Nachmittag des 14. Januar scheinbar in die Offensive. Doch heute muss sich die Landesregierung mehr denn je fragen lassen: Hat sie vielleicht genau das Gegenteil von "lückenloser Aufklärung" getan?

Am Montag ist Minister Jäger als Zeuge in den Untersuchungsausschuss geladen, deutlich früher als geplant. Vor allem der Opposition aus CDU und FDP reichte es, fast täglich neue Enthüllungen zu lesen, bei denen es immer wieder um Jäger und sein Haus ging.

"Dieses Ministerium hat nichts zu verbergen", sagte der SPD-Politiker noch vor dem Innenausschuss des Landtags. Doch vieles deutet heute daraufhin, dass tatsächlich brisante Informationen im Verborgenen bleiben sollten. Und offenbar weiter sollen.

Regierungsunterlagen, die der Untersuchungsausschuss haben will, wurden inzwischen für geheim erklärt, E-Mails oder Vermerke sind in den Akten nicht auffindbar. Vorwürfe aus der Polizei selbst über Einflussnahme durch eine Landesbehörde waren im Innenministerium bereits Anfang Januar bekannt, kamen aber erst im April nach Presserecherchen raus. Dass das engste Umfeld von Hannelore Kraft nahezu komplett schon am Neujahrstag von massiven sexuellen Übergriffen durch große Nordafrikaner-Gruppen wusste, enthüllte der EXPRESS zuletzt vor zwei Wochen. Die Liste der Ungereimtheiten erweitert sich ununterbrochen.

Unmittelbar nach der Silvesternacht stellten Medien Anfragen zu den Abläufen an die beteiligten Behörden in Bund, Land und Stadt Köln. Am 22. Januar schickte der EXPRESS einen detaillierten Fragenkatalog an Innenminister Jäger. Es ging unter anderem um das Wissen in der Staatskanzlei, die Ungereimtheiten bei der Zahl der tatsächlich eingesetzten Kräfte und weitere Widersprüche.

Verzögerte Auskünfte

Jägers Pressesprecher gab die Fragen neun Minuten nach Eingang an die Fachleute im Haus weiter. Am Samstagmorgen, um 8.45 Uhr, reagierte Gerhard K., Erster Polizeihauptkommissar aus dem für Einsätze zuständigen Referat 412, per E-Mail auf den umfangreichen Fragenkatalog. "Ich glaube die  spinnen ", schrieb er an seinen Kollegen, Polizeidirektor Armin H. . "Wir warten bis zum 27.01."

Dazu muss man wissen: Für genau diesen 27. Januar war die Einsetzung des Untersuchungsausschusses erwartet - und damit gleichzeitig das Ende des zu untersuchenden Zeitraums. Nach diesem Tag erfolgte Vorgänge sind nicht unbedingt dem Parlament als Akten vorzulegen. Ein Zufall? Oder wollte man etwa bis zu diesem Tag warten, um später darauf zu verweisen, dass man dem Untersuchungsausschuss nicht vorgreifen wolle - aus "Respekt vor dem Parlament"?

Nach dem Wochenende schien der Plan der verzögerten Presseauskunft aber auch schon wieder beerdigt - zunächst. Um 12.01 Uhr teilte Armin H. hausintern mit, dass in der Abteilungsleiterbesprechung am Morgen "beschlossen" worden sei, dass der Fragenkatalog doch zu beantworten sei: "Im Hinblick auf einen Termin des Ministers am heutigen Nachmittag wird um zeitnahe Übersendung Ihrer Beiträge gebeten."

Bei dem Termin handelte es sich um ein Hintergrundgespräch, zu dem der Minister Journalisten eingeladen hatte. Jäger wollte dafür offenbar bestmöglich vorbereitet sein. War er auch - seine Fachleute hatten jedenfalls zügig die Antworten aufgeschrieben.

Darin fand sich unter anderem der völlig unbekannte Hinweis, wer und warum alles aus dem Umfeld von Hannelore Kraft am Neujahrstag informiert wurde sowie die erfragte Auskunft, dass - statt wie von der Kölner Polizei bis dahin öffentlich behauptet - nur höchstens rund 80 statt 140 Beamte während der Nacht am Kölner Hauptbahnhof im Einsatz waren. Die brisanten Infos behielt Jäger aber für sich.

Und nach dem besagten 27. Januar verwies sein Haus tatsächlich plötzlich auf den "Respekt vor dem Parlament", wegen dem man nicht "vorgreifen" könne. Erst Ende Februar wurden die Antworten unserer Redaktion schließlich übergeben. Doch die aufschlussreichen wie brisanten Auskünfte etwa zu der geringeren Kräftezahl und den informierten Kraft-Vertrauten fehlten plötzlich. Wie passt das zu den Aufklärungs-Ankündigungen von Kraft und Jäger?

Rätselhaftes Schweigen

Nicht weniger rätselhaft erscheint die Aussage, dass dem Ministerium vor dem 4. Januar keinerlei Presse- oder Online-Berichterstattungen zu den Vorfällen in der Silvesternacht vorgelegen hätten - obwohl die Beobachtung, zum Beispiel durch das Lagezentrum, explizit zu den Aufgaben gehört. Kann das wirklich wahr sein? Und wenn es wahr ist, was sagt das über die Arbeitsabläufe der Regierung aus?

Bereits ab dem 1. Januar berichteten neben dem EXPRESS zahlreiche andere Medien über die Vorfälle. Das damals bereits fassungslos machende Ausmaß wurde beschrieben, dabei Opfer zitiert, die bedroht, beraubt und massiv begrapscht wurden. Oder wie Frauen Slips und Strumpfhosen heruntergerissen wurden. Auch von "Männern nordafrikanischen Aussehens" war bereits die Rede und davon, dass die Ermittler von Tätergruppen in einer Größenordnung von 40 bis 50 Personen ausgingen. Es waren Vorfälle, die in Europa bis dahin allenfalls internationale Kenner vom Tahrir-Platz in Kairo kannten - als "Taharrush gamea" ( "Gemeinsame Belästigung").

Unter den berichtenden Medien befanden sich rundschau-online.de, rp-online.de, derwesten.de, bild.de und focus.de. In sozialen Netzwerken entbrannte eine heftige Diskussion. Die Deutsche Presse-Agentur dpa berichtete am 2. Januar über Informationen der Polizei, wonach sich 30 Frauen als Opfer gemeldet hätten. Allein bei express.de sowie dem Digital-Auftritt des "Kölner Stadt-Anzeigers" wurden zwischen dem 1. und 3. Januar elf Artikel zur Silvesternacht veröffentlicht, wobei es sich teilweise um Aktualisierungen handelte. Bei express.de wurden die Berichte über eine Million Mal aufgerufen, bei ksta.de rund 300.000 Mal. 1,3 Millionen Aufrufe sind ein extrem starker Wert. Sollen all diese Berichte an der wichtigsten Sicherheitsbehörde in NRW über drei Tage komplett vorbeigegangen sein?

Das Ministerium bleibt dabei: "Vor dem 04.01.2016 lag dem Innenministerium keine diesbezügliche Presseberichterstattung vor." 

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2017