Die einzelnen Artikel des SZ-Spezials "Die Waffenrepublik", 30.06.2012

Günter Lamprecht über Angst

 

SZ: Herr Lamprecht, wie viele Menschen sind vergangene Nacht im Fernsehen gestorben?

Günter Lamprecht: Ich zähle das nicht mehr. Ich habe das nur nach dem Amoklauf gemacht.


Als Sie und Ihre Lebensgefährtin 1999 in Bad Reichenhall angeschossen wurden.
Das war ein 16-jähriger Junge, der gezielt von seinem Haus aus auf Menschen schoss und sich schließlich selbst tötete. Meine Lebensgefährtin Claudia Amm und ich wurden damals schwer verletzt. Fünf Menschen starben.

Der Einzige, der Ihnen half, war der Sanitäter Rudi Lorenz. Er zog Sie aus der Gefahrenzone.
Ja. Ein mutiger Mensch. 50 Minuten lagen wir unter Beschuss, und die Polizisten versteckten sich hinter Sträuchern und Bäumen und haben nicht zurückgeschossen. Claudia lag neben mir, und ich sah, wie ihr das Blut aus dem Körper schoss. Sie hatte einen Rumpfwanddurchschuss erhalten und die Nervenstränge im Arm waren zerstört. Ich konnte nicht zu ihr hin, wäre ich aufgestanden, hätte ich einen Kopfschuss bekommen.

Sie lag dann tagelang im Koma.
Ich war im selben Krankenhaus und konnte vor Schmerzen nicht schlafen. Daheim bin ich ruhelos durchs Haus gewandert, dann habe ich irgendwann den Fernseher eingeschaltet. Die ganze Nacht habe ich gezappt, überall wurde geschossen und gemordet. Ich zählte mit. Einmal hatte ich 46 Leichen in einer Nacht.
Wie so etwas auf einen jungen Menschen wirkt, mag man sich kaum vorstellen.
Es trägt zumindest zur Verrohung bei. Was da gezeigt wird, ist unglaublich brutal. Der Junge, der auf uns geschossen hat, konnte perfekt mit Waffen umgehen. Er hat bei seinem Amoklauf einen Mann auf 20 Meter Entfernung genau in die Stirn getroffen. Das Schießen hatte er bei seinem Vater im Schützenverein gelernt, die Gewehre gehörten auch seinem Vater.

Das klingt, als würden Sie Waffen am liebsten ganz verbieten.
Damals habe ich mit Gerhard Schröder und Otto Schily geredet. Die waren zwar sehr betroffen. Na ja, und dann wurde eben die Altersfreigabe für gewisse Computerspiele etwas angehoben. Aber sonst? Ja, am liebsten würde ich alle Waffen verbieten. Aber die sind ja schon für Kinder normal: Die haben Plastikpistolen und spielen nach, was sie im Fernsehen zu sehen bekommen. Wenn ich dieses Zeug bei Kindern von Freunden oder anderswo sehe, nehme ich es ihnen weg und lasse es schnell verschwinden.

Hat das mal was gebracht?
Einmal habe ich gespielt, dass ich sterbe. Bin umgefallen und habe mich nicht mehr gerührt. Die Gören wurden erst still, dann haben sie nach Mama gerufen und sind weggerannt.

Gewalt und Mord darf man also darstellen, wenn es einen pädagogischen Effekt hat?
Das muss authentisch rüberkommen. Wenn Sie ernsthaft von einem Triebmörder oder einem Gangster im Film erzählen wollen, dann brauchen Sie auch die Waffe. Aber damit darf nicht kokettiert werden. Dann wird daraus so eine Actionsache, die sich verselbständigt.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen kokett und notwendig?
Es kommt darauf an, wie der Schauspieler mit der Waffe umgeht oder der Regisseur es inszeniert. Die tragen doch auch eine Mitverantwortung. Wenn die Leute sich dabei geil oder cool finden, um mal dieses fürchterliche Neudeutsch zu gebrauchen. Wenn ich so etwas Kokettes sehe, wird mir schlecht. Waffen und Gewalt richten Elend an, und das soll man auch zeigen.

Aber eine Darstellung wird einen nie so beeindrucken wie eine eigene Erfahrung.
Wenn die Erfahrung dazukommt, wird die Darstellung authentisch. Wenn ich meine Lesungen halte und meine Biografien – die auch vom Krieg erzählen – vortrage, dann sind die Menschen tief betroffen. Weil ich diese Bilder in mir trage. Wenn man das Erlebnis im Bauch hat und es mit einbringt, dann bin ich sicher, dass es richtig ankommt und vielleicht auch den pädagogischen Effekt erzielt, nach dem Sie gefragt haben.

