Die Berichte des EXPRESS, 24.04.2016

von Gerhard VOOGT, EXPRESS in Köln, Christian WIERMER, EXPRESS in Köln

Krafts Umfeld war schon Neujahr informiert

Die Kölner Silvesternacht wird für die NRW-Landesregierung zu einem ständig größer werdenden Problem. Es wird immer klarer, dass auch die politischen Abläufe deutlich anders waren als bisher dargestellt.

Durch Recherchen des EXPRESS kommt nun heraus, dass nahezu das komplette  Umfeld  von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (54, SPD) bereits am Neujahrstag über schwere sexuelle Übergriffe informiert wurde: Von ihrem Büroleiter, ihrer Amtschefin und Staatssekretärin über den Regierungssprecher Thomas Breustedt (56) bis hin zu  Krafts  direktem Vorzimmer und dem Büro des Chefs der Staatskanzlei. Alle erfuhren früh, am 1. Januar gegen 14.30 Uhr, von massiven Übergriffen in Köln. Und all das war bisher völlig unbekannt und tauchte auch in keiner der Darstellungen über die Kommunikation innerhalb der Landesregierung auf. Warum?

Es geht um die brisante WE-Meldung ("Wichtiges Ereignis") der Kölner Polizei, nach der bereits am Morgen nach der Silvesternacht bekannt war, auf welch abstoßende Weise die Täter vorgegangen waren. Bereits damals waren nämlich schon elf sexuelle Übergriffe aktenkundig, darunter eine Vergewaltigung (einer 19-Jährigen waren Finger vaginal und anal eingeführt worden). Die Opfer hatten die 40- bis 50-köpfige Tätergruppe einheitlich als Nordafrikaner im Alter von 17 bis 28 Jahren beschrieben. Von weiteren Anzeigen, von denen tatsächlich am Abend auch die Landesregierung erfuhr, war bereits ausgegangen worden.

Im Lagenzentrum der Regierung ergänzte man die zwischenzeitlich als "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" eingestufte Meldung bei der Weiterleitung an die politische Spitze schon in der Betreffzeile mit drei Ausrufezeichen. Und auch die Ereignis-Überschrift war eindeutig: "WE-Fortschreibung, Vergewaltigung, Beleidigung auf sexueller Basis, Diebstahlsdelikte, Raubdelikte begangen durch größerer ausländische Personengruppe".

Schon die damals bereits bekannten Informationen seien "selbstverständlich und zu jeder Zeit als ein schwerwiegendes und damit wichtiges Ereignis" einzustufen, teilte Emily Haber (59), für Sicherheit und Migration zuständige Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, auf eine schriftliche Frage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic (39) mit. Der Grund ist einfach: allein dieses früh bekannte Tatgeschehen gab es zuvor nirgendwo. Nicht in NRW, nicht in Deutschland oder sonst wo in West-Europa.

Dennoch dauerte es dreieinhalb Tage bis zu einem ersten - schriftlichen - Statement von Innenminister Ralf Jäger (55, SPD), vier Tage bis zu einer öffentlichen Regung von Ministerpräsidentin Kraft und insgesamt zehn Tage, bis die Regierungschefin in der ARD-Sendung "Hart aber fair" das erste Mal vor eine TV-Kamera trat und sich bei den Opfern entschuldigte.

Der Leiter der Polizei-Abteilung im Innenministerium, Wolfgang Düren, der die WE-Meldung nach eigenen Angaben um 14.39 Uhr wahrnahm, will jedenfalls sofort erkannt haben, dass die Vorfälle "politisch bemerkenswert" waren und "erhebliches Verhetzungspotential" in der Meldung gelegen habe: "Ich habe ihr eine gewisse politische Wertigkeit zugeordnet, weil ich wahrgenommen habe, dass es elf sexuelle Übergriffe gegen Frauen gegeben hat durch eine Gruppe von nordafrikanischen Männern." Gleichwohl, so schob er bei einer Sitzung des Innenausschusses später nach, habe er nicht gefühlt, dass "man den Minister oder die Ministerpräsidentin sofort zu Aktivitäten nötigen müsste".

