Von PCP zu Dioxin: der Arbeitsmediziner Prof. Dr. LEHNERT, "Experte für Unbedenklichkeit"

Die Vorgeschichte von Chlor und Dioxin

Dioxin(e) sind - üblicherweise - kein Produktionsziel bzw. Stoffe, die man bewusst herstellt. Sie ergeben sich entweder als Abfallprodukt oder bei thermischer Behandlung anderer Stoffe im Rahmen der Chlorchemie. Wird beispielsweise Pentachlorphenol (PCP) bei der Herstellung von Holzschutzmitteln über 300 Grad C erhitzt, so entsteht in diesem Thermofenster bis 600 Grad C das - inzwischen gefürchtete - Seveso-Gift, das die Fachbezeichnung trägt: "2,3,7,8-TCDD" bzw. ausgeschrieben "2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin". Auch in anderen Verbrennungsprozessen können Dioxine entstehen, etwa bei der Müllverbrennung. Ebenso beim Bleichen von Papier und anderen metallurgischen Produktionsprozessen. Alles, was mit der Chlorverarbeitung zu tun hat, bedeutet potenzielle Dioxingefahren.

Auch bei der Herstellung des Insektizids "Lindan" (y-HCH, gamma-Hexachlorcyclohexan) entstehen in erheblichem Umfang diese unerwünschten Verunreinigungen bzw. Abfallprodukte. Die Fa. Boehringer Ingelheim, ein uraltes pharmazeutisches Unternehmen aus dem Jahr 1885, produzierte in ihrem Hamburger Zweigwerk "Lindan" seit 1951 und machte aus dem Abfall "Trichlorphenol". Trichlorphenol wiederum wurde als Ausgangsstoff für das Herbizid "T-Säure" benutzt. Während dieser Prozessschritte entstand auch das berüchtigte Sevesogift "2,3,7,8-TCDD". 

Beim Umgang mit Chlor bzw. Chlorkohlenwasserstoffen "handelt es sich um fast ausnahmslos um biologisch recht stark bzw. recht stark schädliche Stoffe. Die gewerbetoxikologische Bedeutung dieser Eigenschaft geht schon daraus hervor, dass Schädigungen durch Chlorkohlenwasserstoffe in Deutschland als entschädigungspflichtige Berufskrankheit anerkannt werden", schrieb im Jahr 1954 der Leiter des toxikologischen Labors der BASF in Ludwigshafen, Heinz OETTEL.

Mit dieser Einschätzung stand er nicht allein. Denn auch der bekannte "Gewerbehygieniker", den man heute als "Arbeitsmediziner" bezeichnen würde, Prof. Dr. Karl Bernhard LEHMANN (Uni Würzburg), hatte in seinem Lehrbuch der Arbeits- und Gewerbehygiene schon Jahrzehnte zuvor - im Jahr 1911 - darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeiter der Fa. BAYER AG in Leverkusen , die bei der elektroanalytischen Herstellung von Chlor eingesetzt werden, an "Chlorakne" leiden, einer Erkrankung der Talgdrüsen in der Haut. Bei der Arbeit mit Dioxin sei "nach Verlauf einer Woche bei sämtlichen an den Versuchen Beteiligten, heftiger Ausschlag verbunden mit Erbrechen, Durchfall und Magenbeschwerden" aufgetreten. 

Die gesundheitlichen Folgen sind also seit Langem bekannt. Und Chlorakne ist noch das geringste Problem dabei.

Sie können diese Site direkt aufrufen oder verlinken unter entweder www.ansTageslicht.de/Dioxin oder www.ansTageslicht.de/Lehnert 

Anfang der 50er Jahre

Weltweit kommt es da, wo Chlor produziert wird, zu Explosionen und Unfällen. Leidtragende sind vor allem die Chemie-Arbeiter:

  • 1949 gibt es bei der Trichlorphenolproduktion ein Desaster bei Monsanto in West-Virgina/USA
  • 1952 kommt es bei Boehringer Ingelheim bei der HCH-Produktion zu einer Explosion
  • am 17. November 1953 explodiert im Autoklaven-Raum der BASF in Ludwigshafen ein gasdichter Druckbehälter ("Autoklav"), in dem 2,4,5-Trichlorphenol hergestellt wird - giftige Dämpfe zischen aus allen Ventilen. 

Der Unfall bei der BASF ist einer der GAU's der Chlorchemie. 


danach bei der BASF in Ludwigshafen

Was danach bei der BASF geschah, hat Wilfried KARMAUS in einem Buchbeitrag "Das Zusammenspiel von Wirtschaft, Behörden und Industrie dargestellt an einem Fallbeispiel zur Risikobeurteilung und Risikobewältigung von Dioxinen" im Jahr 1990 zusammengefasst:

Den internen Eintragungen der BASF zufolge "traten nach drei bis vier Tagen bei sechs Personen, die sich im Autoklavenraum aufgehalten hatten, starke Schwellungen im Gesicht und Bläschenbildung auf der Haut auf. Neun Tage nach dem Unfall bekam das Gewerbehygienische Institut Nachricht von den angeblichen Hautkrankheiten. Bei dem Lokaltermin am 27. November war von den Dämpfen nichts mehr zu merken. Der Raum war schon tagelang gelüftet worden. Ein Vorschlag, Versuchstiere in den Raum einzubringen, stieß zuerst auf wenig Widerhall. Trotzdem wurden über das Wochenende Tiere in Käfigen in den Autoklavenraum gestellt. Alle Tiere waren am Montag völlig normal. Daher arbeiteten die Schlosser weiter.

Dann meldeten Kliniken der Umgebung Haut- und andere Erkrankungen. Der Autoklavenraum wurde für weitere Arbeiten gesperrt und Tiere mit Staub aus dem Raum bestrichen. Es kam zu schweren Entzündungen in den Ohrgängen. Die Kaninchen und Katzen starben nach einer Latenz von ein bis drei Wochen an Lebernekrose. Die Ratten reagierten nicht auf das Gift, die Meerschweinchen unspezifisch. Bei Reinigungsarbeiten wurde alles versucht: Das Isolationsmaterial wurde herausgenommen, Fußboden und Fenster wurden ersetzt. Aber noch vier Monate später starben Kaninchen, die nur drei bis fünf Tage im Autoklavenraum waren. Auch noch die zehnte Abwaschung des Autoklaven war ebenso unwirksam wie die erste. Im Januar kam dann die Meldung, daß ein Sohn eines schwer erkrankten Arbeiters Chlorakne bekam, weil er den dreimal gewaschenen Schal seines Vaters benutzt hatte."


1954: Boehringer Ingelheim in Hamburg

Das Unternehmen produziert in seinem Hamburger Zweigwerk im Stadteil Moorfleet y-HCH bzw. "Lindan" seit drei Jahren. Niemand will so richtig wahrhaben, dass immer mehr Arbeiter erkranken. Die Produktionstechnik ist einigermaßen 'antik'. So musste Ewald B., der dort seit 1953 in der "Chlor-Phenol-Abteilung T 50" arbeitet, mit einer Schaufel das in Schuppenform vorliegende 2,4,5-Trichlorphenol aus offenen Fässern holen, um es - zusammen mit anderen Zutaten - in den Autoklaven (gasdichter Überdruckbehälter) zu schütten. Ziel der Produktion: das Herbizid "T-Säure".

Wie drei andere seiner Kollegen bilden sich auch bei ihm eitrige Pusteln. Erst im Gesicht, dann am Hals, gefolgt von der Nackenregion und schließlich auf der Brust, dem Rücken und beiden Oberschenkeln. Anfang Oktober 1954 kann Ewald B. nicht mehr arbeiten - er ist arbeitsunfähig; die Schmerzen beim Bewegen sind zu groß.

Sein Hausarzt, aber auch seine Krankenkasse, die AOK, erstatten bei der zuständigen Berufsgenossenschaft BG Chemie (heute: BG RCI) Anzeige wegen Verdachts einer Berufskrankheit.


direkt danach

Ewald B: Gutachten Nr. 1

Ewald B, 38 Jahre alt und berufsunfähig, muss sich einer hautärztlichen Begutachtung im Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) unterziehen. Der Chef der Hautklinik, Prof. Dr. Dr. J. KIMMIG und Dr. Karl Heinz SCHULZ konstatieren ihm eine Chlorakne. Allerdings könne Ewald B weiter im Betrieb arbeiten - nur eben nicht in den Chlorkohlewasserstoffabteilungen. Eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit (BK) liege nicht vor. Die Berufsgenossenschaften sehen es nicht so gerne, wenn externe Gutachter auf eine BK plädieren. Und wer als Gutachter öfters oder regelmäßig Aufträge bekommen möchte, muss dann eben auf seine 'Kunden' etwas Rücksicht nehmen. 

Ob die anderen Allgemeinbeschwerden von Ewald B. wie Appetitlosigkeit, Völlegefühl und Mattigkeit ebenfalls auf den beruflichen Umgang mit Kohlenwasserstoffen zurückzuführen seien, müsse ein internistisches Gutachten klären, so KIMMIG und SCHULZ.

Die BG Chemie gibt sich großzügig und gewährt Ewald B eine "einmalige besondere Unterstützung": 100 DM.


1955

In Bad Dürkheim referiert Anfang des Jahres auf einem Treffen von Werksärzten der Chemischen Industrie ein Betriebsarzt der BASF über seine Erfahrungen mit Chlorkohlenwasserstoffen und der Explosion vor einem Jahr in Ludwigshafen:

"Auch bei den nicht so schwer erkrankten Patienten, die also nicht ins Krankenhaus eingeliefert zu werden brauchten, hielten die Hautveränderungen monatelang an. Hier bietet sich von Anfang an mehr das Bild einer klassischen Perchlornaphtalin-Krankheit. Alle diese Patienten hatten also nur wenige Tage, und zwar nach der Zersetzung, im Dezember 1953 im Autoklavenraum gearbeitet. Insgesamt wurden 40 mehr oder weniger schwer Erkrankte gebucht."

In Hamburg stellt Mitte des Jahres Boehringer Ingelheim sein Produktionsverfahren für T-Säure ein, nachdem der Geschäftsleitung klar geworden ist, dass dabei 2,3,7,8-TCDD anfällt. Inzwischen sind alle 31 Chlorarbeiter an  Chlorakne erkrankt


1956

Weil bei der Berufsgenossenschaft Chemie, Geschäftsstelle Hamburg, inzwischen viele Anträge von Boehringer Ingelheim-Arbeitern zur Anerkennung einer Berufskrankheit eingegangen sind, kommt diese nicht mehr umhin, in diesen Fällen die Krankheitsbilder als BK anzuerkennen. Denn inzwischen geht es nicht nur um die Hautkrankheit, sondern auch um die Schädigung innerer Organe wie z.B. der Leber und Schädigungen des Nervensystems. Die BG veranlasst daher auch im Fall Ewald B eine neuerliche Untersuchung, um auch die erweiterten Krankheitsbilder abzuklären.

