Tierärztin Dr. Margrit HERBST warnt vor der Rinderseuche "BSE" und wird entlassen

Das Problem

Es ist wie immer: Wenn staatliche Stellen Gesundheitsgefahren bemerken oder sich ein Problem auftut, beschwichtigen sie. Und streiten alles ab. Bis es nicht mehr geht. Hinterher will es keiner gewesen sein.

So war es auch bei der Rinderseuche "BSE". Mitte der 80er Jahre verhalten sich die ersten Rinder in Großbritannien merkwürdig: Wenn sie versuchen, auf allen Vieren zu stehen, klappen sie zusammen. Und verenden.

Grund: Weil der Wert des britischen Pfunds immer weiter sinkt, Soja aus dem Ausland immer teurer wird, kommen die Züchter auf die Idee, gemahlenes Tiermehl aus Tierkadavern toter Schafe, die es zu Hunderttausenden gibt,  ihren Rindern zum Fraß vorzusetzen. Die toten Schafe sind an einem tödlichen Erreger verendet. Die Krankheit nennt sich "Scrapie".

Weil auch die Energiepreise steigen, wird in den Tierkörperverwertungsanstalten die Verbrennungstemperatur heruntergefahren: von 130 Grad auf 80 Grad Celsius. Folge: der Erreger überlebt. Jetzt in den Körpern der Rinder, deren begehrtes Fleisch später auf dem Mittagstisch landen wird.

Über diese Zusammenhänge weiß die Öffentlichkeit nichts. Und erst recht nichts über daraus resultierende gesundheitliche Gefahren.

Die Geschichte

Während in Großbritannien die lukrative Tierkörperverwertung zu Tierfuttermehl eingeschränkt wird und die Kadaverfirmen mit ihrer Ware jetzt aufs europäische Festland ausweichen - die EU ist zu diesem Zeitpunkt vor allem eine Agra-Union - fällt der Tierveterinärin Dr. Margrit HERBST 1990 im Schlachthof von Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein das erste Tier auf, das sich atypisch benimmt. Kurz darauf entdeckt sie zwei weitere Verdachtsfälle. Und kurz darauf nochmals vier weitere.

Die histopathologischen Untersuchungen an der Universität Hannover, die sie initiiert, bringen nichts: "Keine eindeutigen Hinweise auf das vorliegen einer spongioformen Enzephalopathie." Weil Margrit HERBST das Problem dennoch gegenüber ihrem Vorgesetzten, dem Landrat, zur Sprache bringt, wird sie von der sog. Lebenduntersuchung abgezogen und ans Schlachtband (straf)versetzt. Dort hat sie keinen direkten Einfluss mehr, um zu verhindern, dass das Fleisch von verdächtigen Tieren nicht in den Handel kommt. Sie versucht es indirekt, indem sie den Leiter des Fleischhygienamtes zu überzeugen versucht. Vergeblich.

Dr. Margrit HERBST versucht es jetzt auf wissenschaftlicher Ebene und veröffentlicht erste Fachaufsätze. Zum Beispiel "BSE - Alte Krankheit mit neuer Problematik." Derweil werden weiter BSE-verdächtige Tiere in Bad Bramstedt ganz normal geschlachtet und verwertet.

In Großbritannien haben zu diesem Zeitpunkt ebenfalls mehrere Wissenschaftler ihre Warnungen veröffentlicht. Die britische Regierung wiegelt ab: keine Gefahr! Allerdings verweigert sie den (kritischen) Experten den Zugang zu vielen Informationen und zu den toten Tieren, die sie den Landwirten und Rinderzüchtern abkauft. Auch Deutschland zögert: "Ein EG-weites Verbot der Verwendung von Tiermehl und Tierfett als Futtermittel wäre … unverhältnismäßig und nicht durchsetzbar," so der Landwirtschaftsminister, der bis 2001 das Problem nicht zur Kenntnis nehmen wird.

Dr. Margrit HERBST muss inzwischen an einer defekten Hebebühne arbeiten. Dem ist sie körperlich nicht gewachsen und wird krank. Trotzdem kann sie bis Anfang 1992 insgesamt 22 Tiere als verdächtig melden, was am Schlachtband und der Hebebühne bei toten Tieren sehr schwierig ist. Sie wendet sich erneut an den Landrat, ihren höchsten Chef, teilt ihm mit, dass verdächtige Tiere oft nicht mehr gemeldet würden und dass europaweit erste Angestellte in der Fleischabfertigung an der "Creutzfeldt-Jakob-Krankheit" gestorben seien. Und sie bittet wegen der körperlichen Überbeanspruchung an der defekten Hebebühne um Rückversetzung in den Stall, so sie die lebenden Rinder checken könnte.

Weder der Landrat noch der Veterinäramtsleiter und auch nicht ihr eigener Betriebsrat nehmen ihre Sorgen ernst oder kümmern sich. HERBST versucht es erneut über die Fachpresse: "Die bovine spongiforme Enzephalopathie - eine neue Gefahr für Mensch und Tier?"

Längst ist auch DER SPIEGEL dem Thema 1993 auf der Spur. Und weil HERBST inzwischen als Fachfrau in BSE-Fragen gilt, wird sie von der Illustrierten stern interviewt: "Sicher ist nur Öko-Fleisch." Von ihrem Arbeitgeber wird sie sofort abgemahnt, während immer mehr Medien das Thema aufgreifen. Als die Segeberger Zeitung über den Fall HERBST berichtet, wagen sich jetzt - erstmals - auch ihre Kollegen aus der Deckung. Und reden im Norddeutschen Rundfunk über die unhaltbaren hygienischen Arbeitsbedingungen im Schlachtof von Bad Bramstedt.

