Die Berichte von Daniel DREPPER und Niklas SCHENCK, 11.08.2012

von Daniel DREPPER, Niklas SCHENCK

War der Druck zu groß?

Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Berlin. Es war sein zweiter Versuch im Reißen: 196 Kilogramm hatte Matthias Steiner auflegen lassen, der Gewichtheber, Olympiasieger von Peking. Doch er verlor die Kontrolle, die Hantel traf seinen Kopf. Mit Steiner fiel auch die Zielvereinbarung des Gewichtheber-Verbandes: Eine Goldmedaille war die Vorgabe für die Gewichtheber. Festgeschrieben in der Zielvereinbarung zwischen dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Bundesverband deutscher Gewichtheber. Gestern musste das Bundesministerium des Inneren (BMI) sie nach einem Rechtsstreit mit der WAZ-Mediengruppe bekannt geben.

War der Druck am Ende zu groß für Steiner? Auf ihm lastete nicht nur der eigene Anspruch, er sollte auch eine Medaille für seinen Verband gewinnen, die die rund 2,5 Millionen Euro staatlicher Fördergelder für die Gewichtheber rechtfertigt. Ob die Funktionäre Steiner in den Dokumenten nennen, wissen nur die Beteiligten – doch wer außer ihm hätte in London Gewichtheber-Gold holen sollen? Auch welche Bedeutung die Medaille für die künftige Förderung der Gewichtheber hat, ist unklar.

Erfolgreiche Kanuten

Neben der Anzahl der Medaillen legen die Zielvereinbarungen auch fest, ob weitere Trainerstellen auf Staatskosten geschaffen oder ob Höhentrainingslager abgehalten werden. Auf Basis dieser Dokumente wird das BMI nach Olympia eine umfassende Analyse erstellen.

Vor 14 Monaten hatte die WAZ-Mediengruppe Einsicht in diese Dokumente beantragt. Ohne Erfolg. Erst eine Klage zwang das Ministerium jetzt, zumindest die Medaillenvorgaben zu veröffentlichen. Die ersten Daten zeigen, dass von den 23 olympischen Verbänden in London bisher nur die Tischtennisspieler und die Kanuten ihre Ziele erreichten oder übertrafen. Dimitri Ovtcharov holte im Einzel Bronze und auch mit der Mannschaft um Kapitän Timo Boll. Die Kanuten sollen sieben Medaillen holen – sechs hatten sie vor dem letzten Finaltag gewonnen. Auch die Leichtathleten können ihr Ziel – acht Medaillen, davon zwei goldene – noch erreichen.

Innenminister Friedrich hatte stets betont, die Zielvereinbarungen seien Sache des autonomen Sports, deshalb dürfe sein Haus keine Auskunft erteilen. Dass das nicht stimmt, belegt eine übergreifende Zielvereinbarung zwischen BMI und DOSB vom 8. November 2007, die die Journalistin Grit Hartmann veröffentlichte. Sie legt nahe, dass das Ministerium über Förderung und Vorgaben einzelner Verbände jederzeit mitbestimmt: Die Zielvorgaben sind somit staatliche Medaillenziele.

Der DOSB hielt die Zielvereinbarungen nach eigenen Angaben stets geheim, um ein „Hauen und Stechen unter den Verbänden“ zu vermeiden. Kritiker vermuten dagegen, der Dachverband hüte die Absprachen, um Macht zu erhalten. Der DOSB ist zum einen Dachverband aller Sportverbände, vertritt diese gegenüber Berlin. Andererseits soll er als neutraler Gutachter für das Ministerium die Vergabe der Fördermittel bewerten.

„Zuweilen nutzt der DOSB seinen Wissensvorsprung gegenüber seinen Auftraggebern, also den Verbänden und dem BMI, zu beiden Seiten hin aus“, sagt der Saarbrücker Soziologe und Ökonom Eike Emrich, der bis 2009 Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) war. Emrich spricht von Günstlingswirtschaft, vom „Fürstenhof DOSB“.

Der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer sieht die staatlich sanktionierten Vorgaben in der Tradition eines totalitären Leistungsdenkens: „Mir drängt sich der peinliche Eindruck auf, dass das Sportsystem der DDR über das der Bundesrepublik gesiegt hat.“

„Es gibt keinen Automatismus“

DOSB-Präsident Thomas Bach und Innenminister Hans-Peter Friedrich betonen stets, dass es „keinen Automatismus zwischen Medaillen und der Zuwendung von öffentlichen Fördermitteln gibt.” Nur über die Medaillenvorgaben könne die Sportförderung daher nicht bewertet werden.

Ob Friedrich deshalb die Anweisung gab, auch den Anträgen der WAZ-Mediengruppe nachzugeben und Einblick in den Inhalt der gesamten Zielvereinbarungen zu gewähren? Dazu hat sich das Innenministerium bisher nicht geäußert.