Ewald B: Gutachten Nr. 2:

Da die BG Chemie inzwischen grünes Licht für eine Anerkennung als BK signalisiert hat, kommt jetzt auch Prof. Dr. Dr. J. KIMMIG, Chef der Hautklinik am UKE in Hamburg, sowie ein Kollege, Dr. Karl-Heinz SCHULZ, zu einem anderen Schluss als noch vor 2 Jahren. Diesesmal sind beide nicht (mehr) der Meinung, dass Ewald B ruhig weiterarbeiten könne, sondern sie konstatieren eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 30%.

Parallel zu Ewald B wird von Dr. SCHULZ ein Angestellter des Instituts für Holz- und Zellstoffchemie in Hamburg untersucht und behandelt, der an seinem Arbeitsplatz mit Holzschutzmitteln gegen Pilze und Insekten experimentierte. Und auch sein dortiger Chef, Prof. Dr. Wilhelm SANDERMANN, ist betroffen. Er hat sich ein besonders großes und schönes Kristall, dessen chemische Zusammensetzung er noch nicht kennt, auf seinem Schreibtisch aufgestellt.

SANDERMANN ist seit dieser Zeit öfters krank, fühlt sich matt, leidet an Gedächtnisstörungen, so dass er sogar ab und an seine Vorlesungen unterbrechen muss. Auf einen Zusammenhang zu dem Kristallstein auf seinem Schreibtisch kommt er nicht. Stattdessen experimentieren er und seine Mitarbeiter weiter, wollen bestimmte Chlorverbindungen synthetisch herstellen, erhitzen dazu u.a. Pentachlorphenol und entdecken bei den insgesamt 22 Konsequenzen, die Tetrachlordibenzo-p-dioxine bieten, auch das 2,3,7,8-TCDD (siehe Graphik). 

Mit diesen unterschiedlichen Stoffen experimentiert jetzt Dr. Karl-Heinz SCHULZ am UKE an Kaninchenohren und kann bald feststellen, dass 2,3,7,8-TCDD hochgiftig ist. Zusammen mit seinem Chef wird er die Ergebnisse ein Jahr später in der Fachzeitschrift "Dermatologica" (115.1957, S. 540 ff) veröffentlichen: "Berufliche Akne (sog. Chlorakne) durch chlorierte aromatische zyklische Äther." Der Fokus dieser Veröffentlichung liegt auf der Hautkrankheit. Und nur in einem Nebensatz taucht der Hinweis auf, dass bestimmte Mengen bei den Kaninchen auch zu "schweren Leberschäden" führen.

Auch SANDERMANN publiziert seine Ergebnisse zu Pentachlorphenol-Holzschutzmittel-Experimenten in den "Chemischen Berichten" (90.1957, S. 690 ff). Auch dort ist die giftige Formel nur versteckt erwähnt. Hintergrund: Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Heinrich LÜBKE (CDU), hat SANDERMANN und seinem Team verboten, weiter über Dioxine zu forschen und darüber zu publizieren. Hintergrund: das billig (als Abfallprodukt) herzustellende TCDD könne als militärisches Gift eingesetzt werden.

SANDERMANN wird sich an das Forschungs- und Schreibverbot halten. Achtundzwanzig Jahre lang bis zum Jahr 1984. Dann (erst) wird er alles über die "Entdeckungsgeschichte des 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxins (TCDD, Dioxin, Sevesogift)" in der Fachzeitschrift Naturwissenschaftliche Rundschau (37.1984, S. 173 ff) outen


zeitgleich in den USA und Vietnam

Die USA greifen auf Erfahrungen der Britischen Armee zurück. Britische Truppen hatten 1948 in Malaysia, einer ihrer vielen Kolonien, Aufständische teilweise erfolgreich in die Knie gezwungen, in dem sie mit chlorhaltigen Entlaubungsmitteln die Felder von Aufständischen total zerstört hatten. Um einen ganzen Hektar Ackerland unbrauchbar zu machen, bedarf es (nur) 28 Liter chlorierter Herbizide.

US-Präsident Dwight D. EISENHOWER hatte bereits 1954 begonnen, B 26-Bomber in Südvietnam einzusetzen, die Napalm-Bomben abwarfen. EISENHOWER wollte damit die Franzosen unterstützen, die Vietnam bis zur Teilung in Nord und Süd als Kolonie besaßen. Jetzt startet er im "Camp Drum" im Bundesstaat New York Entlaubungsexperimente mit "Agent Purple", um alles effizienter gestalten zu können. Dazu reist der Leiter der Abteilung Wirkstoffforschung des "US Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRID)" nach Deutschland. Er hatte erfahren, dass die Deutschen auf diesem Forschungsgebiet offenbar schon recht weit gekommen sind. Sein Fazit bei Rückkehr: "Dioxin darf nicht für die chemische Kriegsführung eingesetzt werden, da es zu giftig ist.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die USA in Vietnam immer stärker militärisch engagieren und Dioxin als chemisches Kampfmittel zur Entlaubung ganzer Landstriche benutzen werden


1957 - 1963: Ewald B in Hamburg

Gutachten Nr. 3

In Hamburg muss sich der (ehemalige) Boehringer Ingelheim-Arbeiter 1957 - im dritten Jahr seiner Leiden - jetzt einem internistischen Gutachten am UKE unterziehen. Dort konzediert man ihm, dass zumindest ein Teil seiner Beschwerden an seinen inneren Organen "beruflich veranlasst" sind. Die Erwerbsminderung des nunmehr Einundvierzigjährigen wird mit 30% bewertet. 

Gutachten Nr. 4

Auf Empfehlung des Staatlichen Gewerbearztes in Hamburg schickt ihn die BG Chemie drei Jahre später, 1960, noch zu einem Neurologen am UKE. Dort attestiert Dr. SPIEGELBERG eine "Antriebsminderung, eine leichte Senkung der psychischen Grundstimmung und testpsychologisch faßbare leichte Hirnleistungsminderungen bei Fehlen psychopathischer oder neurotischer Züge." Grad der Erwerbsminderung: 20 %.

Gutachten Nr. 5

Zwei weitere Neurologen sind ebenfalls damit befasst. Sie weisen in ihrem "Neurologischen Hauptgutachten" auf die "bemerkenswerte Übereinstimmung der Beschwerden und objektiven Krankheitszeichen innerhalb der Hamburger Chlor-Phenol-Arbeiter" hin: 

  • Akne mit Entzündung der Hautknötchen und Furunkelbildung
  • auffällige Muskelschwäche und Schmerzen, Paraesthesien und leichte Sensibilitätsstörungen
  • psychopathologische Veränderungen im Sinne einer hypobulisch-adynamischen Störung mit Antriebsschwäche
  • depressiver Stimmungslage, Nervosität und Reizbarkeit
  • in mehreren Fällen Leberschäden, ferner mehr oder weniger starke Ausprägung von Reizerscheinungen seitens der Gesichtsschleimhäute und des Respirationstraktes sowie Schädigungen des Herzmuskels.
  • eindeutige Senkung des Lebens- und Leistungsniveaus

Und genau davon seien auch Arbeiter eines Chlorphenolbetriebes in Nordrhein-Westfalen betroffen. Die Kausalität, berufliche Exposition mit Chlorphenol, sei also eindeutig. 

Die Hamburger BG Chemie akzeptiert und gesteht Ewald B. eine "berufsbedingte Chlorakne" an, gewährt ihm eine Rente, rückwirkend seit 1957, in Höhe von 30%. Für Ewald B, der damit seine Famile ernähren muss, ist das zu wenig. Er klagt vor dem Hamburger Sozialgericht. Ewald B wird diesen Prozess verlieren. 

Gutachten Nr. 6

Weil sich bei ihm immer mehr rote Blutkörperchen im Urin finden, muss zwecks "Aufklärung des medizinischen Sachverhalts" - immer noch im selben Jahr 1960 - ein weiteres Gutachten erstellt werden. Konkret ist strittig, ob die Vernarbungen im Nierenbereich ebenfalls auf die "gewerbliche Intoxikation" zurückzuführen seien.

Gutachten Nr. 7

Jetzt geht es 1963 um eine "Rentennachprüfung". Dazu notwendig: einer neuerliches "nervenfachärztliches Gutachten". Wie sich der Betroffene dabei fühlt, ist für die BG Chemie nicht von Interesse. Eine Berufsgenossenschaft, die für die Versäumnisse und mangelnde Prophylaxe ihrer Finanziers, den Arbeitgebern, einstehen muss, hat Interesse, möglichst wenig Ausgaben zu haben. Das neuerliche Gutachten vermag "keine wesentliche Veränderung" des Betroffenen festzustellen. Die Gutachter empfehlen daher eine "internistische Zusatzbegutachtung" wegen der von Ewald B. geklagten "Oberbauchbeschwerden". 

Gutachten Nr. 8

Auch in diesem Fall können die Radiologen am Hamburger UKE nur "altersbedingte Krankheitserscheinungen wie Lungenemphysem und Lendenwirbelsäulen-Veränderungen" bei dem 47-Jährigen diagnostizieren. Und weil es immer noch um die Chlorakne geht, folgt auf Gutachten Nr. 8 zwei Jahre später ein weiteres hautärztliches Gutachten Nummero 9.

Gutachten Nr. 9

Wieder erstellt von den Herren Prof. Dr. Dr. J. KIMMIG und dem inzwischen habilitierten Mediziner Dr. Karl Heinz SCHULZ am Hamburger UKE können sie zwar eine "Neigung zur Besserung" verzeichnen, schätzen aber gleichwohl die Folgen der dermatologischen Veränderungen auf eine Erwerbsminderung in Höhe von 10% ein


zeitgleich zu Beginn der 60er Jahre

In den USA erlebt der neue Präsident der USA, John F. KENNEDY, 1961 sein erstes außenpolitisches Debakel: die misslungene Schweinebuchtinvasion amerikanischer Elitetruppen. Im selben Jahr lässt die DDR eine Mauer errichten. Offiziell protestiert der amerikanische Präsident dagegen. Tatsächlich ist er erleichtert, weil er weiß, dass sein sowjetischer Gegenspieler, Nikita CHRUSCHTSCHOW, nicht zulassen kann, dass die DDR ausblutet - immer mehr Menschen fliehen in den westlichen Teil von Berlin oder über die (bisherige) Demarkationslinie in die Bundesrepublik. Eine Mauer ist auch für KENNEDY eine approbate Lösung, wie wir heute wissen.

