Das Making-of des Wiesbadener Kurier

Aufgeschrieben von Birgit EMNET

Bereits im Rahmen unserer Recherchen zur „Kommunalpolitischen Affäre“ um den damaligen Wiesbadener Oberbürgermeister und verschiedene Akteure aus der Kommunalpolitik in den Jahren 2017-2019 gab es erste Hinweise auf einen „auffällig opulenten Lebensstil“ des AWO-Geschäftsführer-Ehepaares Hannelore und Jürgen RICHTER, die als Stammgäste in diversen Nobelrestaurants regelrecht „Hof hielten“. Als die Frankfurter Neue Presse (FNP) im August 2019 erstmals über Doppelstrukturen in den AWO-Kreisverbänden Frankfurt und Wiesbaden berichtete und über den Verdacht der Untreue und des Betruges, den ein anonymer Informant in einer 16-seitigen Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt zur Kenntnis gebracht hatte, stiegen wir in die Recherche mit dem Fokus auf den Kreisverband Wiesbaden ein.

Schon der erste schriftliche Fragenkatalog an die Wiesbadener AWO-Geschäftsführerin und Sonderbeauftragte der AWO Frankfurt, Hannelore RICHTER, mit Fragen zu den Doppelstrukturen und dem Verkauf eines Pflegeheimes wurde nicht direkt beantwortet: Sie lud zusammen mit ihrem Anwalt, dem renommierten Wiesbadener Wirtschaftsstrafrechtler Prof. Alfred DIERLAMM, zu einem „Hintergrundgespräch“ in privatem Ambiente im Garten des Anwaltes ein. Dabei wurde mit allen Mitteln versucht, eventuelle Bedenken hinsichtlich der Geschäftspraktiken der beiden AWO-Kreisverbände zu zerstreuen, mit der offensichtlichen Zielrichtung, eine Berichterstattung zu verhindern.

Das gelang nicht – und nach dem ersten Artikel nebst Kommentar (Tenor: „Kosmetische Korrekturen reichen nicht, vor der AWO liegt viel Aufräumarbeit“), wurden die Bandagen härter. Von nun an folgten auf unsere Berichte unverzügliche Gegendarstellungen auf der AWO-eigenen Homepage sowie in Presserklärungen, begleitet von Abmahnungen und Androhungen von Unterlassungsklagen.

Anfragen an den Kreisverband wurden nur noch von Medienanwälten beantwortet, stets unter Androhung von Rechtsschritten sowie Anmerkungen im Stil von: „Wir merken schon an Ihrer Fragestellung, dass Sie eine tendenziöse Berichterstattung planen“. Eine geradezu bizarr ablaufende Kreisversammlung, die durchchoreografiert dazu dienen sollte, die eigenen Reihen zu schließen und Angriffe von außen abzuwehren (die Argumentation zielte nun auf die Verteidigung gegen eine „von rechts“ gesteuerte Anti-AWO-Kampagne, deren Teil unsere Veröffentlichung seien), gab dem Verdacht, dass hier etwas verschleiert werden sollte, weitere Nahrung.

In der Folge gingen wir vereins- und steuerrechtlichen Fragen nach, ließen beispielsweise Experten das System des „Mitarbeiterpools“ prüfen, mit dem die beiden Kreisverbände Gelder verschoben, die dann als „Zuwendungen Altenhilfe“ deklariert wurden, oder etwa die großzügig gewährten Ehrenamtspauschalen für mehrere Dutzend ausgewählte AWO-Mitarbeiter und Familienangehörige.

Immer stärker schälte sich im Verlauf der Recherchen das lange gewachsene und ausgeklügelte System der Selbstbereicherung einer Führungsclique und nachgeordneter Begünstigter heraus, die sich immer neue Einnahmequellen erschlossen und den mit öffentlichen Geldern bezuschussten Sozialverband „wie eine Weihnachtsgans ausnahmen“, wie es ein Anwalt der neuen AWO-Führung ausdrückte. Beispielsweise berichteten wir über eigens gegründete Gesellschaften (Somacon/Consowell), mittels der dann überhöhte Rechnungen wieder an die AWO gestellt wurden. Oder über gemeinnützige AWO-Töchter (AWO Protect/AWO ProServ), deren Geschäftsführungen mit Günstlingen besetzt wurden und ebenfalls  undurchsichtige Geldflüsse generierten.

Die unter juristischem Druck der Gegenseite und mit eigener anwaltlicher presserechtlicher Begleitung entstandenen Artikel schufen offensichtlich Vertrauen: Immer mehr Informanten spielten uns Unterlagen und wichtige Hinweise zu oder berichteten von Missständen, darunter Scheinarbeitsverhältnisse sowie auch einem stets unerbittlichen Vorgehen der Geschäftsführung mit Mobbing und fristlosen Kündigungen gegenüber als zu kritisch empfundenen Mitarbeitern.

Geradezu ein Glücksfall war dann der uns im November 2019 anonym zugehende Bericht der Wirtschaftsprüfer des AWO-Kreisverbandes, die die Gefahren für die Gemeinnützigkeit des Sozialträgers an vielen Beispielen, darunter die exorbitanten Gehaltshöhen und Zulagen der Geschäftsführung, aufzeigten. Diese wertvolle Unterlage bestätigte uns auch, dass wir mit allen bisher in mühsamer Recherche erworbenen Erkenntnissen richtig lagen.

Die Artikelserie ab September 2019 zeitigte zum Jahresende 2019 bereits Reaktionen mit Rücktritten und Kündigungen von Hauptprotagonisten. Der AWO-Bundesverband hatte sich eingeschaltet und auf weitere Aufklärung und Konsequenzen gedrängt.

Im Januar 2020 wurde in Wiesbaden ein neuer Kreisvorstand gewählt, der sich unverzüglich an die Aufarbeitung der Affäre machte. Parallel ermittelt die Staatsanwaltschaft Frankfurt gegen die Hauptverantwortlichen wegen des Verdachts der Untreue und des Betruges, es gab mehrere Hausdurchsuchungen und zuletzt auch die Beschlagnahmung von Vermögenswerten. Darüber berichteten wir ebenso wie über Aspekte des „Frankfurter Stranges“ des AWO-Skandals, etwa, was den Frankfurter Oberbürgermeister FELDMANN und seine Verstrickungen mit der Arbeiterwohlfahrt betraf. Ebenfalls nach Wiesbaden schwappte ein Teil der „Affäre AWO/Feldmann“, die mit der ungerechtfertigt hohen Vergütung seiner Ehefrau als Leiterin einer AWO-Kita begonnen hatte: Wir recherchierten, dass die damalige Lebensgefährtin FELDMANN's auch hier bereits 2015 offensichtlich ein Scheinarbeitsverhältnis mit Dienstwagen hatte.

Die Aufklärung der Affäre ist auch noch nicht zu Ende: Hannelore RICHTER dürfte, wie wir berichtet haben, mit ihrer 2014 durch eine fingierte Gehaltsabsenkung erschlichenen Wechsel von der privaten in die gesetzliche Krankenkasse Sozialkassenbetrug begangen haben und ihr Mann Jürgen RICHTER bleibt unserer Zeitung und der Öffentlichkeit die Antwort auf Fragen nach dem rechtmäßigen Erwerb seines seit den 1990er Jahren geführten Doktortitels schuldig.

Bis heute. Die Recherchen haben sich gelohnt: Sie zeigen Wirkung.