Das Rechercheprotokoll: Wie eine unglaubliche Geschichte real wurde

Aussteiger wollten nicht auspacken, Behörden mauerten, Beteiligte versuchten die Recherche zu behindern: Auf welche Widerstände Gregor HASCHNIK von der FR bei seinen Recherchen zum Tod von Jan H. und der Hanauer Sekte stieß, beschreibt er in seinem Rechercheprotokoll.


Der erste Hinweis kam vor mehr als sieben Jahren per Mail, von einem Aussteiger aus der von Sylvia D. geführten Gruppe. Er schrieb von einem geschlossenen, totalitären System, das von psychischer und physischer Gewalt geprägt war, von finanzieller und sexueller Ausbeutung. Mit einer Frau an der Spitze, die vorgab, Träume exakt deuten und von Gott direkte Anweisungen zu erhalten.

Ich begann zu recherchieren, sprach mit weiteren Aussteigern sowie Leuten, die noch Kontakt zu der Gruppierung hatten, wertete interne Dokumente aus, befragte Weltanschauungsbeauftragte, Psychologen, später Ermittler, Rechtsmediziner. Es gab Schriftwechsel mit der Gruppe. Ich las die Bücher der Führungsfiguren, unzählige angebliche Gottesbriefe und tagebuchähnliche Einträge.

Bald zeigte sich, dass die am Anfang unglaublich klingende Geschichte real war. Und dass es Jahre brauchen würde, um zumindest einen Teil davon aufzuarbeiten.

Davon, dass Jan H. offenbar eines gewaltsamen Todes gestorben war, sprach der erste Informant zunächst nicht. Eine Aussteigerin schilderte einige Monate später, wie er jahrelang misshandelt wurde und wie sie im Bad der D.s einmal ein in einen Sack eingeschnürtes Kind – offensichtlich ihn – sah. Doch nach all der Gehirnwäsche habe sie keine Kraft gehabt, sich dagegen aufzulehnen.

Nach und nach verdichtete sich der Verdacht, dass der Vierjährige womöglich getötet worden war. Ich fand eine Reihe von Indizien, etwa den viele Fragen aufwerfenden, dürren Inhalt der Akte zum Todesermittlungsverfahren im Jahr 1988. Darin war die Rede von einem am 17.08.1988 um 15 Uhr von einem Notarzt festgestellten Erstickungstod des Jungen im Kinderzimmer, durch Erbrechen von zuvor mittags gegessenem Haferschleim. Die Mutter habe ihr Kind gegen 12.30 Uhr zum Mittagsschlaf hingelegt. Die Eltern seien kurz zuvor aus Darmstadt nach Hanau gezogen und hätten vorübergehend bei der Familie D. gewohnt. Es hätten sich keine Hinweise auf ein Fremdverschulden ergeben.

Das Todesermittlungsverfahren wurde schnell eingestellt. Ohne Obduktion, wie mir auf Nachfrage mitgeteilt wurde. Ich sprach mit renommierten Rechtsmedizinern über die Angaben. Im Kern waren sie sich einig: Hier stimmt etwas nicht, vor allem, weil ein Vierjähriger normalerweise nicht an seinem Erbrochenen erstickt. Es sei denn, Schutzreflexe wie der Hustenreiz, der die Essensreste herausgeschleudert hätte, sind ausgeschaltet.

Interessant war auch die Behauptung in der Akte, Jan H. sei in seinem Kinderzimmer erstickt. Zeugen hatten mit berichtet, dass er oft im Bad schlafen musste, auf einer Matratze, und schließlich im Hausflur wiederbelebt wurde.

Monate später kam ich an einen Brief einer treuen Anhängerin von Sylvia D. Sie schrieb darin: „Wenn ein Kind nur seinen verlogenen Materialisten lebt und in einer opportunistischen falschen Beziehung, dann geschieht ihm das, was Gott einer Mutter für ihre Kinder sagen ließ: Wenn sie weiterhin Gott nur ausnehmen wollen, und den Dank an ihn vergessen, dann macht er den Sack zu!“ Das meine, „daß die Kinder innerlich leergeräumt werden“.

Eine andere Passage lautet: Gott habe mit dem Geburtstag der Anführerin am 8. August 1989 „die Reinkarnation abgeschafft, weil er es satt hat, daß so mancher Hitlerkomplex in seinem nächsten Leben wieder nur seine Schlammflut gelebt und über anderen Menschen wieder nur seine Gemeinheit ausgebreitet hat“. Damit ist wohl Jan H. gemeint, den Sylvia D. als Reinkarnation Hitlers betrachtet haben soll. Und es zeigt sich – wie bereits in Büchern von D. – was für ein Bild von Kindern die Gruppierung prägte.

Viele weitere Stationen, „Puzzleteile“ während der Recherche ließen sich aufzählen.

Zu den Herausforderungen gehörte, einige Aussteiger davon zu überzeugen, sich mir zu öffnen. Sie hatten Angst vor der Vergangenheit und möglichen Konsequenzen. Ämter mauerten mitunter, weil sie im Umgang mit der Gruppe nicht richtig hingeschaut und versagt hatten. Zudem gab es von verschiedenen Seiten Versuche, mich einzuschüchtern und an meiner Glaubwürdigkeit zu kratzen. Ich habe einfach versucht, mich nicht davon irritieren zu lassen, nicht nachzulassen, sondern hartnäckig zu bleiben, so viele Hinweise und Belege wie möglich zu sammeln, zu hinterfragen, einzuordnen und mir ein Bild zu machen.

(Gregor HASCHNIK)


Hier geht es zu seiner großen Geschichte "Im Dunkeln - Wie starb Jan H.?"