Noch im selben Jahr gibt KENNEDY das Startzeichen für die "Operation Hades": Planungen für die chemische Kriegsführung in Vietnam aufzunehmen. Ziel: das Vernichten der Reisernte und die Entlaubung der Wälder - um den Feind besser bekämpfen zu können. Der US-Konzern Dow Chemical ist hoch erfreut über den Auftrag und lässt die Massenproduktion von speziellen Dioxinen anlaufen. Den Stoff wird man "Agent Orange" nennen - nach der Farbe der Fässer, in denen er nach Vietnam geliefert wird.   

1962 dann die internationale Bewährungsprobe für KENNEDY: die Kubakrise. Weil die USA schon vor Jahren Raketen in der Türkei direkt mit Zielrichtung Moskau in Stellung gebracht hatten, machen die Sowjets nun das Gleiche: Sie schaffen heimlich Atomraketen nach Kuba - die Welt steht knapp vor ihrem Abgrund.

Sie stürzt nicht ab - CHRUSCHTSCHOW gibt in letzter Sekunde nach - mit der inoffiziellen Zusage KENNEDY's, dass er etwas später seine Raketen in der Türkei abbauen werde, was auch geschieht. Zeitgleich findet in Deutschland das statt, was man damals die SPIEGEL-Affäre nennt: Verteidigungsminister Franz-Josef STRAUSS will das kritische Nachrichtenmagazin klein kriegen und lässt Polizei, Militärischen Abschirmdienst und die Spezialeinheit "Sicherungsgruppe Bonn" in die gesamte Redaktion einmarschieren. DER SPIEGEL bleibt mehrere Wochen durch die staatliche Macht besetzt. Mehr unter www.ansTageslicht.de/Spiegelaffaere.   

Im Jahr drauf, 1963, geht KENNEDY, wenige Monate vor seiner Ermordung in Dallas/Texas, in die Vollen: Bisher musste jede Aktion zur Vernichtung einer Ernte mit Herbiziden in Vietnam vom US-Präsidenten abgesegnet werden. Von jetzt an reicht die Zustimmung des US-Botschafters in Saigon (Südvietnam).

Weil Massenproduktion auch Schnelligkeit in der Lieferung bedeutet und Sicherheitsvorschriften dann nicht mehr ganz so wichtig sind, kommt es 1964 bei der Trichlorphenolherstellung bei Dow Chemical in Midland/Michigan zu einem größeren Betriebsunfall. Weil Boehringer Ingelheim inzwischen sein eigenes Produktionsverfahren auf das für die Arbeiterschaft weniger gefährliche Niedertemperaturverfahren umgestellt hat, übernimmt nun Dow Chemical das in Deutschland erprobte Know-how in Lizenz


1965 bis 1971

In Erlangen wird an der dortigen Friedrich-Alexander-Universität ein neuer medizinischer Bereich aufgebaut: Arbeitsmedizin. Er wird die nächsten Jahrzehnte die gesamte neue medizinische Wissenschaftsdisziplin prägen. Der neue Lehrstuhlinhaber, der aus Köln kommt und dort bisher Oberarzt war, heißt Prof. Dr. Helmut VALENTIN. Er nimmt auch zwei seiner besten Assistenzärzte mit: Dr. Gerhard LEHNERT und Dr. Hans-Joachim WOITOWITZ.

Helmut VALENTIN wird zum Begründer der Erlanger VALENTIN-Schule. Deren Philosophie besteht v.a. darin, Kausalitäten zwischen beruflicher Exposition durch schädliche Stoffe und gesundheitlichen Problemen danach regelmäßig anzuzweifeln. Aus diesem Grund steigt die Erlanger VALENTIN-Schule bei allen Berufsgenossenschaften ganz schnell im Ansehen. Wir haben dieser Arbeitsmedizin-Philosophie ein eigenes Kapitel gewidmet: Die Erlanger VALENTIN-Schule: Wie man die herrschende Meinung organisiert.

Assisent Dr. med. LEHNERT übernimmt ganz schnell, was sein Lehrmeister predigt und nun flächendeckend in seinen Gutachten, Veröffentlichungen und Vorlesungen praktiziert. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ kann das nicht mitmachen - er ist zwar formal VALENTIN-Schüler, aber bei ihm steht das Wohl der Menschen bzw. im konkreten Fall das Leid der Betroffenen im Vordergrund. Kausalitätsfragen sind für ihn zweitrangig, wichtig sind zwei andere Fragen: Wie kann man jemandem helfen? Und wie kann man derlei missliche Situationen von Berufskrankheiten ganz generell durch Prävention verhindern? WOITOWITZ wird später an die Justus-Liebig-Iniversität Gießen gehen und dort den Lehrstuhl und die Polyklinik für Arbeitsmedizin übernehmen.

Abseits von Erlangen kommt es weltweit wiederum hier, da und dort bei der Chlorproduktion zu Unfällen: so z.B. in Frankreich bei der Fa. Rhone-Poulence, in England in einem Werk von Fine Chemicals in Bolsover sowie in den Niederlanden. Überall werden Arbeiter berufskrank.

Pannen auch bei der US Army. Die farbigen Agent Orange-Fässer in Vietnam waren nach ihrem Einsatz sehr begehrt, weil stabil gebaut. Allerdings: Auch mehrmaliges Reinigen konnte nicht alles TCDD herausspülen. So kam es zu Entlaubungsproblemen auch in öffentlichen Parks und privaten Gärten in Südvietnam inklusive der Hauptstadt Saigon. 

Weil inzwischen die weltweite Kritik an den flächendeckenden Entlaubungsaktionen in Vietnam und dem Agent Orange-Gift zunimmt, weist 1970 der US-amerikanische Kongress das Verteidigungsministerium an, eine Studie anzufertigen: The Effects of Herbicides in South-Vietnam. Bis dato wurden 44 Millionen Liter Agent Orange, 20 Millionen Liter Agent White und 8 Millionen Liter Agent Blue in Südvietnam versprüht. Die Studie wird im Februar 1974 veröffentlicht werden.

In Erlangen tauscht der VALENTIN-Schüler Gerhard LEHNERT seine Arbeitsstätte. LEHNERT wird zum Professor für Arbeitsmedizin in Hamburg berufen. Und zugleich als Chef des Arbeitsmedizinischen Zentralinstituts. Für LEHNERT beginnt eine neue Periode seines Wirkens. Er gilt jetzt - nach Helmut VALENTIN - als der zweitwichtigste Mann in der bundesdeutschen Arbeitsmedizin. In knapp zwei Jahrzehnten wird er seinen Lehrmeister dann in Erlangen beerben. Doch jetzt ist LEHNERT ersteinmal in Hamburg.

Dort muss sich Ewald B. gerade einer neuerlichen Begutachtung unterziehen, aber diesesmal nicht in Hamburg, sondern in Stuttgart. Prof. Dr. Ulrich SPIEGELBERG vom UKE ist inzwischen am Bürgerhospital in der baden-württembergischen Landeshauptstadt zugange. 

Ewald B: Gutachten Nr. 10

SPIEGELBERG gilt als gründlich, so dass Ewald B. 1971 den beschwerlichen Weg nach Süddeutschland auf sich nimmt. Er benötigt zwei nervenärztliche Gutachten für die "Rentennachprüfung". SPIEGELBERG diagnostiziert "Störungen der visuell-motorischen Koordination, des Wahrnehmungstempos und der visuellen Merkfähigkeit", aber keine wesentlichen Abweichungen gegenüber den früheren Befunden und schätzt den Grad der Erwerbsminderung weiterhin auf 30%.

Mit dem neuen Arbeitsmediziner in Hamburg, Prof. Dr. med. Gerhard LEHNERT, hat Ewald B. bisher nichts zu tun. Noch nicht ...


1972 bis Mitte 1976

Kaum in Hamburg startet Prof. Gerhard LEHNERT durch. Neben seinen Lehrverpflichtungen und Aufgaben als Leiter des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin wird er Editor in Chief der Zeitschrift International Archives of Occupational and Environmental Health. Und zugleich Mitglied der Schriftleitung des Branchenblattes Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Umweltmedizin (ASU) im deutschsprachigen Raum, die - eigentlich - eine "Zeitschrift für medizinische Prävention" zu sein vorgibt.

Im selben Jahr konstatiert der Werksarzt von Boehringer Ingelheim und zugleich Gewerbearzt in staatlichen Diensten in Hamburg, Dr. GRÖHSLER, dass sich bei 17 von 66 untersuchten Boehringer Ingelheim-Beschäftigten eine Vergrößerung der Leber und bei 7 leberspezifische Befunde feststellen ließen. 

Im April 1972 findet erneut die MEDICHEM (Medicine in Chemical Industry) statt, diesesmal in Ludwigshafen: das Internationale Symposium der Werksärzte aus der Chemischen Industrie. Es redet u.a. Dr. Paul J. GOLDMANN, Werksarzt bei der in Ludwigshafen ansässigen BASF. Er spricht von dem Unfall, der sich vor 19 Jahren ereignet hatte, als aus dem Autoklaven bei der Trichlorphenolproduktion giftige Gase durch die Sicherheitsventile schossen, den ganzen Autoklavenraum füllten und dann durch die Tür ins Treppenhaus drangen. Er berichtet weiter von mehreren Todesfällen und von einzelnen Schicksalen. Beispiel:

"Fall G: Ein damals 20 Jahre alter Schlosser hatte 3 Tage lang im Autoklavenraum gearbeitet. Am 2. Tag traten Kreuz- und Kopfschmerzen,  eine entzündliche Schwellung und harte Infiltration der Haut an Gesicht und Ohren auf. Die Krankenhausbehandlung dauerte 7 Monate lang. Die Nasenflügel waren zerklüftet und sahen wie ausgebrannt aus. Der behaarte Kopf war schmutzig verfärbt und lederartig infiltriert, die Haare fielen vermehrt aus ... Unzählige Mitesser bildeten Ausgangsherde für ständige fingerkuppengroße Abszedierungen. .. G. konnte nicht schwitzen und hatte das Gefühl einer kochenden Haut ... Während der Krankenhausbehandlung 1964 war eine Herzinsuffizienz festzustellen ... Lungenödem, Atemstillstand, Kammerflattern, Herzstillstand." 

