Hessische Steuerfahnder-Affäre, Teil II: das Making-of

Erinnerungen von Matthias THIEME und Pitt von BEBENBURG

Am 9. Mai 2009 erhält Steuerfahnder Rudolf Schmenger den Whistleblower-Preis der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und der IALANA. Der Preis soll Menschen ehren, die in ihrem Arbeitsumfeld schwere Missstände aufdecken. In der  FR  soll aus diesem Anlass der Artikel "Steuerfahnder wegen guter Arbeit geschasst" erscheinen.

Ich treffe Schmenger am Frankfurter Hauptbahnhof und erlebe einen höflichen Menschen, der schlüssig die unglaubliche Geschichte seiner Drangsalierung erzählt. Aber nicht nur erzählt: Schmenger hat tausende Blatt Akten gesammelt, sauber geordnet in Klarsichthüllen, Belege aus dem Innern der Amtshierarchie, offizielle Schriftstücke statt wilder Behauptungen. Man muss viel Zeit haben und tief eintauchen in das Aktengestrüpp, um das Skandalöse an den Zwangspensionierungen der Steuerfahnder um Schmenger und die Art und Weise ihres Zustandekommens zu verstehen.

Die Aktensprache ist trocken, die Vorgänge kompliziert und vieles ergibt erst im Zusammenhang mit anderen Schriftstücken einen weiteren Sinn. Doch das zähe Lesen lohnt sich journalistisch: Nach und nach entsteht das Puzzlebild einer Finanzverwaltung, die auf politischen Druck hin einige ihrer besten Fahnder zu Verrückten abstempelt, weil die Arbeit der Fahnder den Verstrickungen der Machtinhaber zu nahe kam. Die  FR  veröffentlicht zwei weitere längere Artikel, die der Frage nachgehen, wer in der Landesverwaltung verantwortlich für die Vorgänge ist (22.7.2009 "Kontrolle unerwünscht" und am 4.8.2009 "erfolgreich, kaltgestellt"). 

Am 17. November 2009 teilt das Berufsgericht für Heilberufe in Gießen mit, dass es den Frankfurter Nervenarzt Thomas H. der "fehlerhaften Erstattung" von Gutachten für schuldig befunden und zu einer Geldbuße von 12 000 Euro verurteilt hat. Er habe die Gutachten über die vier geschassten Steuerfahnder "nicht entsprechend den fachlichen Anforderungen erstellt", so das Berufsgericht.

Anlass für die  FR , der Frage nach den Auftraggebern des Psychiaters beim Land Hessen genauer nachzugehen: Es folgen zahlreiche Artikel, die sich mit der Rolle des hessischen Versorgungsamtes, der Oberfinanzdirektion und der Landesregierung beschäftigen. Manche Dinge erschließen sich aus den Akten, andere Akten müssen erst noch gefunden werden. Und einige Hinweise erreichen die  FR  im Verlauf der Affäre plötzlich auch aus dem Inneren der Verwaltung. 

So entsteht ein sehr genaues Bild der Abläufe, der handelnden Personen und Verantwortungsbereiche, ein Schaltplan der Vorgänge, an deren Ende vier Menschen von Staats wegen fälschlicherweise der Verstand abgesprochen wurde. Die Opposition im Hessischen Landtag setzte nach den Recherchen der  FR  zu der Affäre einen Untersuchungsausschuss ein. Er tagt bis heute. 

Wir, die beiden Redakteure, fanden etwa heraus, dass der Psychiater, der die Fahnder als krank abstempelte, in der hessischen Verwaltung kein Unbekannter war. Regelmäßig begutachtete er im Auftrag des Hessischen Versorgungsamtes Beamte. Einmal, so ergaben die Recherchen, sollte ihm sogar direkt aus der Finanzverwaltung ein Beamter zur Untersuchung geschickt werden, ohne Zwischenschaltung des Versorgungsamtes. Der Vorfall ereignete sich ausgerechnet in dem hessischen Finanzamt, dem die Frau des Oberfinanzpräsidenten vorsteht. Auch für Gerichte trat der Psychiater als Gutachter auf.

Als die  FR  enthüllte, dass der Arzt in dem heiklen Verfahren des Kindermörders Gäfgen gegen das Land Hessen als unabhängiger Gutachter auftreten sollte, ist für den Mediziner Schluss: Er wird wegen Befangenheit abgelehnt. Wir finden Akten, die das genaue Zusammenspiel der Ärzte im Versorgungsamt mit der Oberfinanzdirektion und dem Psychiater dokumentieren - am Ende des Räderwerks der Amtsanweisungen steht die Psychiatrisierung von vier Beamten durch einen Arzt, gegen den schon die Staatsanwaltschaft ermittelt. 

