"Kommando-Justiz", 25.06.2005

von Vitali NOMONOKOV

Die Wölfe sind satt und die Schafe haben auch daran ihren Anteil?

Komsomolez , 25.06.2005

Informationen zu der vergangenen Konferenz in Chabarowsk mit dem Titel "Probleme der Verwirklichung des Nationalen Plans zur Bekämpfung von Korruption im DFO [Fernöstlicher Föderativer Bezirk]" gab es in den Medien kaum. Als ob irgendeine langweilige Sache besprochen wurde und nicht das größte Problem hierzulande.

"Korruption weitet sich aus, wächst, nimmt Organe der Staatsmacht, der Verwaltung, der Strafverfolgung ein, usw." Eine solche Diagnose, von Wissenschaftlern auf der Konferenz gestellt, hätte noch vor kurzem die Gesellschaft alarmiert. Aber heute: sie wurde gar nicht bemerkt, Korruption wird genauso alltäglich wie Inflation oder die ständig steigenden Preise...

Man hat sich damit so sehr arrangiert, dass es den "Schafen" angebracht erscheint, bei ihrer Diskussion über die Frage der Zügelung des Appetites der "Wölfe", die "Wölfe" selbst aufs Podium einzuladen. Mit diesem Paradox starten wir das unendliche Thema mit Dr. jur. Witalij Nomokonov, einem großen Spezialisten in Sachen organisierter Kriminalität und Korruption:

Wenn man die Gästeliste der Konferenz betrachtet, finden sich bei den eingeladenen viele, die das "Objekt" ihrer Studien darstellen. Wie "ertragreich" ist so eine Zusammenkunft von Theoretikern und "Praktikern"?

N: Die Frage ist klar, es ist nicht zu verheimlichen, dass das Vertrauen in staatliche Strukturen, vor allem in Strafverfolgungsorgane derzeit ziemlich gering ist. Aber wenn man objektiv ist, muss man beachten, dass zum ersten Mal auf einer wissenschaftlichen Konferenz solch hohen "Praktiker" anwesend waren, die das Problem nicht nur vom Hörensagen kennen.

Sprechen Sie über den stellvertretenden Generalstaatsanwalt, Herrn Guljagin, der verdächtigt wird, in Wohnungsbetrügereien verwickelt zu sein - man sagt, es gebe ein Verfahren? Er hat ja die Konferenz der Antikorruptionäre eröffnet?

N: Sie ironisieren. Er hat nur unsere Versammlung begrüßt. Die wichtigen Vorträge hielten Dozenten und Professoren und ich möchte glauben, wir wurden erhört. Einer der Teilnehmer hat jedoch gemunkelt, dass fast schon ein Drittel unserer Antikorruptionsversammlungsteilnehmer selbst in Korruptionsverfahren enden könnte. Bezeichnend ist, dass am nächsten Tag nach der Konferenz die Behörden-Vertreter (Bekämpfung der Organisierten Kriminalität) auch in Chabarowsk ein Koordinationstreffen abhielten. Aber da wurden wir nicht eingeladen, und so kann ich nicht sagen, ob unser Wort einen Anklang in Herzen der Beamten fand.

In Pressemitteilungen wurde nur verkündet, dass erneut ein Vorkehrungsplan verabschiedet wurde. Ob unsere Vorschläge da auch eingegangen sind, kann ich auch nicht sagen, sodass ein gespaltenes Gefühl bei uns bleibt.

Gibt es denn einen Sinn? Haben Sie nicht das Gefühl bei einer Imitation des Kampfes beteiligt zu sein?

N: Verschieben Sie nicht die Akzente, wir sind Theoretiker und können nur Ratschläge geben, was wir auch machen. Ich gebe zu, man wir müde, immer nur Vorschläge zu machen. Die Durchschlagskraft unseres Signals ist sehr schwach. Wissenschaftler ratschlagen und die Gesetzgeber machen oft das Gegenteil. Dennoch gibt es einen Sinn, denn die Transparenz [Glasnost] der Information ist eine der Bedingungen im Kampf gegen Korruption. Hier muss man jede Tribüne und jede Möglichkeit nutzen: Steter Tropfen höhlt den Stein.