So offen der Werksarzt einzelne Fälle schildert, so verschwiegen lässt er vieles aus. Z.B. dass BASF nach Überlebenden einer ähnlichen Explosion im Jahr 1936 gesucht hatte, um Vergleichsdaten zu gewinnen. GOLDMANN wird dies, was er kommunizieren will, auch veröffentlichen: Schwerste akute Chlorakne durch Triphenol-Zersetzungsprodukte in der Fachzeitschrift ASU 1972 und ein Jahr später: Schwerste akute Chlorakne, eine Massenintoxikation durch 2,3,6,7-Tetrachlordibenzodioxin in der Zeitschrift Der Hautarzt.

In einer Grafik skizziert GOLDMANN den weiteren Umgang mit dem Unfall. Erst mit dem vollständigen Abriss des ganzen Gebäudetraktes im Jahr 1969, also nach 16 Jahren, war das Kapitel technisch beendet (siehe Grafik). Allerdings nicht für die betroffenen Mitarbeiter.

In Deutschland läuft die Produktion von Chlorphenolen auf Hochtouren. Das Penta-Chlorphenol beispielsweise als Ausgangsprodukt für die Holzschutzmittel "Xyladecor" und "Xylamon" der Fa. DESOWAG, einer Tochterfirma der BAYER AG in Leverkusen, wird tonnenweise hergestellt. Holz in Wohnungen ist in allen Formen "in", und damit kein Ungeziefer oder Pilzbefall das "Schöner Wohnen" stören kann, werden Holzschutzmittel Literweise eingesetzt - fast überall. Dass teilweise giftige TCCD-Substanzen entweichen, merken die meisten ersteinmal nicht. Betroffene führen Unwohlsein, Mattigkeit, Konzentrationsschwächen usw. auf unerklärliche Ursachen zurück. Nur nicht auf Holzschutzmittel. So wie bei Professor SANDERMANN vom Hamburger Holzchemie-Institut zu Beginn seiner Beschwerden. 

Bei Boehringer Ingelheim indes macht man sich zumindest Gedanken. So heißt es in einer internen Besprechungsnotiz vom November 1975:

"Man habe im Augenblick keine besonderen Absatzsorgen. Allerdings sehe man für die nächsten Jahre schwarz für Pentachlorphenol. Man müsse damit rechnen, dass Pentachlorphenol in den nächsten fünf Jahren fast oder ganz von der Bühne verschwindet. In einigen Ländern (z.B. in der Schweiz und in Skandinavien) sei es jetzt schon verboten. Im Augenblick kann man pentachlorphenolhaltige Produkte noch mit dem Andreaskreuz verkaufen (feuergefährlich), sobald man aber den Totenkopf anbringen müsse, stürbe das Produkt vielleicht von selbst."

Ewald B: Gutachten Nr. 11 und 12

Der inzwischen 59jährige ehemalige Boehringer Ingelheim-Chlorphenol-Arbeiter muss sich erneut begutachten lassen: einmal in Stuttgart im Bürgerhospital (nervenärztliche Rentennachprüfung) und in Hamburg am UKE wegen seiner Hautprobleme. Denn immer noch, konkret nach 24 Jahren seit der Intoxikation treten "Symptome einer Akne, wie Comedonen, an die Haarfollikel gebundene Entzündungen und Retentionszysten" auf. Anders gesagt: Auch die Hauterkrankung ist immer noch nicht ausgestanden


10. Juli 1976: Seveso

An diesem Samstag passiert es: in der Fabrik ICMESA im italienischen Städtchen Seveso, nördlich von Mailand. "Seveso" ist heutzutage jedem ein Begriff. Einer der größten Chemiunfälle. Mit dem Supergift "2,3,7,8-TCDD", abgekürzt "Dioxin" oder "Sevesogift".

Die Chemiefabrik ICMESA, die dort mit billigen Arbeitern und geringen Sicherheitsstandards Trichlorphenol (TCP) produziert, ist ein Tochterunternehmen des Aromamittelherstellers Givaudan in Genf, der wiederum einem der weltgrößten Pharmaunternehmen gehört: Hofmann-La Roche in der Schweiz. Das TCP wurde nicht nur nach Genf geliefert, denn da wurde so viel Trichlorphenol garnicht gebraucht. Der größte Teil ging an ein Zweigwerk von Givaudan in den USA. Und da wurde - lange Jahre jedenfalls - TCP in großen Mengen benötigt. Nicht für die USA, sondern für Vietnam. So erklärt es kurz nach dem Unglück Stanley ADAMS in einem Interview mit der Zeitschrift L'Europeo. Was danach geschah, haben wir an anderer Stelle unter Seveso: Dioxin und Hofmann-La Roche rekonstruiert.

An diesem Samstag jedenfalls zieht eine große unsichtbare Trichlorphenol-'Wolke' über das Städtchen und dessen Umland: das später so benannte Sevesogift "Dioxin", das bei der Explosion freigesetzt wurde. 38.000 Menschen sind betroffen. Zu sehen ist allerdings nichts.

Auch für die zufällig in der Nähe drehende ZDF-Korrespondentin, die davon erfahren hat und sofort nach Seveso fährt. Aber das Kamerateam kann vor den geschlossenen Fabriktoren nur ein zerstörtes Fabrikdach ausmachen. Sonst nichts. Also keine aufregenden Bilder.

So sieht das auch die Redaktion in Mainz und berichtet nicht. Auch andere senden nichts, denn sie haben noch nicht einmal Bildmaterial. Und so bleibt dieses Desaster erst einmal ein lokales Ereignis. Anders gesagt: Das Unglück findet - einstweilig - gar nicht statt.

Nach einer Woche beginnen allerdings die Arbeiter zu streiken, sie wollen Aufklärung. Denn inzwischen sind in den Familien die ersten Haustiere verendet und erste Pflanzen im Garten zeigen Schädigungen. 

Und erst nach 2 ganzen Wochen beginnt die Politik zu reagieren. Sie teilt die Umgebung in zwei Zonen A und B ein und in Zone A rund um das Fabrikgelände werden alle Anwohner evakuiert, die Zone mit Stacheldraht umgeben. Patrouillierende Polizisten sorgen dafür, dass niemand hinein kann. Außerdem schaltet die Politik den staatlichen Rundfunk ein. Über den setzt sie Warnungen über die vergifteten Gebiete ab, fordert die Menschen dort auf, sich mindestens sechs Monate des Geschlechtsverkehrs zu enthalten, um Missbildungen vorzubeugen. Einige Tage später gibt die regionale Gesundheitsbehörde bekannt, dass in den kontaminierten Gebieten Frauen über einen Schwangerschaftsabbruch selbst entscheiden dürfen. Und dies im (erz)katholischen Italien.

Als nach einem Vierteljahr Anfang Oktober die Evakuierten immer noch nicht wissen, wie es weitergehen soll, durchbrechen mehrere Hunderte den Stacheldraht der Zone A und besetzen ihre eigenen Häuser. Niemand hatte sie über die Langzeitfolgen einer Dioxin-Vergiftung aufgeklärt. Der Präfekt der Region Lombardei beendet die Besetzung mit der Drohung, die Häuser notfalls mit Polizeigewalt zu räumen. 

Mitte Oktober wird die verseuchte Zone durch schwere Regenfälle überschwemmt. Und wenige Wochen später taucht das Sevesogift auch in Mailand auf: die Regenfälle haben das Gift durch das Flusssystem der Po-Ebene bis an den Rand der Großstadt getrieben


Dezember 1976

"Seveso" in Deutschland findet erst statt, als die Illustrierte "stern" in einer ihrer letzten Ausgaben im selben Jahr das Thema aufgreift: "Jetzt frisst das Gift die Kinder". Das einprägsame Bild verändert die öffentliche Wahrnehmung: "Seveso" ist plötzlich ein Thema - das Supergift Dioxin ist plötzlich ein Thema. Bisher wurde das nur in der Industrie hinter verschlossenen Türen besprochen und in einigen wenigen fachöffentlichen Kreisen und Initiativen, die sich mit Umweltproblemen beschäftigen. 

Das wird sich jetzt ändern. Umweltfragen werden nun immer öfters ernst genommen. An den Universitäten und Hochschulen tauchen auf einmal Wahlfächer wie Umweltpolitik auf


1977 und 1978

Der stern-Artikel und das einprägsame Titelbild bringen einiges in Bewegung, nachdem auch im Fernsehen jetzt "Seveso"-Berichte gesendet werden. Einige Hersteller geraten in leichte Panik, fürchten um ihre Umsätze und Marktanteile.

Die verantwortlichen Manager der Fa. DESOWAG, die Holzschutzmittel auf der Basis von Pentachlorphenol (PCP) unter den Markennamen "Xyladecor" und "Xylamon" herstellt, einer Tochter des Chemieriesen BAYER AG, diskutieren darüber, ob man nach einem ungefährlichen Ersatzstoff für PCP forschen solle: "Anlaß des Gesprächs waren die Überlegungen, des Hauses, neben Xyladecor ein ähnliches Produkt ohne PCP speziell für die Verarbeitung im Innenbereich zu haben. Dies um so mehr, als der vor kurzem über den Bildschirm gelaufene Seveso-Bericht innerhalb der Sendereihe 'Bilder aus der Wissenschaft' neue Aspekte für diese Überlegungen aufbrachte."  Einer der Mitarbeiter bestätigt der Geschäftsleitung, dass bei Versuchen in einem gerade eingerichteten Modellraum "Werte zu messen waren, die eine Erklärung für das Pflanzensterben gaben und bei empfindlichen Menschen sogar Gesundheitsschäden hervorrufen konnten." Doch der Werksarzt beruhigt, "dass keine Gefahr besteht." 

Einige Wochen später geht es in dieser Runde um die Frage, ob man auf den Verpackungen der Holzschutzmittel einen Warnhinweis anbringen solle. "Wenn wir die Packungen ändern, machen wir doch im nachhinein auf die Giftigkeit aufmerksam", lautet das entscheidende ablehnende Argument. Hier ist das interne Gesprächsprotokoll vom 3. Mai 1977 nachzulesen.

Wie Bewegung in das Thema Giftigkeit von Holzschutzmitteln gerade in diesen beiden Jahren kommt und wie das Bundesgesundheitsamt wider besseres Wissen alle Probleme verschleiert, haben wir detaillierter in einem anderen Kontext dokumentiert unter Wie Staatsanwalt SCHÖNDORF einen Umweltprozess gewinnt und gleichzeitig verliert - eine Chronologie.