Das lange Zögern war extrem ungewöhnlich für Kraft. Ihr Image als "Kümmerin" nahm erheblichen Schaden - erst Anfang April räumte sie gegenüber der Nachrichtenagentur dpa ein, dass ihre Kommunikation nicht ausreichend gewesen sei. Eine Sprecherin der Staatskanzlei bleibt aber bei der offiziellen Sprachregelung: "Da die Dimension bis zum 04.01.2016 weder für das Innenministerium noch für die Staatskanzlei erkennbar war, bestand insofern kein Anlass zu handeln."

Interne Dokumente werfen nun erhebliche Fragen auf. Etwa: Soll die Brisanz im Nachhinein heruntergespielt werden, um die sehr späte Reaktion von Kraft und Jäger zu rechtfertigen?

WE-Meldungen der 47 NRW-Kreispolizeibehörden gehen im Lagezentrum des Innenministeriums rund um die Uhr ein, im November und Dezember 2015 waren es im Schnitt gut 52 am Tag. Innenminister Jäger selbst erhält davon nicht mal jede Zehnte. Auch deshalb, weil sein Staatssekretär Bernhard Nebe (58, SPD) bereits Anfang 2014 gegenüber dem Lagezentrum die "übermittelte Vielzahl von Meldungen" an die Hausspitze "kritisch angemerkt" hat, wie es in einem Vermerk heißt. Und dass diese auch an die Staatskanzlei gesteuert werden, geschieht noch deutlich seltener: nach Zahlen der Landesregierung über Ende 2015 in gerade mal 4,6 Prozent der Fälle.

Warum musste also die Spitze der Landesregierung ausgerechnet eilig am Neujahrsmittag über die Vorfälle informiert werden, wenn doch die WE-Meldung - wie Jäger heute behauptet - die Brisanz überhaupt nicht erkennen ließ? Dazu gibt es eine offizielle und eine inoffizielle Version.

Klar ist:  Krafts  engstes  Umfeld  war bereits sehr früh im Bilde. Das ist pikant, weil Ralf Jäger gegenüber den Abgeordneten des Innenausschusses noch am 21. Januar behauptete: "Diese WE-Meldungen gehen an die Staatskanzlei, sie gehen nicht persönlich an die Ministerpräsidentin oder den MCdS". MCdS steht für Minister und Chef der Staatskanzlei, der enge Kraft-Vertraute Franz-Josef Lersch-Mense (63, SPD).

Diese Aussage von Jäger relativiert auf EXPRESS-Anfrage inzwischen sein eigenes Haus. "Im Verteiler der Staatskanzlei sind 3 Funktionsadressen (Chef der Staatskanzlei, Vorzimmer Abt. 1, Vorzimmer Amtschefin) sowie 9 personenbezogene Adressen", so das Ministerium. Demnach war das Büro von Staatskanzlei-Chef Lersch-Mense also informiert. Er betont, keinen direkten Zugang zu den Büromails zu haben.

Die Staatskanzlei legt Wert auf die Feststellung, dass auch Kraft, die am Neujahrswochenende im Urlaub weilte, selbst nicht informiert worden sei. Das Innenministerium formuliert es so: Kraft sei "nicht unmittelbar" angeschrieben worden. Wer sich hinter den "9 personenbezogenen Adressen" verbirgt, will die Landesregierung auf Presseanfrage weiterhin nicht sagen. Begründung: Man wolle dem Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht nicht vorgreifen. Diesem habe man die Namen aber "selbstverständlich" mitgeteilt.