Sie argumentieren wie Sjuganov [Vorsitzender der russischen Kommunisten (KPRF)], er "nutzt" ja auch schon seit 20 Jahren seine Tribüne und "höhlt" das Regime!

N: Und dabei hat er recht: Unter einen liegenden Stein fließt kein Wasser, aber unser "Stein" ist irgendwie zu groß geworden - einfach ist es nicht, ihn zu bewegen.

Darüber hat man bei der Konferenz nicht gesprochen, aber hoffentlich gibt es ein allgemeines Verständnis: Entweder man macht etwas gegen die Korruption oder das Land stirbt. Im letzten Jahr überprüften die Experten von GRECO (eine Kommission vom Europarat) die Situation. Das Ergebnis ist traurig: Russland ist heute eins der korruptesten Länder in Europa.

Der Bericht wurde vor einem halben Jahr auf der offiziellen Website der EU als "public" veröffentlicht. Unserem Land wird dringend empfohlen, den Bericht eilig zu veröffentlichen. Bei uns wurde er übersetzt, aber ich sah ihn nur als "für den Dienstgebrauch" klassifiziert.

Was sagt uns das?

Darüber hat man bei der Konferenz nicht gesprochen, aber hoffentlich gibt es ein allgemeines Verständnis: Entweder man macht etwas gegen dies Korruption oder das Land stirbt.

Die Staatsmacht versteht das?

N: Leider ist es so, dass die Wurzel des Übels nicht in irgendwelchen anderweitigen Mächten liegt, sondern in der funktionierenden ausführenden Gewalt. Konkret gesagt ist das wichtigste Leid unsere Strafverfolgungsorgane (außer der Korrumpierung) das "Kommando-Recht", die "Kommando-Justiz".

Bei uns wird das Recht nicht von sich selbst aus vollstreckt, nicht wie etwas Gegebenes, sondern nur auf besondere Anweisung. Dabei ist sowohl bei den unteren, als auch bei den oberen Rängen die Unterwürfigkeit nach oben hin sehr weit verbreitet, was das Problem verstärkt. Wenn von oben ein Kommando kommt, ungesetzlich zu handeln - da bin ich mir zu 90% sicher - , dass dann auch so gehandelt wird. Nach Beispielen muss man nicht lang suchen: Der Fall Bakschetsjan...

Wenn wir eine Diktatur des Rechtes hätten, würde es denn Fall gar nicht geben. Soweit ich mit den Materialien des Verfahrens vertraut bin, scheint mir nur ein Freispruch als Urteil möglich. Ich jedenfalls sehe da einfach keinen "Amtsmissbrauch"!

Die Version Bachschezjans, im Gerichtssaal verkündet, wurde vom Gericht auch nicht widerlegt. Aber das Urteil ist allen bekannt. Und es konnte nicht anders ausgehen. Denn ein Freispruch nach einem langen Verfahren würde förmlich eine Ohrfeige für, ein Urteil gegen die Initiatoren und die Organisatoren dieses Verfahrens bedeuten. Dann würde die Frage nach deren Verantwortlichkeit gestellt werden, bis hin zur Strafverfolgung (wenn bewiesen wird, dass der Fall bewusst erfunden wurde). Ich schließe nicht aus, dass der Fall Bachschezjan in Auftrag gegeben wurde und wahrscheinlich gab es auch direkte Anweisungen aus Moskau. Das Kommando-Recht verdrängt bei uns das geschriebenene Recht, und die Vertikale der Macht hat sich als stärker erwiesen als die Diktatur des Gesetzes. Als Resultat haben die Auftragsfälle die Auftragsmorde abgelöst.

Übrigens hat bei der Konferenz meine Kollegin Prof. Romanowa sehr gut darüber gesprochen.

Sind auch Fälle aufgekommen, die im Auftrag abgeschlossen wurden?

N: Natürlich. Beispielsweise war es bekannt, dass vor den Skandal-Bürgermeisterwahlen in Wladiwostok (im Jahr 2004) Wladimir Nikolaew aus dem Wahlkampf genommen werden sollte - wegen den vielfachen Verstößen im Wahlkampf. Aber es gab, wie man mir gesagt hat, ein Anruf aus Moskau vom Bevollmächtigten [des Präsidenten] - alle Ermittlungen sollten gestoppt werden, was dann auch prompt gemacht wurde. Womit es geendet hat, wissen alle. [wurde 2004-2008 Bürgermeister von Wladiwostok]

Es ist bekannt, dass nicht nur Nikolaew so viel "Glück" hatte...