Ewald B: Gutachten Nr. 13 und 14

Und wieder muss sich der ehemalige Boehringer Ingelheim-Chemiearbeiter, der 1978 jetzt 62 Jahre alt ist, einer Begutachtung durch die Mediziner KIMMIG und SCHULZ am Hamburger UKE unterziehen. Nach wie vor ist das Krankheitsbild der Chlorakne nicht vollständig abgeklungen - auch 24 Jahre danach. 

Ein Jahr später, 1979, wird Ewald B. Altersruhegeld beziehen und sich dazu für einen 14-tägigen stationären Aufenthalt ins Bürgerhospital nach Stuttgart begeben (müssen). Nach wie vor gelten seine Gesundheitsprobleme bzw. Krankheiten als "berufsbedingt" und sind als solche auch von der BG Chemie, Verwaltungseinheit Hamburg, anerkannt


1979

Bei Boehringer Ingelheim ist man sich der Probleme schon lange bewusst. Bereits im Jahr 1952, also vor über einem Vierteljahrundert, wurde in einem internen Vermerk das festgehalten:

"Bei dieser Gelegenheit möchten wir Ihnen von einer Beobachtung Mitteilung machen. Am 1. Februar, vormittags, wurden drei Männer mit dem Umschaufeln von bereits gemahlenem Reingamma (Gamma HCH) beauftragt und angewiesen, sich zur Durchführung der Arbeit Staubmasken aufzusetzen. Da die Männer jedoch bei dem Betriebsmeister keine Masken erhielten, gingen sie ohne Staubschutz von etwa 10 bis 12 Uhr an die ihnen aufgetragene Arbeit. Von 12 bis 12:30 hielten die Männer Mittagspause.

Auf dem Weg von der Kantine zur Arbeitsstelle gegen 12:30 Uhr wurde einer der Männer plötzlich ohnmächtig. Er warf hierbei die Armehoch und etwas Schaum trat ihm vor den Mund. Der Arzt war zufällig im Werk und stellte fest, daß der Kreislauf vollständig normal war und daß - wie bei epileptischen Anfällen - ein Zungenbiß vorgekommen war.Der Mann kam nach einigen Minuten wieder zum Bewußtsein und konnte sich nicht daran erinnern, daß es ihm plötzlich schlecht geworden wäre. Er hatte lediglich kurz zuvor etwas Kopfschmerzen verspürt.

Wir haben diese Einwirkung von Gamma erstmalig beobachtet. Augenscheinlich ist das Gamma in feiner, staubförmiger Form durch die Lunge vom Körper aufgenommen und hat dann in er geschilderten Weise auf das Nervensystem bzw. die Gehirnzentren eingewirkt."

Jetzt ist das Hamburger Werk erneut in die Schlagzeilen geraten. Denn in letzter Zeit haben sich mehrere  bekannte Wissenschaftler und Institutionen sehr kritisch mit den fraglichen Gefahrstoffen auseinandergesetzt: 

  • Die griechischen Wissenschaftler E. DANOPOULOS, K. MELISSINOS und G. KATSAS, die bereits seit Anfang der 50er Jahre über HCH forschen, haben erneut Ergebnisse vorgelegt. Sie beschreiben die Vergiftung von insgesamt 79 Personen durch HCH. Sechs der Betroffenen sterben an den Folgen. Die Autoren berichten über ein klinisches Bild von Apathie, Schwäche, Mundschleimhautentzündung und Durchfall. Hinzu kamen Veränderungen des ZNS (Zentrales Nervensystem), spasmische Anfälle sowie in einem Fall die deutliche Verminderung der Sehfähigkeit. Die Autopsie an einem der Verstorbenen zeigte deutliche Veränderungen an der Leber und leichte Veränderungen an Niere und Herzmuskel. 
  • Das Krebsforschungszentrum der WHO in Genf, das IARC, warnen, dass "Alpha- und Gamma-HCH sowie technisches HCH in Mäusen Krebs erzeugt."
  • Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg äußert den Verdacht, dass eine karzinogene Wirkung auf Menschen als gegeben angesehen werden muss

Und der Boehringer Ingelheim-eigene Werksarzt hält intern fest, dass bei 8 Beschäftigten die Fettgewebsgehalte an Beta-HCH und Gamma-HCH bis zum 50fachen über den Werten einer davon nicht betroffenen Kontrollgruppe liegen.

Weil dem so ist, beauftragt Boehringer Ingelheim den Arbeitsmediziner vor Ort, Prof. Gerhard LEHNERT. "Ziel der Untersuchung ist vordergründig, die Exkulpation von HCH als Gewerbegift. Darüber hinaus kann diese Untersuchung den Behörden dienen, die Pressebehauptung zu entkräften, wonach die Menschen in der Umgebung des Werks vergiftet würden. ... Was die Kosten betrifft, so läuft ein Teil unter Hochschulkosten", notiert sich der Werksleiter in Hamburg.


immer noch 1979

Prof. LEHNERT liefert. Noch bevor irgendjemand die Ergebnisse seines Gutachtens "Zur gesundheitlichen Relevanz einer chronischen Hexachlorcyclohexan-Belastung" zu Gesicht bekam, verkündet er die Ergebnisse über die Hamburger Presse, z.B. über das Hamburger Abendblatt am 4.12.1979:

"Das bei Boehringer produzierte und zum Teil durch den Schornstein gepustete HCH ist ungefährlich für den menschlichen Körper! Die Großuntersuchung bezog sich nicht allein auf den Billbrooker Chemiebetrieb. Das bedeutet: Die Entwarnung für die 350 Boehringer-Beschäftigten gilt nach dem Gutachten erst recht für die Bevölkerung in der Umgebung!"

Dem Hamburger Senat, dem das Boehringer Ingelheim-Werk am Herzen liegt, weil es zu den größten Gewerbesteuerzahlern gehört, ist dieser 'Freibrief' nicht so recht geheuer. Auch in den Amtsstuben der zuständigen Senatsverwaltung bekommt man mit, was WHO, das IARC oder das Deutsche Krebsforschungszentrum sagen. LEHNERT macht ob den Vorbehalten seines Arbeitgebers - er ist als Leiter des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin "Angestellter" (als Hochschullehrer an der Uni allerdings Beamter) - plötzlich deutlich, dass es sich um ein "privates Gutachten" handele. Er habe die Äußerungen nicht als Leiter des Zentralinstituts des Gesundheitsbehörde erstellt.

Der zuständige Senatsdirektor HOPF hält das Gutachten für unzureichend, vermutet, dass es "damit Ärger geben könne". Da seien viele Fragen unbeantwortet. Insbesondere habe LEHNERT keine Fettgewebsuntersuchungen durchgeführt. HOPF empfiehlt daher schriftlich "eine gewisse Zurückhaltung bei der Gesamtbeurteilung".

Dies ist eines der Probleme bei Dioxin: Es setzt sich im Fettgewebe ab und hält sich dort stabil. Gibt aber nach und nach in kleinen gefährlichen Dosen Teile an den Körper ab - das gesamte Leben lang. Anders gesagt: einmal vergiftet - immer vergiftet. Das ist der Stand der internationalen wissenschaftlichen Diskussion.

LEHNERT, darauf angesprochen, sagt zu, "bei einem Teil des Forschungsprogramms ... eine Fettgewebsuntersuchung auf HCH durchzuführen."

Zuvor hatte er im Hamburger Ärzteblatt die Schlussfolgerung gezogen, "daß selbst bei jahrzehntelanger Aufnahme von HCH-Mengen, die ganz erheblich oberhalb dessen liegen, was der Allgemeinbevölkerung durch Umwelteinflüsse als HCH zugeführt wird, Gesundheitsstörungen nicht zu befürchten sind."


1980

LEHNERT veröffentlicht die Ergebnisse der Fettgewebsuntersuchungen. Nicht in der Presse oder in der Öffentlichkeit, sondern vor der Fachöffentlichkeit: der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin: Die Werte liegen um diese Faktoren höher als in der Normalbevölkerung: bei Beta-HCH um das 50fache, bei Gamma-HCH bis zum zehnfachen.

Die Arbeit hat methodische Schwächen, sie berücksichtigt viele Aspekte bzw. Personen nicht: Kranke, Entlassene und bereits Verstorbene wurden von LEHNERT nicht berücksichtigt. Genau dies machen aber sog. epidemiologische Studien. Ebensowenig wurden die bei Boehringer Ingelheim beschäftigten Frauen in die Untersuchung einbezogen. Und nur bei 8 von insgesamt 60 Beschäftigten wurden Fettgewebsuntersuchungen durchgeführt.


immer noch 1980

Ewald B: Gutachten Nr. 15, 16 und 17:

Nach den vielen Gutachten, denen sich der Ex-Boehringer-Ingelheim-Mann unterziehen musste, der mit 64 Jahren schwer krank seinem Lebensende entgegen sieht, soll nun im Auftrag der Berufsgenossenschaft ein "Zusammenhangsgutachten" erstellt werden. Darin sollen die Ergebnisse aller 7 schwer kranken Chlorphenol-Arbeiter mit berücksichtigt werden, insbesondere der Zusammenhang zwischen der Chlorphenol-Vergiftung und der inzwischen diagnostizierten "Polyneuropathie". Letzteres bedeutet Schädigungen des Gehirns und des Zentralen Nervensystems, Antriebs- und Affektstörungen bis hin zu Veränderungen der originären Persönlichkeit. Die Polyneuropathie spielt u.a. auch beim Lösemittelsyndrom eine Rolle. Dazu gibt es ein eigenes Kapitel unter "Organisierte Falschdarstellung". Organisierte Wissenschaftskriminalität?

Gutachten Nr. 16 wird wieder in Stuttgart erstellt: als "Hauptgutachten". Es bestätigt den Zusammenhang zwischen Ursache und Folgen, konkret einer Polyneuropathie. Konkret, dass eine solche Vergiftung "nicht nur zur Chlorakne führe, sondern auch organische Schäden am Gehirn und peripheren Nervensystem bewirke, möglicherweise auch am Rückenmark." Psychopathologisch sei bei Ewald B. das subjektive Syndrom deutlich ausgeprägter gewesen als vor 1960 und v.a. auch wesentlich verschlimmert gegenüber 1975. Jetzt seien deutlich "depressive Verstimmungsmomente" aufgetreten und "eine Wesensänderung im Sinne eines psycho-organischen Syndroms faßbar." 

Die Erwerbsminderung setze sich daher so zusammen: Das "psycho-organische Syndrom" sei mit 30% zu bewerten, ebenso die Chlorakne sowie mit 10% die dermatologische Seite der Berufunfähigkeit. Zusammengenommen also eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70%. Gutachter SPIEGELBERG merkt zusätzlich an, dass jetzt "besonders gründliche Krebsvorsorgeuntersuchungen erforderlich" seien. 

