Die Berichte des EXPRESS, 30.05.2016

von Gerhard VOOGT, EXPRESS in Köln, Christian WIERMER, EXPRESS in Köln

Krafts Erklärung im Fakten-Check

Düsseldorf - Ein Befreiungsschlag oder doch ein politischer Boomerang? Mit einer eidesstattlichen Versicherung und einer ausführlichen Darstellung der Abläufe rund um die Kölner Silvesternacht versucht Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (54, SPD) vor ihrer Aussage im Untersuchungsausschuss in die Offensive zu kommen. Doch auch die neue Darstellung erhält Ungereimtheiten und Widersprüche. Wichtige Informationen fehlen zudem. EXPRESS macht den  Fakten-Check  der Kraft-Version.

Die Aussagen der Landesregierung: "Es wurde nichts vertuscht!"

Fakt ist: Die Landesregierung versprach "lückenlose Aufklärung", veröffentlichte in der Tat u.a. vertrauliche Dokumente zur Transparenz. Wahr ist aber auch: Das geschah erst nach wachsendem öffentlichem Druck oder als Sachverhalte durch Medien aufgedeckt wurden. Und an mehreren Stellen wurden Antworten auf Presseanfragen vor dem Absenden kurzfristig entscheidend verändert, wichtige Informationen zurückgehalten.

Die Schilderungen von Kölner Polizeibeamten, dass am Neujahrstag die wichtigste Meldung (über die Tätergruppe, deren Größe und eine Vergewaltigung) auf Wunsch des Innenministeriums zurückgezogen werden sollte, waren seit dem 10. Januar in der Ministeriumsspitze bekannt, wurden aber erst durch EXPRESS-Recherchen am 5. April eingeräumt - und bis heute nicht aufgeklärt. Schlimmer noch: Entscheidende Telefonverbindungsdaten sind offenbar sogar zwischenzeitlich gelöscht worden. Fazit: "Lückenlose Aufklärung"? Klares Nein!

"Die Landesregierung unterstützt die notwendige Sacharbeit im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in all diesen Fragen."

Fakt ist: Die Abgeordneten erhielten umfangreiche Unterlagen rund um die Silvesternacht, bekommen so Einblick in das unfassbare Behördenversagen. Wahr ist aber auch: Die Landesregierung hält weiterhin Unterlagen zurück, begründet das auch damit, dass die Veröffentlichung die "Funktionsfähigkeit" oder die "Glaubwürdigkeit" der Regierung beeinträchtigen würde.

Wie passt das zum Transparenz-Versprechen? Außerdem fällt auf, dass es von den wichtigsten Personen in der Regierung kaum Vermerke oder E-Mails gibt. Zufall? Fazit: Es gibt gute - rechtliche - Gründe für ein Zurückhalten bestimmter Akten. Die passen hier aber gar nicht zu den Versprechen von Kraft zur vollen Transparenz. Der Landesregierung droht nun eine Klage vom Parlament - und eine herbe Schlappe.

"Erst ab dem 4. Januar wurde die Dimension der Verbrechen sowohl für die Landesregierung als auch für die breite Öffentlichkeit deutlich."

Fakt ist: Erst nach dem 7. Januar (!) wuchs die Zahl der Anzeigen rapide an (auf heute über 1500 bei 600 Opfern sexueller Straftaten). Schon am 1. Januar war der Spitze der Landesregierung aber der massenhafte Sex-Mob bekannt, dass es mindestens elf sexuelle Übergriffe durch eine 40-bis 50-köpfigen Gruppe Nordafrikaner gegeben habe, inklusive einer Vergewaltigung. Am Nachmittag des 4. Januar, als sich Innenminister Ralf Jäger (55, SPD) zum ersten Mal äußerte, waren es noch etwa genau so viel (etwa 15 sexuelle Übergriffe bei 60 Gesamtanzeigen).

Fazit: Die Landesregierung trickst hier. Die "heutige" Dimension konnte zwar tatsächlich niemand erahnen, aber zum Zeitpunkt der ersten Reaktionen war schon drei Tage lang das Ausmaß durch Behördenberichte bekannt.

"Auch die Aussagen der bisherigen Zeugen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss haben sehr eindeutig klargemacht, dass sich die Dimension der Ereignisse erst mit einigen Tagen Verzögerung abzeichnete."

Fakt ist: Das stimmt so nicht. Zwar sind alle Beteiligten überrascht vom massiven Anstieg der Anzeigen. Doch zahlreiche Zeugen aus Polizeibehörden haben nach eigenen Angaben sofort erkannt, dass es sich um eine in Deutschland nie dagewesene Eskalation gehandelt habe. Und sogar der Chef der Polizei-Abteilung im Innenministerium, Wolfgang Düren (ist am Montag Zeuge), hat bereits am Neujahrsmittag durch die erste Meldung "Verhetzungspotenzial" und eine "gewisse politische Wertigkeit" gesehen - und einen Fall für die parlamentarische Aufarbeitung. Fazit: Unzulässiges Zurechtbiegen der Schilderungen.

"Die Staatskanzlei und das Innenministerium haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sowohl die Meldung über Wichtige Ereignisse am 1. Januar 2016 (14.36 Uhr) als auch zwei darauffolgende WE-Meldungen bis zum 3. Januar auch an die Staatskanzlei gesandt worden sind."

Fakt ist: Weder in der Sondersitzung des Innenausschusses am 11. Januar, noch in der Landtagssitzung am 14. Januar wurde dies offenbart. Erst nachdem der EXPRESS am 19. Januar darüber berichtet hatte, erwähnte Minister Jäger zwei Tage später die Info an die Staatskanzlei. Dass sogar das komplette direkte Umfeld der Ministerpräsidentin, inklusive ihres Vorzimmers, im Bilde war, wurde zudem noch weitere drei Monate verschwiegen - sogar vom Innenministerium explizit aus einem Entwurf für eine Antwort auf eine Presseanfrage rausgestrichen. Fazit: Von Beginn an gab sich die Landesregierung viel Mühe, um zu verheimlichen, wann sie wie informiert war.

Landesregierung: Medien haben Ausmaß erst am 4. Januar dargestellt!

Fakt ist: Die Landesregierung beruft sich u.a. auf "Tagesschau" (ARD) und "heute" (ZDF), die nicht berichtet hätten, lässt aber unzählige Artikel vom 1., 2., 3. Januar in der Darstellung einfach weg - es gab dort bereits Dutzende Veröffentlichungen, die die massiven sexuellen Übergriffe schilderten, und zwar bereits ab dem Neujahrstag. Allein in den Digital-Auftritten von EXPRESS und "Kölner Stadt-Anzeiger" erschienen an den ersten drei Tagen elf Artikel mit 1,3 Millionen (!) Aufrufen. Darin wurden sowohl Art und Anzahl der Taten als auch die mutmaßliche Herkunft der Täter dargestellt. Fazit: Während Millionen Menschen in den ersten drei Tagen ein ziemlich klares Bild durch Medien hatten, will das Innenministerium die Berichte allesamt nicht gelesen haben. Das wäre zwar allein schon ein Alarmsignal, ist zudem aber wenig glaubwürdig. 

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2017