So liefen die Recherchen in Sachen Engelwerk

von Udo MEIXNER

Udo MEIXNER hatte dieses Rechercheprotokoll zuerst für die Zeitschrift für Internationalen Journalismus "message" (Heft 4/2003) geschrieben. Mit seinem Einverständnis können wir es auch hier dokumentieren:


Zu Beginn des Schuljahres 2001/2002 wundern sich die Zehntklässler der Klosterschule in Auerbach (Landkreis Amberg-Sulzbach) über ihre dünnen Biologiebücher: Das menschliche Leben beginnt in Auerbach erst auf Seite 15 - mit der Geburt. Das Kapitel über Sexualität, Befruchtung und Schwangerschaft wird den Jugendlichen vorenthalten. Säuberlich wurden die ersten 14 Seiten der Bücher entfernt.

Die Eltern verlangen Aufklärung von der Schulleitung. Dort allerdings stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens. Die aufgebrachten Mütter und Väter wenden sich daraufhin an die lokalen Medien. In der Lokalredaktion Pegnitz des Nordbayerischen Kuriers fragen wir uns: Was steckt hinter dem befremdlichen Handeln der Klosterschwestern?

 

Verbindungen zum Engelwerk

Das oberpfälzische Auerbach ist eine Stadt knapp unter der 10.000-Einwohner-Grenze. 1946 gründete die Kongregation der Schulschwestern von Unserer Lieben Frau aus dem tschechischen Königgrätz hier ihre bayerische Provinz. 1954 eröffneten die Ordensfrauen eine dreistufige Mittelschule für Mädchen. Aus ihr wurde später die Realschule des Zweckverbandes Realschule Amberg-Sulzbach. Im Zweckverband sind heute der Landkreis Amberg-Sulzbach, die Stadt Auerbach sowie die Schulschwestern vertreten. Leiterin der Realschule ist zum Zeitpunkt des Schulbuchskandals Schwester Marcellina Nickl, Ordensoberin ist Schwester Blandine Wiesnet.   

Ein Name, der stets im Zusammenhang mit den Auerbacher Schwestern fällt, ist der von Pater Heinrich Morscher. Der Geistliche geht im Kloster ein und aus und hält dort seine Exerzitien für Klosterschwestern und Schülerinnen ab. In der Öffentlichkeit tritt er nie in Erscheinung. Aus dem Landratsamt in Amberg erhält der Nordbayerische Kurier den Tipp, der mysteriöse Pater Morscher stehe mit dem umstrittenen Engelwerk in Verbindung.

Hintergund der Organisation

Was ist das Engelwerk? Im Internet finden wir die Seiten diverser Sekten- und Weltanschauungsexperten. Sie schätzen das Engelwerk als fundamentalistische Gruppe innerhalb der katholischen Kirche ein, die sich wiederum in zahlreiche Unterorganisationen gliedert. Kern der Engelwerk-Ideologien sei eine rigide Sexualmoral und rigorose Sittenstrenge. Der Vatikan hat die Verwendung der Schriften der Organisation 1983 verboten. Laut römischer Glaubenskongregation stelle die Theologie des Engelwerkes einen "error per expressum", eine Irrlehre, dar.

Das Buch "Das Engelwerk. Theorie und Praxis des Opus Angelorum" des österreichischen Autors Heiner Boberski liefert uns weitere Hintergrundinformationen. Und: Boberski bringt darin den Beweis für Pater Morschers Kontakte zum Engelwerk.
Der emeritierte Münchner Weihbischof Heinrich Graf von Soden-Frauenhofen warnte bereits 1995 vor Kontakten mit dem Engelwerk und seinen Filialunternehmen. Von Soden-Frauenhofen weist in einer seiner Veröffentlichungen auch auf die "problematische Nähe" zwischen dem Engelwerk und der Katholischen Pfadfinderschaft (KPE) hin.

Kern der KPE-Ideologie ist wiederum eine äußerst starre Sexualmoral. In der pädagogischen Handreichung der KPE Selig, die reinen Herzens sind heißt es zu dieser Thematik: "So sollen wir etwa Straßen meiden, in denen sich Sexshops befinden oder Kneipen und Nachtlokale mit entsprechenden Aushängen sowie Kioske, die ihre Illustrierten in den Blickfang stellen." Freibäder mit ihrer "öffentlichen Fleischbeschau" sind tabu.