Im einem Gutachten Nummero 17 wird dann noch der "allgemeine Altersabbau der Intelligenzfunktionen" als "regelrecht" eingeschätzt.

Auf der Grundlage dieser (vielen) Gutachten bewilligt die BG Chemie in Hamburg Ewald B. einen Rentenvorschuss für mehrere Monate in Höhe von 10.000 DM, umgerechnet 5.000 Euro - unter Vorbehalt


1981

Ewald B: Gutachten Nr. 18 und 19

Jetzt muss sich Ewald B. ins Hamburger DRK-Krankenhaus begeben. Dort sollen über ihn und die anderen 6 schwer geschädigten Boehringer Ingelheim-Berufsunfähigen zwei internistische Begutachtungen erfolgen. Der zuständige Internist stellt fest, "daß das 2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-1,4-Dioxin die Eigenschaft habe, sich im Fettgewebe, in der Leber und im retikulo-endothelialem System ablagere, und von dort im Laufe des Lebens ständig neu freigesetzt werde, so daß die Intoxikation auch bei einem Arbeitsplatzwechsel ständig aus den Speichern des menschlichen Organismus gespeist" werde. Allerdings: Bei Ewald B. seien "keine Hinweise auf eine Lebererkrankung vorhanden, das ausgeprägte Lungenemphysem mit Einschränkung der Lungenfunktion und die chronische Bronchitis seien unabhängig von der Dioxin-Schädigung zu sehen." Ergo: es liegt auf internistischem Fachgebiet "keine eigenständige MdE" vor (MdE: Minderung der Erwerbsfähigkeit).

Boehringer Ingelheim, Hamburg

Da letztes Jahr die US-amerikanische Umweltschutzbehörde EPA strenge Beschränkungen für die Produktion und den Einsatz von "Lindan" angekündigt hat, will Boehringer Ingelheim die Basis des LEHNERT'schen Gutachtens vergrößern und auch Arbeiter der Fa. Merck in das Sample mit einbeziehen. Merck erklärt sich grundsätzlich bereit und der Hamburger Boehringer Ingelheim-Werksleiter KRUM notiert sich dazu: 

"Wir waren uns einig darin, daß Prof. Lehnert einer unserer wichtigsten Befürworter im Hamburger Behörden-Konzert ist. Auch bei der Verteidigung der Produkte Lindan und T-Säure hat Herr Lehnert stets und wirkungsvoll auf unserer Seite gestanden."

Und weiter:

„Wenn wir nicht zu Maßnahmen kommen, wird uns der bisher so effiziente Rückhalt bei Prof. Lehnert und den Arbeitsmedizinern verlorengehen. In diesem Augenblick wären wir schutzlos dem Zugriff der Behörden, aber auch dem Drängen der Gewerkschaft ausgeliefert."

Währenddessen hatte das Bundesgesundheitsamt (BGA) wegen der öffentlichen Diskussion um Holzschutzmittel und deren Gefährlichkeit eine ad-hoc-Kommission einberufen. Sie teilt nun das Ergebnis ihrer Beratungen mit: Zwischen PCP und den öffentlich benannten Gesundheitsproblemen ist kein Zusammenhang erkennbar. Mitglieder in dieser Kommission: 6 Vertreter der Industrie und 2 Arbeitsmediziner. Einer von ihnen ist Prof. Dr. Helmut VALENTIN, der Doyen der bundessdeutschen Arbeitsmedizin in Erlangen (mehr unter Die Erlanger VALENTIN-Schule)


1982

Inzwischen reagiert - nach der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA - auch die EU Kommission. Sie erlässt eine Richtline "über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten". Nach der müssen Unternehmen der Chemischen Industrie künftig die Risiken ihrer Produktion einschätzen und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen treffen. In den nächsten Jahren werden weitere "Seveso"-Richtlinien folgen. 

Doch bevor das Jahr zu Ende geht, hat die Nummer Zwei in der bundesdeutschen Arbeitsmedizin, Prof. Dr. Gerhard LEHNERT in Hamburg, noch ein Gutachten zu schreiben:

Ewald B: Gutachten Nummer 20

Da Gutachten Nummero 19 keine Leberschädigungen festzustellen und internistisch gesehen keine "MdE" auszumachen vermochte, sucht sich die BG Chemie einen weiteren Gutachter aus: den Chef des Hamburger Zentralinstituts für Arbeitsmedizin LEHNERT.

LEHNERT vefasst eine "gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage". Ergebnis: Er müsse der Beurteilung und MdE-Bewertung seines Kollegen SPIEGELBERG in Stuttgart entgegentreten. Die Beschwerden von Ewald B. seien "alters- bzw. gefäßsklerosebedingt. Und eine Polyneuropathie trete nach arbeitsmedizinisch wissenschaftlicher Erkenntnis akut oder chronisch allein während der Schadstoffexposition auf." Und weiter: "Selbst bei gravierenden neurologischen Ausfallerscheinungen komme es nach Beendigung der Exposition im Lauf einiger Monate zu einer kontinuierlichen Besserung der Krankheitserscheinungen" und Punkt!

Die BG Chemie, Bezirksverwaltung Hamburg, leitet diese Stellungnahme an ihre Zentrale in Heidelberg weiter. Mit dem Hinweis, "dass der Bewertung von Prof. Lehnert bereits deswegen nicht gefolgt werden könne, weil der Grundkomplex der Krankheitserscheinungen als Folge der Berufskrankheit anerkannt worden sei und eine wesentliche Besserung der anerkannten BK-Folgen nicht begründet werden könne."

Mit dieser letzten Einschätzung liegt die Hamburger Berufsgenossenschaft auf der Linie, die alle Arbeitsmediziner im Ausland teilen: Eine Polyneuropathie endet nicht automatisch mit der Beendigung der Exposition. Und es ist eher so, dass sich die gesundheitlichen Folgen danach verschlimmern als dass sie sich verbessern. Weltweit hat sich dies als Standard der Erkenntnis durchgesetzt, Nur bei einer arbeitsmedizinischen Schule nicht: der Erlanger VALENTIN-Schule. Dort beharrt man unbeirrt und erkenntnisresistent auf dem, was der Große Meister predigt und allen seinen Schülern mit auf deren Lebens- und Berufsweg mitgibt. 

Wie sich derlei Ignoranz auswirken kann, haben wir im Kapitel "Organisierte Falschdarstellung". Organisierte Wissenschaftskriminalität? dokumentiert. 

Die Bezirksverwaltung der Hamburger Berufsgenossenschaft empfiehlt daher ihrer Zentrale, nicht der Einschätzung von Prof. LEHNERT, sondern den vorangegangenen Gutachten, insbesondere der Beurteilung von Prof. SPIEGELBERG zu folgen.

Ewald B: Gutachten Nr. 21

Die Zentrale der Berufsgenossenschaft in Heidelberg sieht das anders. Sie erteilt einen weiteren Gutachtenauftrag. Und zwar jemanden, den sie für ganz besonders kompetent hält: Prof. Dr. med. Helmut VALENTIN in Erlangen.

VALENTIN verfasst - zusammen mit seinem derzeit wichtigsten Schüler, Dr. Gerhard TRIEBIG - ebenfalls ein "wissenschaftliches Gutachten nach Aktenlage". Ergebnis - kurz gefasst: Allein die lange Latenzzeit von 20 Jahren spreche "gegen die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs". Nur der dermatologische Befund (Chlorakne) sei als Berufskrankheit zu bewerten: mit 10%


Dezember 1982 / Januar 1983

Und wieder ist es der stern, die zum Jahresende 1982 beim Thema Holzschutzmittel alles weiter voranbringt.

Die Illustrierte hatte 1976 mit eindrucksvollen Bildern von chlorakne-geschädigten Kindern das Problem in die Wahrnehmung der Menschen gebracht. Jetzt schreibt die Wissenschaftsjournalistin Evira SPILL, dass sie selbst von dem Problem der Holzschutzmittel, sprich der austretenden Dioxine betroffen ist. Sie wird, was sie noch nicht weiß, 14 Jahre später qualvoll an Krebs sterben. 

Der 7seitige Bericht in einem Magazin mit über 1,6 Millionen verkaufter Exemplare im Wochendurchschnitt  entfaltet eine riesige öffentliche Resonanz - größer als die von 1976:

  • Die Redaktion, aber auch die Holzschutzmittelfirma DESOWAG erhalten Tausende Briefe von Geschädigten. 
  • Gleichzeitig ist dieser  stern -Artikel - eine typische Kombination aus Text sowie großen Fotos, die Wirkung entfalten. Der Artikel wird zum Auslöser, dass sich unmittelbar danach Betroffene erstmals zusammentun und sich kurz darauf auch organisieren.

Die Redaktion erhält rund 100 Zuschriften und Leserbriefe, die sie in der Ausgabe 3 des Neuen Jahres 1983 auszugsweise abdruckt. Darunter auch ein Leserbrief von Monika ZIMMERMANN vom BBU, dem Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz, aus Bonn. Deren Vorschlag: eine Interessensgemeinschaft der Holzschutzmittelgeschädigten zu gründen. Der BBU würde dabei aktiv helfen. 

Dies geschieht tatsächlich. Beim BBU melden sich genauso viele Menschen aus ganz Deutschland. Zu einer ersten Sitzung - nur wenige Wochen nach dem  stern -Artikel und den Leserbriefen - finden sich Ende Februar rund 60 Betroffene in Bonn zusammen. Nochmals später, im Mai, kommt es zur offiziellen Gründung der Notgemeinschaft " IHG - Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten": www.ihgev.de

Wie es beim Thema Holzschutzmittel weitergeht, lässt sich nachlesen unter www.ansTageslicht.de/Holzschutzmittel. Insbesondere in der Chronologie Wie Staatsanwalt SCHÖNDORF einen Umweltprozess gewinnt und gleichzeitig dabei verliert. Dort sind alle relevanten Fakten zusammen getragen


1983

Ho Chi Minh-Stadt/Vietnam:

Hier findet im Januar eine internationale Konferenz über die Sprühaktionen der USA in Vietnam statt. 128 Wissenschaftler aus den USA, Vietnam und vielen anderen Ländern diskutieren und unterzeichnen ein Abschlussdokument, in dem es heißt, dass

"es sich um einen chemischen Krieg mit einem in der Kriegsgeschichte einmaligen, sehr massiven Einsatz von toxischen Stoffen hinsichtlich Raum und Zeit" gehandelt hatte.