N: Einverstanden. Beweis dazu ist der Skandal um die 35. Seite des "Beschlusses über die strafrechtliche Verfolgung" (im Fall Mescherjakow), der ins Internet gestellt wurde und jetzt aktiv diskutiert wird:

Im ganzen Dokument gibt es eine "nicht identifizierte Person" als Organisator des Verbrechens. Aber auf der 35. Seite erscheint plötzlich der Name. Ich vermute, jemand beging einen Fehler, der aber dadurch sehr eindringlich das fragliche Prinzip offenlegte: die eigenen Augen auf Kommando zuzumachen. Und so wurde die allen bekannte Person wieder zur "nicht identifizierten" Person.

Aber die Katze konnte man nicht im Sack behalten - hat das jetzt Folgen?

N: In einem zivilisierten Staat hätte allein die Tatsache der Veröffentlichung eines solchen Skandals den automatischen Rücktritt des Beteiligten und die Verantwortunghaftung derer zur Folge, die die Augen zugemacht haben. Bei uns sieht die Folge so aus, dass jene zur Verantwortung gezogen werden, die das Informationsleck verursacht und das Verfahrensgeheimnis verraten haben. Zu der Serie der "Auftragsfälle von oben" gehört auch die kürzlich vollzogene Verhaftung von Alexander Astafjev.

Ich kenne diesen Menschen seit langem, er kooperiert mit und ist ein Experte am Zentrum für Erforschung der Organisierten Kriminalität, ein ehrenwürdiger Mann - und plötzlich...

... plötzlich wird Ihr Aktivist des Betruges verdächtigt?

N: Ich vermute, dass der Fall erfunden ist. Wahrscheinlich hat er was mit dem berüchtigten und tragisch gewordenem Fall "OGAT" zu tun (obwohl formell die Beschuldigungen angeblich unrechtmäßig beschafftes Sachmaterial für seine Abteilung bei der Polizei da fehlt etwas in dem Satz !!! ).

Ich denke, dass hinter den Rücken derer, die schon im Fall "OGAT" fungieren, mächtige Figuren stehen, vermutlich sogar mit Schulterstücken [also Polizei, Militär, o.ä.]. Sie konnten den Fall in Auftrag geben, weil Astafjew zu viel wusste. Es reicht eigentlich, sich richtig mit der Materie des Falls zu beschäftigen, um zu verstehen, dass da gar kein Betrug ist: Für so eine Beurteilung der rechtlichen Situation vergeben wir Studenten im 3. Semester die Note "5", und ich denke viel zu selten.

Eigennutz von Astafjew schließen Sie aus?

N: Stellen Sie sich einen Betrüger vor, der seinen Vorgesetzten einen Bericht über die Annahme von Sponsoren-Eigentum schreibt, in Form von einem Computer und Klimaanlagen. Und das "gestohlene" wie in den Dienst der Polizei übergestellt! wie gemeint ??? Tja, wenn Sie da was falsch gemacht haben, geben sie alles dem Eigentümer zurück und der Fall ist beendet. Aber nein, plötzliche Verhaftung, Durchsuchungen, Verhör in der Nacht... Wie ich ihn kenne, lebt er bescheiden - kein Auto, kein Ferienhaus [Datscha], lebt in einer Mietwohnung.

Und auf seinen Konten?

N: Welche Konten? Es gibt nichts dergleichen - ein kämpferischer Oberst mit einem guten Ruf. Obwohl jetzt im Internet über ihn Gerüchte verbreitet werden, ich denke auch nicht von ungefähr. Es ist traurig, aber dieser Fall ist auch von der gleichen Sorte: Ein Mensch verletzt die Regeln des "Systems" - man gibt ihn "in Auftrag". Ich wiederhole: von banalen Auftragsmorden sind wir zu ausgeklügelten "Auftragsfällen" übergegangen. Dialektik.

Interviewerin: Marina LOBODA

Interviewter: Vitali NOMONOKOV

übersetzt von Alexander SALENKO