Stochern im Nebel 

Eine rigide Sexualmoral auf der einen Seite (Engelwerk/KPE), Schulbücher ohne das Kapitel Sexualität/Fortpflanzung (Realschule Auerbach) auf der anderen Seite: Eine Parallelität ist nicht zu übersehen.

Auf unsere Anfrage bestreitet die Leiterin der Realschule, Marcellina Nickl, jegliche Verbindung zum Engelwerk und zu Pater Heinrich Morscher. Ehemalige Absolventen der Realschule Auerbach können sich dagegen sehr wohl an den ominösen Morscher erinnern. Der Finanzbeamte Peter Eckert ist der erste, der sich bereit erklärt, uns von seinen Erfahrungen zu berichten.

Die Teilnahme an den bis zu einwöchigen Exerzitien Morschers sei für die 15- und 16-jährigen Mädchen vorgeschrieben gewesen, erinnert sich Eckert. Die strengen Exerzitien hätten bei den Schülerinnen deutliche Spuren hinterlassen. Vor den Kursen unter Morschers Fittichen sei ein "normaler Umgang" zwischen den pubertierenden Jugendlichen beiderlei Geschlechts möglich gewesen. Nach den Exerzitien wären die Mädchen "total verändert" gewesen und hätten jeglichen Kontakt mit den männlichen Schülern gemieden.

Trotzdem: Unsere Recherchen sind zunächst einmal ein Stochern im Nebel. Den grundsätzlichen Informationen über Engelwerk und KPE fehlen die konkreten Ansatzpunkte in Auerbach. Mühsam trägt die Redaktion Mosaikstein um Mosaikstein zusammen. Viele Informanten lassen sich nur unter dem Deckmantel der Anonymität zu einer Aussage bewegen.

 

Weitere Indizien 

Dann sprechen wir mit Marianne Poppenwimmer. Sie kämpft seit 19 Jahren gegen sektenähnliche Strömungen innerhalb der katholischen Kirche. Ihre Tochter war 1984 in die Fänge des Engelwerkes geraten. Mehr als 60 Aktenordner füllt das Material, das Poppenwimmer über Engelwerk und KPE gesammelt hat.

Für die Aversion der Schulschwestern gegen die Darstellung menschlicher Sexualität hat die Münchnerin eine Erklärung: Die Unkeuschheit als eine der sieben Todsünden dürfe keinesfalls Besitz von den Schulkindern ergreifen. Die Darstellung unbekleideter Menschen in Schulbüchern sei demnach nicht statthaft. Ein weiteres Kriterium für die Verwendung von Engelwerk-Lehren sei die gezielte Einschüchterung von Untergebenen - in diesem Fall der Schüler - zum Beispiel durch die Androhung der ewigen Verdammnis, so Marianne Poppenwimmer.

Hiermit decken sich auch die Erfahrungen Auerbacher Eltern. Ihre Beobachtungen betreffen in erster Linie die Grundschule, in der ebenfalls Schulschwestern als Lehrerinnen eingesetzt sind. Eine Mutter berichtet über enorme Ängste ihrer Tochter vor "Fegefeuer, Teufel und Hölle" nach dem Religionsunterricht. Angst und Schlafstörungen seien die Folge gewesen.

Über Marianne Poppenwimmer kommen wir in den Besitz von Originalunterlagen über das Engelwerk, sowie interner Schriften des Engelwerkes und der KPE. Die Auswertung ergibt neue Indizien für die Nähe der Schulschwestern zu den Engelwerklehren und zur KPE. Einen Anhaltspunkt für eine Unterwanderung des Auerbacher Ordens durch die KPE liefert die Ausgabe 47 von Pfadfinder Mariens, sozusagen die Hauszeitschrift der KPE. Dort heißt es: "Bereits sieben Pfadfinderinnen sind wir (...) in Auerbach. Es folgt eine Beschreibung der Realschule, in der unter anderem der "wertfreie Geist manch anderer Schule" kritisiert wird, "der unsere Kinder orientierungslos werden lässt."