Weil inzwischen längst feststeht, dass der BSE-Erreger auch auf den Menschen überspringen kann, gibt das schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerium einen internen, sprich geheimen Rundbrief an alle Landräte und Bürgermeister heraus, in dem u.a. steht, dass "Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers vor möglichen Gesundheitsgefahren unabdingbarer Vorrang vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten einzuräumen“ sei. Der Öffentlichkeit wird dieses Warnschreiben vorenthalten. Auch Margrit HERBST weiß davon nichts.

Ende August 1994 wird sie vom Fernsehsender SAT.1 angefragt. Ihr Arbeitgeber droht - im Land der Meinungsfreiheit - mit Kündigung. HERBST lässt sich nicht einschüchtern:

„Da ich nicht Beihilfe zu möglichen vielfachen Tötungsdelikten leisten wollte, habe ich im August 1994 in einer SAT.1 Sendung über die Behandlung BSE-verdächtiger Rinder durch Vorgesetzte und über Einschleppungsmöglichkeiten und Verbreitungsrisiken berichtet, nachdem ich erfahren hatte, daß eine Vielzahl von billigen britischen Kälbern in Holland von unseren Viehanlieferern aufgekauft und später auf dem Schlachthof der Norddeutschen Fleischzentrale in Bad Bramstedt geschlachtet worden sind. Kurz zuvor hatte ich den britischen BSE-Diagnoseschlüssel erhalten und die Gewißheit bekommen, daß sich meine Befürchtungen hinsichtlich der Schlachtung BSE-verdächtiger Rinder bewahrheitet hatten", wird sie später ihren Auftritt begründen.

Jetzt geht der Druck erst recht los. Der Schlachthof verbietet ihr kritische Äußerungen, droht mit 500.000 DM Ordnungsgeld. Das heimische Landwirtschaftsministerium bestätigt inzwischen die Hygienemängel.

Wenig später erklärt der Multifunktionär der bundesdeutschen Agrarindustrie Wilhelm NIEMEYER, der auf allen wichtigen Posten trohnt, in detr TV-Sendung stern-tv, dass HERBST längst entlassen worden sei. HERBST weiß davon nichts, hat auch kein Kündigungsschreiben erhalten.

Die Kündigung kommt dennoch: 4 Wochen später.

Die Rechtsprechung in Sachen Kündigungsschutz vor den deutschen Arbeitsgerichten läuft zu dieser Zeit immer noch klassisch: Ein Arbeitnehmer hat seinen Mund zu halten, egal um was es geht. HERBST hat keine Chance.

Eine Chance hat sie allerdings vor dem Oberlandesgericht Schleswig 3 Jahre später - der Schlachthof will 180.969,30 DM Schadenserstz von ihr. Die Richter weisen das Ansinnen zurück:

„Damit konnte sich (nicht nur) für die Beklagte der Verdacht aufdrängen, dass den staatlichen Stellen durchaus im Einklang mit der fleischerzeugenden und –verarbeitenden Betrieben sehr daran gelegen war, einen amtlichen BSE-Nachweis wenn irgendmöglich zu verhindern."

Das nutzt Margrit HERBST nichts mehr - die Kündigung ist längst rechtskräftig.

Die Bilanz

Folgen für die Gesellschaft:

1999 hatten Forscher einen Schnelltest für die Erkennung von BSE entwickelt. Kaum konnte man den anwenden, werden jetzt auf einmal jede Menge BSE-Rinder auch in Deutschland geoutet. In England musste man bis zu diesem Zeitpunkt - nach offizieller Statistik - 169.947 Rinder töten. Als die BILD-Zeitung im Jahr 2000 auf die Berichterstattung einsteigt ("BSE: Irrsinn ohne Ende"), geht alles ganz schnell: Das neue rot-grüne Kabinett unter Bundeskanzler SCHRÖDER (seit 1998) verbietet die Tiermehlfütterung auf der Stelle. Neue Ministerin für "Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz" wird Renate KÜNAST von den GRÜNEN. Sie setzt ab sofort auf "Klasse statt Masse" und leitet eine erste Agrarwende ein.

Folgen für die Whistleblowerin:

Dr. Margrit HERBST scheitert auch vor dem Landesarbeitsgericht, das allerdings empfiehlt, zu prüfen, ob die Tierärztin wieder re-integriert werden könne. Der SPD-Landrat hat kein Interesse. Dr. Margrit HERBST ist mit 54 Jahren arbeits- und mittellos. Als 2001 einige Bürger sie für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, fordert die SPD-geführte Landesregierung, HERBST solle sich auf einen Kuhhandel einlassen: Orden gegen Verzicht auf jegliche Ansprüche. HERBST lehnt ab.

Seither lebt die promovierte Veterinärein als Frührentnerin in ärmlichen Verhältnissen. 2001 wird ihr der "Whistleblower-Preis" zugesprochen. Eine Initiative der Partei DIE LINKE 2014 im Kreistag, Margrit HERBST zu entschädigen, scheitert an den Stimmen von SPD, CDU und FDP, aber auch den GRÜNEN.


Hinweis:

Diese Geschichte können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Herbst. Ausführlich dargestellt ist sie unter www.ansTageslicht.de/Margrit-Herbst. Dort ist auch rekonstruiert, wie das Problem BSE entstand und wie es öffentlich wurde.

(JL)

Online am: 02.02.2017
Aktualisiert am: 01.09.2019


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