Whistleblower Detlef TIEGEL - vorher und nachher in der gleichen Branche tätig

Die Geschichte

"Das Wohl vieler überwiegt das Wohl des Einzelnen.“ Dies ist nicht nur das Leitmotiv des Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise, sondern auch die Devise von Detlef TIEGEL, geboren 1972 und seit 1997 in der Call-Center-Branche tätig. Er arbeitet in diesem Beruf mit Leib und Seele. Aber nur so lange, wie alles mit rechten Dingen zugeht.

Das Jahr 2008 ist jenes Jahr, in dem mehrere Daten(schutz)skandale die breite Öffentlichkeit hellhörig werden lassen. Im Mai enthüllt DER SPIEGEL, dass die Deutsche Telekom nicht nur unliebsame Journalisten bespitzeln, sonder auch eigene Aufsichtsräte ausspionieren ließ. Die Manager wollten das Leck finden, durch das regelmäßig Informationen an die Medien bzw. die Öffentlichkeit sickerten. Im August dann die Affäre mit den illegal weiterverkauften Datensätzen von Lotteriespielern. Letzteres ist die Geschichte von Detlef TIEGEL.

Er tritt Anfang August eine neue Stelle an: im Callcenter „Lübecker Hanseservice“. Seine Aufgabe: Verträge für Glücksspielbeteiligungen im Auftrag von „Europachance“ und „Eurochance“ zu verkaufen, also Leute anrufen und sie zum Mitmachen animieren. Tiegels Chef übergibt ihm dazu eine umfangreiche Datensammlung von Tausenden von Personen mit

  • Telefonnummer
  • Adresse
  • Geburtsdatum
  • Bankverbindung und Kontonummer.

„Sie haben doch mal bei der Süddeutschen Klassenlotterie gespielt? Jetzt haben wir ein neues Angebot für Sie!“ So soll TIEGEL seine Anrufe beginnen.

Die Daten sind allesamt aktuell. Das merkt TIEGEL schnell und sieht auch sofort die Probleme: Zum einen müssen die Daten auf illegalem Wege zu seinem Arbeitgeber gelangt sein – die Weitergabe und erst recht ein Verkauf sind verboten. Zum zweiten: Mit solchen Informationen, insbesondere mit den Bankverbindungsdaten, lassen sich ganz einfach „vertraglich vereinbarte Zahlungen“ von den Konten abbuchen, wenn ein Telefongespräch mit einem angeblichen „Neukunden“ nachweislich zustande gekommen ist. Auch wenn der „Neukunde“ abgelehnt hat. In der Branche heißt das Kaltaquise am Telefon“.

Detlef TIEGEL handelt entschlossen.Er brennt eine CD mit 17.000 „SKL“-Datensätzen und schickt sie anonym an die Verbraucherzentrale (VZ) in Kiel. Die informiert umgehend den Datenschutzbeauftragten beim Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD).

Am Montag, den 11. August dann die Pressemitteilung der VZ: „Verbraucherzentrale deckt Datenmissbrauch auf". Und: „Uns sind die ersten Fälle bekannt, in denen von Konten der betroffenen Verbraucher abgebucht wurde, obwohl diese unmissverständlich jegliche Teilnahme an einem Glücksspiel ablehnten.“ Das Presseecho ist groß. Alle Medien stürzen sich im Sommerloch auf diesen Skandal. Auch Bundesinnenminister Wolfgang SCHÄUBLE (CDU) meldet sich zu Wort, fordert dazu auf, mit den eigenen Daten „zurückhaltend“ umzugehen. Und „keine Einzugsermächtigungen zu erteilen.“

Um sicher zu sein, dass die VZ mit allen Informationen zurecht kommt oder ob es noch Fragen gäbe, meldet sich TIEGEL am Telefon und gibt sich zu erkennen.TIEGEL weiß, was ihm seitens seines Arbeitgebers droht. Aber „das Wohl vieler überwiegt das Wohl des Einzelnen.“ 

In der nächsten SPIEGEL-Ausgabe (Nr. 34/08) dann die Geschichte: Spieler wider Willen.  Kurz darauf die absehbaren Folgen:

  • Die SKL stellt Strafanzeige gegen Tiegel wegen „Verrats von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen“ nach § 17 UWG (Gesetz gegen Unlauteren Wettbewerb)
  • TIEGEL wird gekündigt. In der Branche gilt er jetzt als „verbrannt“. 

Knapp 5 Wochen, nachdem Detlef TIEGEL seinen Job beim Lübecker Call-Center Hanse-Service angetreten und mit dem Einschalten der Verbraucherzentrale eine Lawine losgetreten hat, reagiert auch die Politik: Es kommt zum so genannten Datengipfel in Berlin. Die Politik will mit gesetzlichen Änderungen reagieren, u.a. mit einer Einwilligungspflicht der Betroffenen bei der Weitergabe von Daten. Zwar werden alle diese Vorhaben des novellierten Bundesdatenschutzgesetzes zum 3. Juli 2009 durch gezielte Lobbyarbeit und aufgrund geringen Standvermögens der Parteien verwässert; insbesondere die Einwilligungspflicht. Die Sensibilisierung breiter Bevölkerungsschichten indessen hat Tiegels beherzte Aktion erreicht. Und auch Unternehmen dieser Branche haben dies erkannt – TIEGEL hat längst wieder einen neuen Job. In eben dieser Branche, in der er schon immer am liebsten arbeiten mochte.

Die Bilanz

Folgen für die Gesellschaft:

Inzwischen beherrschen die Themen Datenschutz, Privatsphäre, Abhören, Datenhandel usw. längst die öffentlichen Diskussionen.Seit 2013 ist ein neuer Aspekt durch Edward SNOWDEN hinzugetreten: weltweite Überwachung durch die US-amerikanische NSA.

In Sachen Datenhandel sind seither weitere Gesetze und Regeln erlassen. Und auch was den "Verrat von Geschäftsgeheimnissen", z.B. nach $ 17 UWG anbelangt, hat sich etwas getan: Seit April 2019 gibt es Ausnahmen. Wenn Whistleblower, Informanten oder Journalisten solche Dinge ans Tageslicht bringen und dies " im "öffentlichen Interesse" ist, fällt dies nach § 5 des Geschäftsgeheimnisgesetzes (GeschGehG) nicht unter dieses Verbot.

Folgen für den Whistleblower:

TIEGEL hat mit seiner mutigen Aktion 2009 die Augen der Öffentlichkeit für den illegalen Datenhandel geöffnet. Da er selbst Daten weitergegeben hat (an die Verbraucherzentrale), hat er - formal - selbst eine Straftat begangen. Aber die Staatsanwälte zeigten sich einsichtig und flexibel (worauf man leider nicht automatisch setzen kann). Inzwischen gilt ja der Ausnahmetatbestand des § 5 GeschGehG.

Und: TIEGEL hat wieder einen Job. Eine (leider seltene) Ausnahme hierzulande.


Hinweis:

Diesen Text können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Tiegel. Die ausführliche Geschichte finden Sie unter www.ansTageslicht.de/Detlef-Tiegel.

(JL)

Online am: 08.01.2019
Aktualisiert am: 24.08.2019


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