Hamburg:

Seit rund vier Jahren tauchen in den Hamburger Medien regelmäßig Berichte auf, nach denen HCH-Rückstände entdeckt werden. 1979 hatte man in der Milch von Kühen im Umland des Boehringer Ingelheim-Werks HCH gefunden. Bei einer stillenden Mutter, die ihre Muttermilch untersuchen ließ, wurde festgestellt, dass der Gehalt an HCH 8 Mal so hoch lag wir der Grenzwert für Trinkmilch.

Boehringer Ingelheim stritt natürlich ab, dass dies aus seiner Fabrik kommen könne. Später stellte sich heraus, dass jeden Tag ca. 10 Kg HCH über den schlecht gefilterten Schornstein entweichen. Ebenso wird bekannt, dass wieder einige Jahre zuvor auf dem Werksgelände rund 3.000 Tonnen HCH ungeschützt gelagert wurden.

Die letzte Zeit geisterten Meldungen in den Medien, nach denen sich chlorierte Kohlenwasserstoffe im Moorfelder Kanal aufspüren ließen. Die Presse für das Boehringer Ingelheim-Werk ist denkbar schlecht, immer mehr Menschen werden vorsichtig.  

Im Mai kommt es zu einem Gespräch im Hamburger Zweigwerk mit Prof. LEHNERT. Thema: die MAK-Werte (Maximale Arbeitsplatz-Konzentration) für HCH bzw. "Lindan". Es kommt danach zu keiner Änderung der Grenzwerte in dieser wichtigen Kommission. Einer der maßgeblichen Mitglieder: Prof. Gerhard LEHNERT

deutschlandweit

erscheinen zwei Publikationen zum Thema PCP / Holzschutzmittel und Dioxin.

Rechtsanwalt Hans-Joachim DOHMEIER, der berufskranke Arbeitnehmer vor den Sozialgerichten vertritt, beschäftigt sich mit Dioxin seit man davon weiß bzw. ahnt. Und geht auch darauf ein, wie und wo sich dieses Supergift in Deutschland und Vietnam finden lässt: "Zum Töten von Fliegen und Menschen" erscheint in der berühmten Reihe "ro-ro-ro aktuell" des Rowolt-Verlags.  

Das Bundesgesundheitsamt, das dem amtierenden Bundesminister für Gesundheit unterstellt ist, der zu dieser Zeit Heiner GEIßLER (CDU) heißt, kommt mit einer Art Aufklärungsbroschüre in Sachen Holzschutzmitteln heraus. Dort heißt es im Kapitel "Gesundheitliche Beschwerden - Was ist zu tun?" auf Seite 16:  

"Bestimmte allgemeine Gesundheitsbeschwerden nicht voreilig mit der Anwendung von Holzschutzmitteln in Verbindung bringen."

In Hamburg

finden sich jetzt Rückstände aus der giftigen HCH-Produktion nicht nur im Umland des Werksgeländes, sondern auch in den Stadtteilen Georgswerder und Wilhelmsburg. Bei den Hamburgern wächst der Unmut


1984

Gleich zu Beginn des Jahres sieht sich Prof. LEHNERT gezwungen, die Bevölkerung zu beruhigen. Konkret: Die Ärzte, bei denen sich - möglicherweise - Menschen mit Beschwerden melden könnten. Dies ist das offizielle Schreiben, das LEHNERT als Leiter des Hamburger Zentralinstituts für Arbeitsmedizin verteilen lässt:

Ab jetzt geht es Schlag auf Schlag:


direkt danach

Die Illustrierte stern legt nach: "Dioxin im Kinderzimmer". Eine Woche zuvor hatte das Politmagazin  Monitor des WDR enthüllt, dass Dioxine und andere Gifte inzwischen bei vielen Betroffenen bereits in der Muttermilch nachweisbar sind. 

Bei der Holzschutzmittelproduzierenden Firma DESOWAG rufen unmittelbar nach dem Erscheinen des stern  rund 1.600 aufgeregte Menschen an. Von den vielen Zuschriften beantwortet DESOWAG insgesamt 569 Briefe.

Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM)

hält ihre 24. Jahrestagung ab. In der DGAUM sind praktisch alle Arbeitsmediziner Mitglied, die etwas werden wollen. Und die dieses Forum als Netzwerk benutzen. Auch die Nummer Zwei der bundesdeutschen Arbeitsmedizin, Prof. LEHNERT referiert: über "Kausalitätsprobleme beim Berufskrebs". Dies ist einer seiner zentralen Sätze:

"Im Kontext weiterer Indizien kommt dabei aber epidemiologischen Untersuchungen eine ausschlaggebende Bedeutung zu – allerdings nur, wenn deren Planung, Durchführung und Interpretation in den Händen dessen liegt, der auch um die Fehlerquellen solcher Studien weiß."

An wen LEHNERT dabei denkt, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber uns denken.

In der Hamburger Bürgerschaft, dem Landesparlament, rumort es. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) wird eingesetzt. Und Akten der Fa. Boehringer Ingelheim werden beschlagnahmt. Jetzt kommt vieles ans Licht, was die Unternehmensleitung bis dahin erfolgreich verheimlicht hatte.

In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein bleibt auch der Bundestag nicht untätig. Dort kommt es im Ausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit zu einer Anhörung. Auch LEHNERT wird vorgeladen. Und gibt dort vor allem Parlamentariern zum Besten, was er ein Jahr später unter dem Titel "Zur Humankanzerogenität von 2,3,7,8-TCDD" veröffentlichen wird. Da wird er - mit seinen bzw. den Methoden der Erlanger VALENTIN-Schule - nachweisen, "daß nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft 2,3,7,8-TCDD nicht als humankanzerogen eingestuft werden kann." 

Inzwischen weiß man in Hansestadt Hamburg mehr über das Geschäftsgebaren der HCH-Fabrik und ihren Verbindungen zu Prof. LEHNERT.

Abgeordnete der Hamburger GALFraktion (heute: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bezeichnen LEHNERT öffentlich als "Experten für Unbedenklichkeit". Das kann der Leiter des Zentralinstituts der Hamburger Arbeitsmedizin natürlich nicht auf sich sitzen lassen und zieht vor Gericht. Er will im Rahmen einer Einstweiligen Verfügung diese Meinungsäußerung verbieten lassen.

Damit läuft er vor dem Hamburger Landgericht auf. Die Richter signalisieren unmissverständlich, aber juristisch zurückhaltend, dass LEHNERT's Praxis und öffentliches Wirken "zu einer Kritik engagierter Gruppen herausfordert und auch nach den Regeln wissenschaftlicher Forschung nicht bedenkenfrei ist, liegt auf der Hand."

LEHNERT gibt sich damit nicht zufrieden, ruft das Oberlandesgericht an. Doch auch dort wird die Äußerung "Experte für Unbedenklichkeit" juristisch 'abgesegnet'. 

Währenddessen blockieren im Sommer Boehringer Ingelheim-Arbeiter die Hamburger Lindanfabrik:

Nachdem der Hamburger Senat, bei dem LEHNERT nun keine Glaubwürdigkeit mehr besitzt, den Toxikologen Prof. Samuel EPSTEIN aus den USA hat einfliegen lassen, der klipp und klar erklärt, was die gemessenen Werte in und um das Boehringer Ingelheim-Werk bedeuten, wird das Werk geschlossen.

Und jetzt getraut sich auch der inzwischen pensionierte Professor Wilhelm SANDERMANN aus der Deckung. Er hatte 28 Jahre zuvor, 1956, mit der Synthese von Chlorkohlenwasserstoffen experimentiert und war selbst an den giftigen Ausdünstungen eines Kristalls, das er sich auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, erkrankt. Konnte aber das Problem ausfindig machen und durfte nichts darüber publizieren, weil es ihm sein oberster Arbeitgeber, der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Heinrich LÜBKE (CDU), verboten hatte. Jetzt erscheint sein Aufsatz: "Dioxin - die Entdeckungsgeschichte des 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxins (TCDD, Dioxin, Sevesogift)" in der Naturwissenschaftlichen Rundschau.

Währenddessen kann bei Ewald B. kein umfassendes Gutachten der Nummero 22 mehr gemacht werden: Ewald B. stirbt in diesem Jahr. Zum Schluss quälte ihn ein Speiseröhrenkrebs. Er wurde 68 Jahre alt und sein Leben nach der Erkrankung, die er ganze 30 Jahre lang aushalten musste, war von wenig Freude geprägt.

Seine Witwe allerdings gibt nicht auf. Sie klagt vor dem Sozialgericht Hamburg erneut. Und nimmt sich dazu einen engagierten Rechtsanwalt: Hans-Joachim DOHMEIER, der ein Jahr zuvor das Dioxin-Buch geschrieben hatte. 

DOHMEIER weiß worauf es ankommt. Er hat schon mehrfach Gutachten renommierter Arbeitsmediziner vor Gericht 'auseinandergenommen': Indem er sämtliche Quellen und die ganze Literatur, die Arbeitsmediziner üblicherweise ins Feld führen, aber meistens nicht wirklich gelesen haben und/oder diese Quellen bewusst verfälschen, selbst studiert und deren Ergebnisse mit dem abgleicht, was die bundesdeutschen Arbeitsmediziner, insbesondere jene der Erlanger VALENTIN-Schule, in ihren Gutachten dann zum Besten geben. Wir haben solche Fälle dokumentiert. Zum Beispiel unter "Organisierte Falschdarstellung". Organisierte Wissenschaftskriminalität? oder 1 Gutachter - 2 Meinungen: Prof. Dr. med. Stephan LETZEL .

Die Sozialrichter müssen sich mit DOHMEIER's Argumenten auseinandersetzen. Und werden am 4. April 1989, also fünf Jahre später, ihr Urteil fällen. Das fällt für die beiden 'großen' Arbeitsmediziner wenig schmeichelhaft aus:

"Inhaltlich ist die Annahme von Prof. Dr. Lehnert und Prof. Dr. Valentin, die psychopathologischen Krankheitserscheinungen (von Ewald B, Anm. d. R.) seien im wesentlichen als Zeichen fortgeschrittenen Lebensalters oder aber als Symptome einer allgemeinen Gefäßsklerose und somit als schicksalsmäßige (Hervorhebung d.d.R.) Leiden anzusehen, nicht tragfähig".

