Die Berichte des EXPRESS, 05.03.2016

Kölner Silvester-Chaos: Was alles schief lief

Zwei Monate nach der Kölner Silvester-Schande erscheint die Frage nach der Verantwortung für das Staatsversagen in neuem Licht. Recherchen des EXPRESS zeigen: Es hätte wohl deutlich weniger Opfer gegeben, wenn es zwischen Polizei und Stadt nicht zu einer fatalen Kommunikationspanne gekommen wäre. Es geht um das Chaos auf der Hohenzollernbrücke. Der NRW-Innenminister steht dabei in Verdacht, die Verantwortung abschieben zu wollen.

Köln - Fünf Minuten vor Mitternacht gab es für Detlef M. keine Wahl mehr. Der Polizeiführer der Bundespolizei ließ die Bahngleise sperren. Kurz vor dem Feuerwerk hatten mehrfach Personen versucht, von der einen Brückenseite auf die andere zu kommen - weil es ihnen zu voll war oder, um einen besseren Blick aufs Feuerwerk zu bekommen. Sie kletterten unerlaubt über die Gitter mit den Liebesschlössern und liefen durchs Gleisbett.

Eine heikle Lage. Zwei Minuten nach dem Jahreswechsel wurde daher die elektrische Oberleitung bis 0.33 Uhr deaktiviert. Bis 1.15 Uhr stand der Zugverkehr komplett still. 56 Züge, davon 51 aus dem Nahverkehr bzw. S-Bahnen, waren betroffen. "Gesamtverspätung 2200 Minuten", heißt es in einer internen Meldung der Deutschen Bahn.

Unzählige Silvester-Gäste, vor allem aus dem Kölner Umland, konnten nicht nach Hause - und wurden so zu potenziellen und tatsächlichen Opfern. Während der Sperrung sollen laut Auskunft des Bundesinnenministeriums allein im Bahnhof 2500 Menschen gewesen sein. Die Ursachenvermeidung hätte früher ansetzten müssen, kritisierte der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann (53), in einer nicht-öffentlichen Sitzung des Innenausschusses im Bundestag, "nämlich durch eine Begrenzung des Zustroms Richtung Brücke."

Dutzende Bundespolizisten sicherten die Gleise. Dies seien Einsatzkräfte gewesen, klagt NRW- Innenminister Ralf Jäger (54, SPD), "die wir eigentlich dringend auf dem Bahnhofsvorplatz gebraucht hätten."

Wohl wahr: Genau in diesen 80 Minuten konnte der Mob besonders wüten. 370 Taten sollen laut einer Auswertung aller Anzeigen zwischen 23.55 und 1.15 Uhr stattgefunden haben - alle 13 Sekunden (!) eine, darunter großteils sexuelle Übergriffe. Kaum eine von ihnen wurde entdeckt. Die Polizei - völlig überfordert.

Wie kam es dazu? Vor dem Landtag wies Jäger am 14. Januar überraschend mit dem Finger auf die Stadt Köln und deren angebliche Haltung bei der Lagevorbesprechung: "Die Stadt Köln hatte im Vorfeld eine solche Sperrung für den Fußgängerverkehr nicht genehmigt." Eine Darstellung, die laut Beteiligten als "schlicht unwahr" beschrieben und von der Stadt entschieden zurückgewiesen wird. Auch die interne Niederschrift der Vorbesprechung vom 9. Dezember mit 23 Teilnehmern aus allen betroffenen Behörden widerlegt Jägers Behauptung.

Eine Katastrophe mit Ansage Wochen im Voraus? Das Gegenteil, sei der Fall gewesen, so die Stadt. Das Sperrkonzept für die Brücke sei beim Gespräch von "allen Anwesenden Behördenvertretern einvernehmlich mitgetragen" worden.

In der Tat kündigte die Stadt kurz vor Silvester noch öffentlich an: "Wir werden die Fahrrad- und Gehwege solange wie möglich offen halten. Sperrungen sind aber an allen Zugangsbereichen vorbereitet und werden umgehend durchgeführt, sollte es dort zu voll werden oder dichtes Gedränge entstehen. Wir bitten Sie, auf das Mitführen von Fahrrädern und Kinderwagen auf der Brücke zu verzichten." Auch Polizeipräsident Romann bezeichnete die Sperrung als von der Stadt "zugesagt" - also das Gegenteil von Jägers Behauptung.

Allerdings hätte sich die Stadt, so teilt das Kölner Polizeipräsidium inzwischen auf Anfrage mit, im Februar 2015 während einer Nachbereitung des Einsatzes von Silvester 2014, gegen eine Komplettsperrung bei künftigen Silvesternächsten ausgesprochen.

Minister Jäger lehnt trotz mehrfacher Nachfragen bisher ab, seine Vorwürfe gegen die Stadt zurückzunehmen bzw. vor dem Landtag zu korrigieren. Ein Sprecher verweist auf die "tatsächlichen Abläufe" in der Nacht. Demnach sei die Sperrung ja eben nicht erfolgt. Auch Kölns Polizei teilt mit: "Die Zuständigkeit für die bedarfsweise Sperrung der Hohenzollernbrücke lag bei der Stadt Köln."

Doch auch das will die Stadt nicht auf sich sitzen lassen. "Zu keinem Zeitpunkt am 31.12.2015 noch vor ca. 1:00 Uhr am 01.01.2016 wurde gegenüber der verantwortlichen Einsatzleitung und Verantwortlichen für den Bereich der Hohenzollernbrücke - seitens der Polizei die Bitte geäußert, die Brücke für den Fußgängerverkehr zu sperren. Eine Kommunikation wäre sowohl mobil per Diensthandy (Nummer war auf der Kommunikationsliste abgedruckt, die allen beteiligten Institutionen zur Verfügung stand), als auch per Funk möglich gewesen. Zu diesem Zweck war bei der Polizei im Anschluss an die Einsatzbesprechung um 21.30 Uhr ein eigenes städtisches Funkgerät in der Funkzentrale hinterlegt worden, um bei Bedarf eine umgehende Kommunikation sicher zu stellen." Erst gegen 1 Uhr sei, eher zufällig, eine Polizistin auf rechtsrheinischer Brückenseite auf Stadt-Mitarbeiter zugegangen. Danach habe es auch eine Sperre für Fußgänger von ca. zehn Minuten gegeben. Die Lage an den Gleisen hatte sich da jedoch schon wieder beruhigt. Die Sperrung wurde aufgehoben.

Brisant ist auch eine Passage aus der Niederschrift der Einsatzvorbesprechung über den Chef des städtischen Ordnungsdienstes, Jörg Breetzmann (49): "Herr Breetzmann weist darauf hin, dass die Stadt Köln in diesem Jahr durch den Einsatz von geeignetem Material und einem erhöhten Personalbestand auf mögliche Sperrungen besser vorbereitet ist. Gleichzeitig macht er jedoch darauf aufmerksam, dass eine Unterstützung durch die Landes-/ Bundespolizei weiterhin als erforderlich angesehen wird."

Alles sieht nach schlimmer Kommunikationspanne mit fatalen Folgen aus. Montag wird Breetzmann als erster Zeuge vor dem Silvester-Untersuchungsausschuss erwartet.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2017