Als Berliner ,Tatort‘-Kommissar Franz Markowitz hätten Sie Ihre Waffe am liebsten immer auf dem Revier vergessen.
Ja. Ich wollte einen Tatort ohne viel Action, ein Gegenstück zu Schimanski. Einen Kommissar, der die Waffe nicht braucht. Einmal habe ich eine Szene eingebaut, in der ich wirklich in Gefahr bin, in die Jacke greife und die Waffe nicht dabei habe und den Kollegen bitte, mir mit seiner Knarre auszuhelfen. Solche Szenen waren mir wichtig. Mein Markowitz sollte ein Maigret von Neukölln sein.

Dieser Roman-Detektiv aus den Zwanzigern, mit Mantel und Pfeife? So einer sollte ins moderne Fernsehen passen?
Das war schon ungewöhnlich. Aber ich habe an ihn geglaubt und nachher auch noch zwei Markowitz-Theaterstücke mitgestaltet. Eines haben wir auch damals in Bad Reichenhall aufgeführt. Da nehme ich auf der Bühne den Leuten die Waffen weg. Als ich am Morgen danach angeschossen wurde, dachten manche, jemand hätte es auf mich, den ewigen Waffengegner, abgesehen.

Mit Markowitz liefen zwischen 1991 und 1995 gerade einmal acht Tatort-Folgen. Ist das Fernsehen nicht der richtige Ort für Pazifismus?
Meine Einschaltquoten waren nicht schlechter als die anderer Tatorte, oft sogar besser. Aber mit dem Sender und der Redaktion gab es jedes Mal große Diskussionen. Die wollten Hubschrauber und riesige Einsätze, und ich wollte für das Geld lieber einen Drehtag mehr.

Der Sender wollte sein Publikum unterhalten.
Ja, aber mit Mord und Totschlag. Zum Abendbrot eine Leiche oder manchmal gleich drei oder vier. Da werde ich sauer. Man spielt heute mit dem Tod nur so herum. Wir nehmen das nicht mehr ernst, wenn da einer stirbt.

Schauen Sie noch Krimis wie den Tatort?
Nein. Das ist oft so lächerlich, was da passiert. Die jungen Kolleginnen, die in knallengen Jeans und mit dem Ballermann herumlaufen und ermitteln. Da muss ich immer lachen, das ist so weit weg von der Wirklichkeit. Das ist alles nicht so schön auf einem Revier, da arbeiten viele Männer und Frauen und leisten Schwerstarbeit.

Was wäre näher an der Wirklichkeit?
Ich wollte neulich einen Film machen, in dem es um zwei Rentner ging, einen Türken und einen Deutschen, die zusammen ein Reisebüro aufmachen. Der Türke kriegt Alzheimer, und der andere kümmert sich um ihn. Eine wunderbar menschliche Geschichte. Wollte aber keiner produzieren.

Was ist aus dem Plan geworden, Ihre Erlebnisse von dem Amoklauf zu verfilmen?
Der Bayerische Rundfunk hatte Interesse, wir hatten einen Produzenten und einen Drehbuchschreiber. Aber das Thema umzusetzen, ist sehr schwer, und ich hatte auch den Eindruck, dass es nicht gerade willkommen war. Auch der Bürgermeister von Bad Reichenhall meldete Bedenken an. Es hieß, man könne das so nicht zeigen. Ich war unglücklich damals, dass sich keiner traute, mal auf den Putz zu hauen mit der ganzen Geschichte.

Hatten Sie keine Angst davor, dadurch alles noch einmal zu durchleben?
Ich wollte das auf keinen Fall selber spielen und auch nicht in Bad Reichenhall drehen lassen. Ich habe auch das Theaterstück, das ich angefangen hatte zu schreiben, nicht beendet. Meine Therapeutin sagte: ,Lassen Sie die Finger davon, Sie schlafen sowieso schon nicht mehr.‘ Ich träume ja immer noch, dass ich hingerichtet werde.

Sie bekamen nach dem Amoklauf immer wieder Rollen angeboten, in denen Sie erschossen werden. Eine haben Sie angenommen.
Ich habe ,Epsteins Nacht‘ gedreht, mit Mario Adorf und Bruno Ganz. Am Ende des Films werde ich erschossen. Und meine Angst wurde immer größer, ich konnte nicht mehr schlafen. Als der entscheidende Tag kam, habe ich dem Produktionsleiter gesagt: ,Ich kann das nicht. Kauft einen Stuntman, zieht ihm meine Klamotten an, schießt ihn ab. Notfalls zahle ich den selbst.‘

Sind Sie deshalb kaum noch in Filmen zu sehen?
Nun bin ich ja schon 82 Jahre alt. Aber ich gebe zu, ich bin auch wählerisch. Viele Drehbücher gefallen mir nicht. Das sind keine sauberen, keine guten Geschichten. Aber ich stehe noch ab und an auf der Bühne, mache Lesungen, auch zu Gunsten des Friedensdorfes, für das ich Botschafter bin.