So zu lesen auf S. 39 der Urteilbegründung, die wir hier als PDF online stellen (SG Hamburg, Az: 26 U 245 / 84)


1985

Prof. Dr. LEHNERT und sein Kollege Prof. Dr. SZADKOWSKI, der längere Zeit Oberarzt an einer Klinik der Berufsgenossenschaft in Bad Reichenhall war, dann nach Erlangen gegangen war und mit LEHNERT zusammen nach Hamburg kam, stellen im Branchenjournal "Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Umweltmedizin (ASU)" ihre neueste Veröffentlichung vor: "Zur Humankanzerogenität von 2,3,7,8-TCDD". Untertitel: "Unfallversicherungsrechtliche Beurteilung".

Hintergrund: Die BG Chemie, die 1953 für die Folgen einer Explosion eines mit Chlorphenol gefüllten Autoklaven bei der BASF aufkommen muss(te), möchte ein neuerliches Gutachten. 

LEHNERT und sein Co. liefern. Und machen aus der Beurteilung eine Art Standardanleitung für andere Gutachter: Wie man - natürlich wissenschaftlich begründet - Kausalzusammenhänge in Frage stellen kann. Und auf die konkrete Fragestellung des BASF-Desasters und die vielen Krebsfälle bezogen, lautet das Ergebnis am Ende: 

"Mithin kann auch aus unfallversicherungsrechtlicher Sicht eine generelle Einstufung von 2,3,7,8-TCDD als Berufskanzerogen gegenwärtig wissenschaftlich nicht begründet werden."

Kaum veröffentlicht (ASU bzw. damals noch ASP, Heft 10 im Jahr 1985, S. 225-232) prasselt massive Kritik auf diese LEHNERT'sche Darstellung nieder. Der erste, der sich meldet, ist Prof. BERGER, in dessen Abteilung die statistischen Daten erhoben wurden. BERGER zu LEHNERT: Er habe diese Zahlen falsch berechnet - sie entsprächen nicht den in seiner Abteilung berechneten Werten.

Kritik auch von Dr. med. F. ROHLEDER, der seine epidemiologische Arbeitsmedizinausbildung in den USA absolviert hatte. Er hält dem Hamburger Duo LEHNERT-SZADKOWSKI ebenfalls falsche Berechnungen und methodische Fehlinterpretationen vor. Auch Dr. med. Rainer FRENTZEL-BEYME vom Deutschen Krebsforschungszentrum meldet sich zu Wort. Seine Kritik zielt in die gleiche Richtung. Diese beiden "Leserbriefe" werden etwas später in dem Branchenjournal abgedruckt. 

Die gründlichste Auseinandersetzung führt ein Nicht-Wissenschaftler: Rechtsanwalt Hans-Joachim DOHMEIER aus Ludwigshafen. Er nimmt nicht nur die Studie und deren Methodik nach Strich und Faden auseinander. Er klärt vor allem die Quellen ab. Dies hat er inzwischen bei mehreren Prozessen vor den Sozialgerichten gelernt: Steht auf der juristischen Gegenseite, also auf Seite der Gesetzlichen Unfallversicherung oder deren Berufsgenossenschaften als Gutachter der Erlanger VALENTIN-Schule, so ist die Wahrscheinlich hoch, dass schon allein die in den Gutachten zitierten Quellen nicht stimmig sind - entweder gibt es sie garnicht oder sie werden verfälschend wiedergegeben.

DOHMEIER macht sich also an die mühevolle Arbeit. Und stellt schnell fest, dass diese Arbeit "nur noch als Anleitung für die Abgabe von Falschgutachten ernstgenommen werden kann."

Das sind seine Vorhaltungen, die er am Ende unter dem Gliederungspunkt "10 - So karzinogen ist 2,3,7,8-TCDD" zusammenfasst:

"Um zum Schluss zu kommen, 2,3,7,8-TCDD sei beim Menschen nicht karzinogen, mussten die Professoren Dres. Lehnert und Szadkowski Quellen nennen, die es nicht gibt. Aber das hat nicht ausgereicht.

Sie mußten darüberhinaus andere Quellen fälschen.

Aber auch das hat nicht genügt.

Sie mussten nicht nur Quellen nennen, die es nicht gibt und andere Quellen fälschen, sie mußten zudem Ausgangsdaten nehmen, die nicht glaubhaft sind.

Selbst das war nicht genug.

Sie mußten zudem falsche Berechnungen anstellen

Nicht vorhandene und gefälschte Quellen, nicht glaubhafte Ausgangsdaten und falsche Berechnungen reichten nicht hin, um 2,3,7,8-TCDD für beim Menschen als nicht karzinogen zu erklären.

Es bedurfte zusätzlich der Anwendung unzulässiger epidemiologischer-statistischer Methoden.

Erst dann konnte das Vorhaben, 2,3,7,8-TCDD für nicht karzinogen zu erklären, gelingen."

Hier sind die Vorhalte von Hans-Joachim DOHMEIER nachzulesen: "Die Falschgutachten der Professoren G. Lehnert und D. Szadkowski"


1985/1986

Während das Duo LEHNERT-SZADKOWSKI vor aller Welt bezweifeln, dass das Dioxin-Gift "humankanzerogen", also krebserregend sei, muss das gesamte und inzwischen geschlossene Werksgelände vollständig grundsaniert werden. Untersuchungen hatten ergeben, dass auch der Boden durch chlororganische Verbindungen wie Chlorbenzole, Chlorphenole, HCH sowie chlorierte Dibenzodioxine und -furane belastet war. Außerdem fanden sich Schadstoffe im Grundwasser. 

Boehringer Ingelheim gründete, nachdem die Hamburger Betriebsstätte stillgelegt war, eine Tochterfirma, die die Sanierung vornahm. Bis zum Jahr 2017 musste das Unternehmen über 165 Millionen Euro dafür ausgeben. Und bis heute, 2018, gibt es in Hamburg eine Beratungsstelle für ehemalige Boehringer-Ingelheim-Mitarbeiter, die ebenfalls von dem Unternehmen finanziert wird


April 1986

Und wieder tagt die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin in Hamburg. Für diese Jahrestagung hat die GAL-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft (Hamburger Landesparlament) eine Broschüre zusammengestellt: "Arbeitsmedizin. In Sachen Professor Gerhard Lehnert. Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Falschgutachten und industriefreundliche Wissenschaft."

Und im Untertitel: "Eine Dokumentation über die Tätigkeit des einflußreichsten deutschen Arbeitsmediziners anläßlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin vom 7.4.  bis 10.4.1986 in Hamburg". 

Hintergrund: Auf dieser Jahrestagung soll Prof. Dr. Gerhard LEHNERT, den man zu diesem Zeitpunkt gerichtlich abgesegnet einen "Experten für Unbedenklichkeit" nennen darf, zum zweiten Male zum Präsidenten dieser erlauchten Berufsvereinigung gewählt werden.

Und so geschieht es auch. Mit dem Selbstverständnis und den ethischen Vorstellungen der Mehrheit des Mainstreams aller Arbeitsmediziner ist das alles vereinbar. Fast 10 Jahre lang wird LEHNERT dieses Amt bekleiden. Und damit repräsentieren, wie der Mainstream dieser Branche "Arbeitsmedizin" denkt.

Vieles weiß man über LEHNERT zu diesem Zeitpunkt noch nicht ...


Und so geht es weiter

1989 - kurz vor dem Mauerfall - bringt der seit 1987 amtierende Bundesumweltminister Klaus TÖPFER (CDU) eine PCP-Verbotsverordnung auf den Weg - PCP darf in Deutschland nicht mehr produziert und vermarktet werden. 1992 lässt TÖPFER eine Verordnung für Dioxin folgen. Es ist das Jahr, in dem auch der Frankfurter Holzschutzmittelprozess beginnt.

Und in diesem Jahr ist Prof. LEHNERT wieder in Erlangen angekommen. Er übernimmt dort den Lehrstuhl seines Vorgängers und großen Lehrmeisters, Helmut VALENTIN. Im selben Jahr gibt er ein Interview in der Ärztezeitung: Er habe sich jetzt seit 10 Jahren auch mit dem Thema Passivrauchen wissenschaftlich beschäftigt. Ob dies gesundheitsgefährdend sei, könne man nur vermuten. Jedenfalls kann ein Zusammenhang nicht "als wissenschaftlich erwiesen" gelten.

1994 lässt der Frankfurter Staatsanwalt Erich SCHÖNDORF, der den Holzschutzmittelprozess in mühevoller und langjähriger Arbeit auf den Weg gebracht hat, die Konzernzentrale der BAYER AG in Leverkusen durchsuchen. BAYER ist die Mutterfirma der DESOWAG, die die Holzschutzmittel "Xyladecor" und "Xylamon" produziert und verkauft hatte, obwohl die Manager von der Giftigkeit wussten. 

Jetzt stehen die vor Gericht. Und die beiden Unternehmen DESOWAG und BAYER fahren ihre Gutachter auf, die regelmäßig Kausalitätszusammenhänge bestreiten. Auch LEHNERT ist darunter. Als "Experte für Unbedenklichkeit" kann er natürlich keine wissenschaftlich belastbaren Kausalitäten zwischen den fraglichen Produkten, den dabei ausdünstenden Dioxingasen und gesundheitlichen Problemen sehen. Und so sagt er auch als Gutachter vor dem Frankfurter Landgericht aus - ganz im Sinne der beiden angeklagten Unternehmensmanager.

Bei der Durchsuchung der BAYER-Zentrale macht Staatsanwalt SCHÖNDORF eine interessante Entdeckung. Er findet einen Beratervertrag: zwischen der BAYER AG und Prof. Dr. med. Gerhard LEHNERT.

1996 endet der Holzschutzmittelprozess, nachdem der Bundesgerichtshof das Verfahren wieder an das Landgericht Frankfurt/Main zurückverwiesen hat. Nach über 12 Jahren staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen stellt die Kammer das Verfahren gegen die beiden Holzschutzmittel-Manager gegen Geldauflagen ein. 

Im selben Jahr wird LEHNERT u.a. ein Gutachten in Sachen Peter RÖDER anfertigen. Auch hier kann der VALENTIN-Nachfolger keinerlei Kausalzusammenhänge erkennen. Er hält ihn für einen Simulanten. Mehr dazu unter "Organisierte Falschdarstellung" Organisierte Wissenschaftskriminalität? 

1999 veröffentlicht der ehemalige Frankfurter Staatsanwalt Erich SCHÖNDORF, der zwei Jahre zuvor frustriert seinen Job an den Nagel gehängt hatte und seitdem Studenten in den Fächer Umweltrecht unterrichtet, ein Essay im SPIEGEL "Die Lügen der Experten" und spricht von "Wissenschaftskriminalität" (Anklicken öffnet den Text): 


(JL u.M.v. ChrB)

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Krank durch Arbeit.

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