Wir beobachten die Ermittlungen der Staatsanwälte, die zunächst die Praxisräume des Psychiaters durchsuchen, später jedoch nach einer Klage des Arztes alles Material wieder zurückgeben müssen. 
Wir fragen nach der Rolle der Landespolitik in dem Geschehen und stoßen auf erstaunliche Zusammenhänge: Ein Finanzminister und ein Ministerpräsident, die trotz detaillierter Informationen über die fälschlichen Zwangspensionierungen laut Akten nichts unternahmen, um ihre Beamten zu schützen. 

Plötzlich schaltet sich die Steuergewerkschaft Hessen ein. Mit einem flammenden Verteidigungsschreiben für den Finanzminister und einer Reihe von Diffamierungen gegen die vier ehemaligen Kollegen.

Wir recherchieren weiter und stoßen auf interessante Karrieren: Führungskräfte der Finanzverwaltung stellen große Teile der Landesgewerkschaft, manche kommen aus dem direkten Dunstkreis des Oberfinanzpräsidenten. 

Die Reaktionen der Landesregierung auf die Recherchen zur Steuerfahndeer-Affäre fallen heftig aus, je mehr Finanzminister Karlheinz Weimar in die Kritik gerät: Der 28. Januar 2010 ist ein Donnerstag, der letzte Tag einer dreitägigen Sitzungswoche des hessischen Landesparlaments. Unmittelbar vor der Mittagspause wird im Plenum eine grenzwertige Debatte geführt. Eigentlich soll nur ein Untersuchungsausschuss zum Steuerfahnderskandal eingesetzt werden. Das ist ein normaler parlamentarischer Vorgang, auch wenn er die Politiker auf der Regierungsbank nicht erfreut. Doch dann erklären Roland Koch und seine CDU diesen Mittag zu einem Angriff auf eine Zeitung und einen Journalisten. Der Ministerpräsident selbst ergreift in dieser Debatte das Wort. Er macht das nicht oft und seit seinen Wahlschlappen von 2008 und 2009 noch viel seltener.

Die Opposition habe »die Souveränität verloren«, nur weil »ein Presseorgan« ihr »jeden Tag einen Artikel geschrieben« habe, bemängelt der Regierungschef. Den Rest steuert Kochs Generalsekretär Peter Beuth bei. Der prangert die »unsägliche Kampagne gegen unseren Finanzminister« an. »Sie wollen hier politischen Klamauk veranstalten«, wirft er den Oppositionsparteien vor. »Sie wollen hier den Stoff für eine Frankfurter Zeitung liefern - für einen Journalisten, der sich damit in den vergangenen Wochen beschäftigt hat. Sie wollen unseren Finanzminister mit Schmutz überziehen.« 

Dann nennt Beuth die unbotmäßige Zeitung beim Namen. Es gehe um »die Frage, wie die Frankfurter Rundschau und der Journalist, der das betreibt, förmlich eine fanatische Verfolgung der CDU und von Karlheinz Weimar hier durchführen«. Beuth sieht eine »gemeinsame Kampagne« - verantwortlich: »die Frankfurter Rundschau, die Oppositionsabgeordneten und die vier ehemaligen Mitarbeiter der Finanzverwaltung«. Die öffentliche Schelte ist der aggressive Aufschrei von Politikern, die vergeblich gehofft hatten, solche Dinge im Stillen regeln zu können. Schon Wochen zuvor haben sie sich im Hintergrund darum bemüht, die unliebsamen Journalisten auf Linie zu bringen.

Man muss die Gepflogenheiten im Hessischen Landtag kennen, um zu verstehen, wie das funktionieren sollte. Politiker und Abgeordnete treffen sich hier oft, absichtlich oder zufällig, in Pressekonferenzen oder auf den Fluren. Die regelmäßigen Berichterstatter sind nah dran, denn der Landtag stellt ihnen Büros im Parlamentsgebäude zur Verfügung. Dadurch gibt es viele inoffizielle Informationsbörsen, bei denen stillschweigend die Verabredung gilt, dass über diese Gespräche nicht geschrieben wird. Man redet an der Theke im Landtagsrestaurant miteinander, die mittags den Journalisten, Pressesprechern und wichtigen Politikern vorbehalten bleibt. 

So können wir im Herbst 2009 spüren, dass sich bei der CDU etwas zusammenbraut. Die Berichterstattung passt den CDU-Leuten nicht. Deshalb reden sie den  FR -Journalisten ins Gewissen, indem sie wahlweise die Skandale für unbedeutend erklären, an das Mitleid mit den betroffenen Politikern appellieren oder deutlich machen, dass man künftig wegen Interviews gar nicht mehr anzufragen brauche. Auch Beschimpfungen beim Mittagessen in der Kantine des Landtages gehören zum Repertoire der Landespolitiker. Die CDU versucht es mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Als weder das eine noch das andere die Berichterstatter bremst, erhöht die Union den Druck und geht jetzt an die Öffentlichkeit.

