Kölner Stadtanzeiger, 12.02.2013

von Joachim FRANK

"Ein Papst im Ruhestand!"

KÖLNER STADT-ANZEIGER: Herr Kardinal, Sie gelten als enger Vertrauter des Papstes. Waren Sie über den Rücktritt im Bilde?

KARDINAL JOACHIM MEISNER: Ich war absolut überrascht und habe die Nachricht erst für einen Rosenmontagsscherz gehalten. Um ehrlich zu sein, bin ich regelrecht schockiert.

ANZEIGERSchockiert?

MEISNER: Solch ein Schritt lag außerhalb meiner Vorstellungen. Früher traten nicht einmal Priester und Bischöfe zurück. Das hat einen durchaus tiefen Sinn: Das geistliche Amt ist ja eine Art Vaterschaft. Und Vater bleibt man doch zeit seines Lebens. Als dann die Altersgrenze für Bischöfe und Priester eingeführt wurde, habe ich lange Zeit gedacht: ein Glück, dass wenigstens der Papst auf Lebenszeit amtiert. Dann ist die Kontinuität dieser Vaterschaft gesichert. Allerdings merke ich es an mir selbst, wie ich mit den Jahren doch mehr und mehr in den Seilen hänge. Und insofern ist es schon sinnvoll, dass man auch zurücktreten kann. Nicht, weil man nichts mehr tun will. Aber man ist befreit vom "du musst" und darf stattdessen sagen: "Ich kann."

ANZEIGERHat der Papst Ihnen gegenüber je etwas angedeutet?

MEISNER: Nie. Und wenn, dann hätte ich es nicht begriffen. Weil ich einen Rücktritt niemals für möglich gehalten hätte. Ich habe noch jüngst zu meinen Nichten und Neffen gesagt, als sie mich fragten, wie es nach meinem 80. Geburtstag an Weihnachten eigentlich mit mir weitergehen werde: "Da sind so viele Dinge, die ich nicht mehr zu machen brauche. Zum Beispiel muss ich nie wieder in ein Konklave gehen."

ANZEIGERIn Bauernfamilien gibt es für den Altbauern das Austraghaus, in dem er nach der Arbeit seinen Lebensabend genießen kann. Ist die Möglichkeit eines Rücktritts nicht ein ähnlicher Akt der Barmherzigkeit?

MEISNER: Von meinem Gefühl her ging mir gestern in den ersten Stunden vor allem ein Gedanke durch den Kopf: Wie soll das denn jetzt gehen? Ein Papst im Ruhestand! Vernünftig betrachtet ist es sicher richtig, dass der Papst das Amt in andere Hände legt, wenn er zu dem Schluss kommt: Es geht nicht mehr mit der nötigen Kraft. Als guter Vater weiß er um seine Verantwortung, für sein Haus zu sorgen. Ein Gebäude mit einer Milliarde Katholiken und unendlich vielen Etagen zu verwalten ist eine Belastung, die ich mir gar nicht vorstellen mag. Zumal, wenn man so intelligent und redlich ist wie der Papst, der alles Wichtige auch selbst durchdenken will und immer um die Risiken seines Handelns weiß.

ANZEIGERWusste der Papst eigentlich von der Revision Ihrer Position zur "Pille danach", die Sie nach einer Vergewaltigung nun für ethisch vertretbar erklärt haben?

MEISNER: Meine Erklärung war mit der Glaubenskongregation und der Päpstlichen Akademie für das Leben abgestimmt. Ich habe auch mit dem Sekretär des Papstes, Erzbischof Gänswein, darüber gesprochen. Er hat mir gesagt: "Der Papst weiß Bescheid. Es ist alles in Ordnung."

ANZEIGERWomit geht er in die Geschichte ein?

MEISNER: Als Papst, der mit hoher Intelligenz die Gegenwart analysiert und Weichen für die Zukunft gestellt hat. Ich hatte ja eigentlich die Hoffnung, er werde noch eine große Enzyklika schreiben über die "conditio humana", die Problematik des Menschseins in unserer Zeit. Keine Moralpredigt, sondern eine Entfaltung des christlichen Menschenbilds, das heute vielfach infrage gestellt ist.

ANZEIGEREntgegen dem, was Sie Ihren Neffen und Nichten gesagt haben, kommt jetzt doch noch einmal ein Konklave auf Sie zu. Was für einen Papst wollen Sie mit den anderen Kardinälen wählen?

MEISNER: Für eine Antwort ist die gestrige Nachricht noch allzu frisch. Aber wenn ich einen ersten Blick über diesen Moment hinaus in die Zukunft werfe, dann müsste der neue Papst sicher ein Mann von ähnlich hoher Bildung wie Joseph Ratzinger, mit großer menschlicher Erfahrung und - vor allem - von vitaler Gesundheit sein. Nicht älter als 70, würde ich sagen. Johannes Paul II. hat mir einmal im Vier-Augen-Gespräch gesagt: "Das theologische Profil meines Pontifikats verdanke ich Joseph Ratzinger." Die beiden haben sich herrlich ergänzt. Insofern wäre eine Mischung aus Wojtyla und Ratzinger gar nicht schlecht. Aber ich habe mir wirklich noch keine Gedanken über einen entsprechenden Kandidaten gemacht.

ANZEIGERDas Verhältnis der Deutschen zu "ihrem" Papst war ja sehr gemischt. Welche Bilanz ziehen Sie?

MEISNER: Es hat mich immer verletzt, wie abschätzig, ja hämisch in Deutschland über den Papst gesprochen wurde. Was vielen gefehlt hat, war ein Gefühl des Selbstbewusstseins, ja des Stolzes, dass zum ersten Mal nach fast 500 Jahren wieder ein Deutscher ein solches Amt mit dieser globalen Verantwortung bekleidete. Das wurde völlig ausgeblendet.