Was sich dort als angebliche "Selbstverständlichkeit" findet, können Mitglieder des Ausschusses nach deren Angaben lediglich aus einem Dokument des Innenministeriums erahnen - ausgerechnet einem Entwurf für eine Antwort auf einen EXPRESS-Fragenkatalog. Datiert ist das Dokument auf den 25. Januar. Dort sind von der Vorzimmer-Mitarbeiterin Alexandra M. bis zur Amtschefin Anja Surmann (46, SPD) alle Namen aus der Staatskanzlei aufgelistet.

Und dort findet sich auch die Begründung, warum das  Umfeld  der Ministerpräsidentin so zügig in Kenntnis gesetzt wurde. "Aufgrund der exponierten Örtlichkeit und dem möglichen Sachzusammenhang mit der Flüchtlingsthematik schien eine Informationssteuerung an die Staatskanzlei geboten", heißt es. Und: Grundsätzlich erfolge eine Beteiligung der Staatskanzlei "u.a. wenn eine erhöhte politische Bedeutung festzustellen bzw. anzunehmen ist."

"Erhöhte politische Bedeutung"; "exponierte Örtlichkeit", möglicher Flüchtlingszusammenhang - im Lagezentrum des Ministeriums war die Brisanz der aus Köln gemeldeten Ereignisse offenbar schon früh bekannt. Doch als EXPRESS einen ganzen Monat später die Antworten tatsächlich erhielt, fehlten plötzlich diese brisanten wie aufschlussreichen Formulierungen aus dem Antwort-Entwurf zur Information an die Staatskanzlei, genauso wie die Namen im Verteilerkreis. Warum die Streichungen erfolgten, ist ein großes Rätsel.

Zwei Sprecher des Ministeriums teilten am 24. Februar mündlich mit, die Staatskanzlei sei nur deshalb informiert worden, weil der Sachverhalt auch das Justizministerium betroffen hätte. Dies erfolge standardmäßig, wenn eben zwei Ressorts betroffen seien und sei nichts Besonderes. Das hieße aber, dass die Ministerpräsidentin bzw. ihr engstes  Umfeld  jedes Mal informiert würden, wenn eine Straftat im Raum steht - also fast immer bei Polizei-Meldungen.

Fakt ist: Am Montagmittag, dem 4. Januar, versuchte Hannelore Kraft ihren Innenminister zu erreichen - zunächst zwei Mal vergeblich, bis Jäger um 13.41 auf  Krafts  Handy zurückrief, sich anschließend bei seinem Polizeiinspekteur Bernd Heinen erkundigte, und in einem erneuten Telefonat mit der Regierungschefin 18 Minuten später die "Dimension der Vorfälle" bestätigt haben will. Gut 20 Minuten später wollte dann auch noch Justizminister Thomas Kutschaty (47, SPD) mehr Informationen von Jäger. Die letzten beiden Telefonate fehlen übrigens in der "Detaillierten Darstellung der Landesregierung zur Kommunikation vom 1. bis 7. Januar zu den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln", die Mitte Januar Journalisten und Abgeordneten noch als "umfassendes" Dokument präsentiert wurde.

In Polizei- und Gewerkschaftskreisen schütteln nicht wenige den Kopf über dem Umgang im Ministerium mit der Silvesternacht. Ein führender Polizist kann sich etwa besonders über Jägers Polizeiinspekteur Heinen aufregen. Wegen elf sexuellen Übergriffen, ohne weitere Kenntnisse über die Tiefe der Vorfälle, hole er den Minister nicht aus dem Bett, sagte dieser vor dem Innenausschuss des Landtages. "Ab wann denn?! Wie viele Opfer müssen es denn sein?! 15, 50 oder 500", entgegnet der hochrangige Mann. "Es war doch sofort klar, dass es aufgrund der Taten dieser großen Gruppe eine völlig neue Kiste war."

Zudem wäre es gar nicht nötig gewesen, den Minister "aus dem Bett" zu holen, wie Inspekteur Heinen meinte. Um 14.36 Uhr hatte Ralf Jäger die WE-Meldung bereits persönlich erhalten. Nur passiert ist nichts.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2017