Die Berichte des Westfälischen Anzeigers, 29.03.2017

von Frank LAHME

Ein Martyrium mit Folgen

Nach Angriff auf Hammer Polizist ändert NRW-Regierung das Landesbeamtengesetz

HAMM - 4. September 2010. Oberkommissar Markus Klischat aus Hamm wird während des Dienstes auf der Hauptwache von einem psychisch kranken Mann mit einer Pistole angegriffen und schwer verletzt. Jahrelang kämpft der heute 54-Jährige mit der Justiz und seinem Dienstherren um eine Anerkennung des Geschehenen als Dienstunfall. Auf eine Entschädigung wartet er bis heute.
Sechsmal feuert der Angreifer an jenem Tag mit seiner Waffe aus nächster Nähe auf den Kopf des Polizisten. Der unter Verfolgungswahn leidende Mann will ein Fernsehteam auf der Wache sehen, um über die Zustände bei seinem Arbeitgeber aufzuklären. Zwar handelt es sich lediglich um eine Gaspistole, doch aus kurzer Distanz können auch die Schüsse damit tödlich sein. Klischat überlebt das 40-minütige Martyrium.

Als der Täter, der später behaupten wird, er habe Klischats Dienstpistole ergattern wollen, um sich damit zu erschießen, schließlich aufgibt und im Präsidium festgenommen wird, ist der Kommissar von den Übergriffen schwer gezeichnet: Zwei Schusstreffer am Kopf, diverse Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung, multiple Hämatome und ein zerfetztes Trommelfell listen die Ärzte in ihrem Protokoll.
 Zwar heilen die Wunden relativ rasch, doch Markus Klischat wird nie wieder seinem Beruf nachgehen können. Bis heute hat er die psychischen Folgen der Attacke nicht verarbeitet, hat große Schwierigkeiten damit, sich unter Menschen zu begeben und sich auf banale Dinge zu konzentrieren. Posttraumatische Belastungsstörungen nennt die Medizin dieses Phänomen.
Ein Schmerzensgeldanspruch von 75.000 Euro wird für ihn errechnet. Doch der Täter muss diese Summe nicht bezahlen, da er nach Auffassung des Landgerichts Dortmund zum Tatzeitpunkt geistig verwirrt und damit schuldunfähig war. Das Oberlandesgericht Hamm bestätigt diese Sicht im Herbst 2014.

Auch die Frage nach der Höhe seiner Pension entwickelt sich zur Zitterpartie. Fünf Jahre quält sich Klischat von Gutachter zu Gutachter und ringt mit seinem Dienstherrn, ehe das Verwaltungsgericht Arnsberg im April 2015 den Übergriff auf der Wache als qualifizierten Dienstunfall anerkennt und im Sinne des 54-Jährigen entscheidet. Seine private Unfallversicherung weigert sich bis heute, für das Ereignis aufzukommen. Der Fall liegt nun vor dem OLG Hamm zur Entscheidung an.
Im Spätsommer 2015 entschließt sich Klischat dazu, mit unserer Zeitung über seinen Fall zu sprechen. Er will erreichen, dass es Polizeikollegen, die in Zukunft Opfer von Gewalt werden, besser ergeht als ihm. Er plädiert für einen fairen Umgang durch die Vorgesetzten und einen ebensolchen Verfahrensablauf.

Klischat löst damit eine bemerkenswerte Welle aus. Der Bericht über sein tragisches Schicksal hängt in den Polizeiwachen in NRW am Schwarzen Brett und verbreitet sich im Internet wie ein Lauffeuer. Fünf weitere Polizisten, denen Ähnliches widerfahren ist, melden sich in der Redaktion. Sie alle sind während ihres Dienstes schwer verletzt worden, und alle fühlen sich seitdem vom Staat im Stich gelassen. Meistens waren die Täter schuldunfähig. Karriere-Aus und keine Lobby: Auch in ihren Fällen war das so.
Neufassung noch einmal überarbeitet
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft reagiert im November 2016 auf die auch von der Gewerkschaft der Polizei und dem Beamtenbund erhobene Forderung, dass sich der Staat nach gewaltsamen Übergriffen auf seine Beamten nicht aus der Verantwortung stehlen dürfe. Allerdings hat sie zunächst nur eine Übernahme der Schmerzensgeldzahlungen in den Fällen vor Augen, in denen ein vorsätzlich handelnder Täter mittellos ist.
Unsere neuerliche Berichterstattung über Markus Klischat und dessen Leidensgenossen führt zur Wende in der Angelegenheit. Auch der aus Hamm stammende stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Marc Herter erkennt daraufhin, dass die geplante Neufassung des Landesbeamtengesetzes zu kurz ausfallen dürfte. Über Wochen beschäftigen sich in der Folge Juristen im Innen- und Finanzministerium mit der Frage, wie eine umfassende Regelung ausfallen könnte. Es soll keinen Unterschied machen, ob der Täter, der einem Beamten körperliches Leid zufügt, dies mit Absicht tat und bei vollem Verstand handelte oder nicht.

Gestern Mittag folgte der endgültige Durchbruch. Die Fraktionen von SPD und Grünen votierten einstimmig für einen auch von der Landesregierung gestützten Änderungsentwurf des § 82a des Landesbeamtengesetzes, in dem nun festgeschrieben ist, dass das Land künftig auch in die Bresche springt, wenn ein mittelloser Täter fahrlässig handelte oder schuldunfähig war. Für letztere Konstellation soll eine Ombudsstelle eingerichtet werden. Voraussichtlich soll diese mit einem altgedienten Richter besetzt werden.
Eine derart weitreichende Regelung ist bislang einzigartig in Deutschland. „Ohne den Fall Klischat wäre es nicht dazu gekommen“, räumte Marc Herter im Nachgang zur von ihm geleiteten SPD-Fraktionssitzung ein. „Es war ein hartes Stück Arbeit, aber ich bin froh, dass es gelungen ist, mit allen beteiligten Ministerien eben diese Lösung zu erreichen.“ Es gilt als sicher, dass das neue Gesetz am kommenden Mittwoch, 5. April, beschlossen wird.

Markus Klischat wird von der neuen Regelung nicht mehr profitieren. Sie ist allein auf zukünftige Fälle ausgerichtet. „Das ist natürlich schon etwas schade“, sagte der 54-jährige Ex-Beamte, nachdem er gestern von der Entscheidung erfahren hatte. „Aber immerhin ist nicht alles umsonst gewesen. Wenn es Kollegen künftig besser ergeht, dann will ich auch damit zufrieden sein."