In der zweiten Auflage von Selig, die reinen Herzens werden Ratschläge für den schulischen Aufklärungsunterricht gegeben: "Die modernen Aufklärungsschriften sind nicht dazu geeignet, in Ehrfurcht (...) in das Gebiet des Geschlechtlichen einzuführen und deshalb rundweg abzulehnen. Sollte euch von der Schule so etwas aufgedrängt werden, so gebt es zurück oder zerreißt das Zeug!" Hier drängt sich natürlich der Vergleich mit den zensierten Biologiebüchern auf.


Die Ereignisse überschlagen sich

Aufgrund unserer Recherchen wird der Skandal im September 2001 zum Politikum. Zunächst allerdings noch zögerlich. Als die Grünen und Unabhängigen Kandidaten das Thema im Oktober 2001 im Kreistag erörtern wollen, wird ihr Antrag von Landrat Dr. Hans Wagner (CSU) abgeschmettert. Wagner stellt sich schützend vor die Schwestern und wird diese Position bis zum Ende seiner Amtszeit am 30. April 2002 nicht aufgeben. Doch auch im Kultusministerium ist man mittlerweile auf die Vorgänge in Auerbach aufmerksam geworden. Der zuständige Ministerialbeauftragte Ludwig Meier sichert uns zu, die Schulschwestern im Auge zu behalten. Einen "dreisten Fall von Zensur" prangert dann die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag an und verlangt vom Kultusministerium sofortige Aufklärung. Als nächstes mischt sich die Bayerische SPD ein und will die Buchzensur im Bildungsausschuss des Landtages erörtert wissen.

 

Einer musste den Anfang machen 

Die Veröffentlichungen des Nordbayerischen Kuriers veranlassen indessen immer mehr ehemalige Schüler der Auerbacher Realschule, uns von den Zuständen im Kloster und der Schule zu berichten. Dabei einmal mehr im Fokus: Pater Heinrich Morscher. Er wird von den Betroffenen als "Ursache allen Übels" in Auerbach bezeichnet. Der Stil seiner Exerzitien hätte sich nach Aussagen der Telnehmerinnen nach dem Grundsatz gerichtet: "Alles Sündhafte wird von Gott sofort bestraft!" Im Mittelpunkt stand dabei die "sündhafte Sexualität". Der autoritär auftretende Morscher habe alles verdammt, was den Frauenkörper betone, auch das Tanzen. Sünde sei auch das Hören von Musik gewesen. Die Teilnehmerinnen mussten vor Morscher eine so genannte "Lebensbeichte" ablegen. Hier sei der Pater ins Detail gegangen. Alle Fragen hätten sich um Sexualität gedreht. So habe der Pater beispielsweise gefragt, wie sie duschen oder welche sexuellen Erfahrungen sie hätten.

Viele Bürger melden sich dann bei einer Elternversammlung am 29. November 2001 zu Wort. Dieser Abend spiegelt den Wandel im Bewusstsein der Auerbacher wider: Waren viele Betroffene zuvor nur anonym dazu bereit, über ihre Erfahrungen mit den Schulschwestern zu berichten, stehen sie bei dieser öffentlichen Versammlung erstmals auf und erzählen ihre Geschichte.


Grundlegende Veränderungen 

Die Berichterstattung unserer Zeitung trägt dazu bei, dass sich nach dem Zensurskandal an der Auerbacher Realschule grundlegende Dinge ändern:

  • Im Dezember 2001 sichert der Vatikan dem Freistaat die Unterstützung seiner Interessen an der Realschule zu.
  • Am 15. Februar 2002 wird Marcellina Nickl als Schulleiterin abgelöst. Es beginnt eine außerordentliche Visitation der Schulschwestern, die der Vatikan angeordnet hatte.
  • 26. April 2002: Der Zweckverband Realschule Auerbach beschließt, dass ab dem Schuljahr 2002/2003 nur noch drei statt neun Ordensfrauen an der Realschule beschäftigt sein werden.
  • 17. Juni 2002: Dem umstrittenen Pater Morscher wird jegliche pastorale Tätigkeit auf dem Gebiet der Erzdiözese Bamberg untersagt.
  • 11. September 2002: Auf Anordnung des Vatikans wird die Oberin des Auerbacher Klosters, Blandine Wiesnet, abgelöst.

 

Chance für einen Neubeginn

Etwas überraschend kommt dann Ende Mai 2003 eine Einladung der Medien ins Auerbacher Kloster: Die Ordensfrauen äußern sich in einer Pressekonferenz zu weiteren Neuerungen an der Realschule