Was passiert in einem Friedensdorf?
Wir kümmern uns um Kinder, die im Krieg verletzt wurden. Die kommen an, notdürftig verbunden, oft mit offenen Wunden. Haben Ärmchen, Beinchen, Händchen durch Minen verloren. In Spezialkliniken werden sie operiert und versorgt, dann bleiben sie fünf, sechs Wochen zur Reha im Friedensdorf in Oberhausen. Wenn ich die Kinder sehe, wie die Fußball spielen mit einem Holzbein und wieder frei werden von ihren traumatischen Erlebnissen – das gibt mir Hoffnung.

Ist das Ihre Art, den Amoklauf zu verarbeiten?
Nein, das Engagement fürs Friedensdorf hat mit meiner Kindheit zu tun. Als 15-Jähriger habe ich in den letzten Kriegswochen jeden Tag 25 Menschen beerdigt; ich war bei den Sanitätern eingeteilt. Viele sind uns weggestorben, ganz elend. Nach dem Krieg stand ich mit meiner Mutter und meiner Schwester in diesem Trümmerhaufen Berlin. Die Wohnung weg, alles weg. Wir fanden einen Platz, an dem wir übernachten wollten. Russische Soldaten überfielen uns und bedrängten meine Mutter und meine Schwester brutal. Mir hielten sie die Pistole an den Kopf, weil ich immer gebrüllt habe.

Zehn Jahre später haben Sie gegen die Wiederbewaffnung demonstriert – mit Klaus Kinski.
Das war, als die Bundeswehr gegründet wurde. Da waren wir naiv. Wir dachten nur, jetzt geht das wieder los, mit den Uniformen und den Gewehren. Ich habe Angst bekommen. Zusammen mit noch einigen jungen Leuten von der Schauspielschule und von der Uni liefen wir in Berlin über den Ku’damm und hatten Pappschilder um den Hals: Nie wieder Krieg, nie wieder Militarismus. Die Leute haben uns ausgelacht.

Wer hat Sie ausgelacht?
Die Älteren, die es selber durchgemacht hatten. Ich habe viele Menschen sterben sehen, durch Waffen und diesen idiotischen, sinnlosen Krieg, und darum bin ich so ein überzeugter Pazifist.

Gehen Sie immer noch zu Friedensdemos?
Klar. Ich ärgere mich, dass ich die Märsche an Ostern und am 1. Mai verpasst habe. Mein Knie hat gestreikt!

Wie würden Sie sich denn eine friedliche Welt, eine Welt ohne Waffen vorstellen?
Auweia. Das ist unvorstellbar. Ich glaube, das gibt es nicht.

Wer für den Weltfrieden demonstriert, der muss doch Phantasie haben!
Ich fänd’ das wunderschön. Wenn ich durch die Wiesen laufen könnte und ich wüsste, da tut mir keiner was. Es herrscht Frieden überall auf der Welt. Ich habe mir einen Fisch gefangen, kann den nach Hause bringen, den klaut mir keiner mehr. Ich hätte da genügend wunderbare Bilder. Und dann würden wir alle ein schönes Lied singen, tanzen und zusammen kochen und den Weltfrieden feiern. Aber: Der Mensch, der kann das nicht, der Mensch ist schlecht.



Günter Lamprechtwurde am 21. Januar 1930 in Berlin geboren. Seine Mutter arbeitete als Portiersfrau, sein Vater war Taxifahrer. Nach einer Lehre zum Orthopädiemechaniker begann Lamprecht mit 23 Jahren seine Schauspielausbildung bei Else Bongers, später lernte er an der Max-Reinhardt-Schule in Berlin. Sein erstes Engagement bekam er 1955 am Schauspielhaus Bochum. Anfang der 70er Jahre lernte er Rainer Werner Fassbinder kennen, dieser gab ihm 1979 die Rolle des Franz Biberkopf in seiner 14-teiligen Verfilmung von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“. Lamprecht bekam dafür den Deutschen Darstellerpreis. Zweimal erhielt er die Goldene Kamera, er trägt außerdem das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Derzeit bereitet er sich auf Dreharbeiten in Mexiko für einen Kinofilm vor. Günter Lamprecht lebt in Bornheim bei Bonn.