Im Dezember 2009, eine Woche vor Weihnachten, muss sich Finanzminister Karlheinz Weimar im zuständigen Fachausschuss des Landtags Fragen zur Wolski-Affäre gefallen lassen. In der CDU wächst die Nervosität. In dieser Lage macht der finanzpolitische Sprecher der CDU, Gottfried Milde, den Auftakt zur Rundschau-Beschimpfung. Das Protokoll hält seine Worte fest: »Es ist der Kern der Sache, dass es hier eine Kampagne der Frankfurter Rundschau gegen den Finanzminister gibt.« So wird aus der investigativen Berichterstattung über skandalöse Fälle in der CDU-Lesart flugs selbst der Skandal. 

In diesen Wochen haut Kochs Hessen-CDU auf die Zeitung ein, sobald sich Gelegenheit dazu bietet. Per Pressemitteilung heißt es, dass es der  FR  »bei diesem Thema (den geschassten Steuerfahndern) nicht um seriösen Journalismus geht, sondern um eine Schmutzkampagne gegen die gesamte hessische Steuerverwaltung«. Generalsekretär Peter Beuth schreibt an einen besorgten Bürger, der sich an die CDU gewandt hat, über »die unerträgliche Hetze«, die »nach meinem Eindruck im Zusammenwirken von Frankfurter Rundschau, den vier ehemaligen Steuerfahndern und der Opposition betrieben wird«. Der erboste Bürger leitet das Schreiben prompt an die Zeitung weiter. 

Schließlich wird eine Anfrage des Redakteurs Matthias Thieme bei Beuth mit einer unverschämten Mail beantwortet. Sie lautet: »Wir haben in den vergangenen Monaten genügend Erfahrungen mit Ihrer einseitigen Berichterstattung sammeln dürfen und sind nicht gewillt, bei einer neuen üblen Schmutzkampagne mitzuspielen.« Mit freundlichen Grüßen, Christoph Weirich, Pressesprecher CDU Hessen. 

Am Tag nach der bemerkenswerten Landtagsdebatte, heißt der Bericht im Politikteil der  FR : "CDU attackiert die FR«. Das Leser-Echo ist überwältigend, hält wochenlang an und hat einen einhelligen Tenor: Jetzt erst recht! »Das, liebe CDU, ist nun mal das Risiko, das man eingeht, wenn man versucht, einen solchen Vorfall auszusitzen«, schreibt ein Leser. Ein anderer Briefschreiber notiert: »Das System Koch & Co, für das Gesetze anscheinend keine Gültigkeit haben, greift nun die Zeitung an, die lediglich ihrer Pflicht nachkommt, über dieses System zu berichten.« So der Tenor der Flut von Briefen. 

Die Leser forderten ihre Zeitung regelmäßig auf, bei diesem Thema nicht nachzulassen. So entstand in rund 100 Artikeln die Rekonstruktion eines Staatsversagens, ein hessischer Krimi, der bis heute nicht gelöst ist. Während der Recherche zur Steuerfahnder-Affäre in Hessen erlebten die Berichterstatter einige Dinge, die üblicherweise nicht zum journalistischen Alltag gehören.

Nicht alles kann hier berichtet werden. Erwähnt seien etwa Anrufe mehrerer Detekteien mit merkwürdigen Ansinnen - und ein Brief des Finanzministers: Nach einer Rechercheanfrage an den damaligen hessischen Finanzminister Karlheinz Weimar zu eventuellen Querverbindungen zwischen der Steuerfahnder- und der Wolski-Affäre in Hessen erhielt Matthias Thieme einen persönlich unterschriebenen Brief des Ministers, in dem dieser mit allen denkbaren juristischen Sanktionen drohte, falls die der Anfrage angeblich "zu Grunde liegenden Unterstellungen öffentlich oder sonst wie als wahr behauptet werden". 

Gefragt worden war Weimar, ob er von Wolski jemals Spenden angenommen habe. Weimar verneint das. Es gibt aber auch erfreuliche Begleiterscheinungen: Bis heute melden sich Hinweisgeber auch aus ganz anderen Bereichen als der Finanzverwaltung bei der  FR , weil sie die Berichterstattung zur Steuerfahnder-Affäre verfolgt haben und der Zeitung bei der Darstellung komplexer und brisanter Themen vertrauen.