Über und unter der Erde: der visionäre Plan einer schnellen Eisenbahn durchs Ruhrgebiet. Und warum er scheiterte.
Die Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Städtebahn
Eine Rekonstruktion von Dietmar SEHER (DS), ergänzt von Johannes LUDWIG (JL)
Es ist ein Stück Deutschland, in dem mehr Menschen wohnen als in Berlin, Hamburg und München zusammen. Von zahllosen Autobahnen und Schnellstraßen durchschnitten sind hier täglich Millionen Fahrzeuge unterwegs. Das Straßenbild wird zudem von Straßenbahnlinien unterschiedlichster kommunaler Unternehmer geprägt. Aber weil die Verantwortlichkeiten vielfältig sind und - absurder natürlich - sogar die Spurweiten, können sie nur bis an die jeweiligen Stadtgrenzen rollen. Die Stadtlandschaft an Rhein und Ruhr, zwischen Dortmund im Osten und den Rheinstädten Duisburg, Düsseldorf und Köln im Westen, ist eng verwoben. Nur verkehrstechnisch wird es eben kompliziert. Wie das möglich ist? Wer da versagt hat? Wir haben es mit einem wirtschaftspolitischen Realkrimi zu tun. Seine Fährte führt in die 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts. Und seine Taten verjähren einfach nicht, denn ihre Folgen spüren die Menschen heute noch. Jeden Tag. Jede Stunde. Dann, wenn sie unterwegs sind.
Stau auf der Schiene: Vorfahrt für die ICE
Der Dortmunder Hauptbahnhof an einem Dienstag im Herbst. Die erste Rushhour des Tages. Der Fahrplan ist mal wieder Makulatur. Der ICE 618 nach Hamburg und Kiel hat 55 Minuten Verspätung. Grund dafür: „Die Reparatur einer Weiche“, sagt der Lautsprecher. Auch der Regionalexpress RE 1 auf dem Nachbargleis ist mit 70 Minuten in Verzug. Das Besondere: Die eine Verspätung hat mit der anderen zu tun. Das Kernproblem: Im dicht bevölkerten Ruhrgebiet muss der RE die Vorbeifahrt des ICE abwarten.
Fernzug geht vor Regionalzug, und für den Regional- und Fernverkehr stehen hier insgesamt nur vier Gleise zur Verfügung, denn die Wohnbebauung reicht oft bis an die Bahndämme. Im Revier ist zu eng - eine Stadt reiht sich nahtlos an die nächste:
Der bevölkerungsreichste Ballungsraum Deutschlands zwischen Duisburg und Dortmund mit sieben Millionen Einwohnern steckt Tag für Tag im Schienen-Stau. Weil ein sehr großer Teil der deutschen Fernzüge zwischen Alpen und See durch dieses Nadelöhr geleitet werden muss, finden wir in den Verspätungen, die hier eingefahren werden, eine der Ursachen für das bundesweite Bahn-Debakel, über das sich schon das Ausland lustig macht. Die Schweiz hat mittlerweile, in Sorge um die sehr hohe Pünktlichkeitsquote im eigenen Netz, deutschen ICE die Weiterfahrt im Bahnhof Basel SBB verboten. Sie will sich nicht den Fahrplan versauen lassen. Nur der ICE 73, der in Berlin startet, darf nach Zürich. Aber keinen Meter weiter.
Verpasste Chance
Das alles hätte nicht sein müssen. Denn vor jetzt 100 Jahren wurde eine zukunftsträchtige Idee geboren. Mit ihr hätte man die räumliche Enge an Rhein und Ruhr umgehen können. Dann aber, bleiben wir im Bild, ist eine entscheidende Weiche falsch gestellt worden. Engstirnige Bergbau-Bosse und Bürokraten in den Etagen der Berliner Reichsbahn-Zentrale haben in den 1920er-Jahren den Plan für eine teils unterirdisch angelegte elektrische Schnellbahn ausgebremst, die im Viertelstundentakt und mit hohem Tempo Pendler quer durch das Rheinland und das Ruhrgebiet befördern sollte. Gleise übertage wären dem Fernverkehr geblieben.
Die Idee dazu stammte von der Konkurrenz der Staatsbahn, aus den Ingenieurlabors der Elektrokonzerne Siemens, AEG und RWE. Vorbild waren die autonomen und schon gut funktionierenden S-Bahn-Systeme von Hamburg und Berlin. Spuren einer dramatischen Auseinandersetzung über dieses Projekt sind in den Archiven zu finden. Die beeindruckenden Planungen der 1920er Jahre können in Bochum im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets verfolgt werden, die Protokolle der wütenden Gutachter-Gefechte darüber sind im „Historical Institute“ des Siemens-Konzerns am Berliner Rohrdamm nachzulesen. Die Geschichte, die an beiden Orten erzählt wird, ist nicht nur spannend. Sie ist Lehrstück dafür, wie Zukunft nicht sein sollte.
Das Jahr 1922
Die Inflation im Deutschen Reich ist im Anrollen, die 15 Pfennigbriefmarke kostet inzwischen 2 Mark, noch ahnt niemand, was im nächsten Jahr 1923 passieren wird, wenn die (Hyper)Inflation ihren ultimativen Gipfel erreicht haben wird. Die 15 Pfennigbriefmarke kostet dann exakt 1 Billion Mark: 1.000.000.000.- Eine knallharte Währungsreform wird den Spuk beenden, die Briefmarke wird dann für 10 Reichspfennig (RPf) zu haben sein. Der verlorene Weltkrieg fordert sein Tribut.
Trotz der maladen wirtschaftlichen Lage - das Deutsche Reich muss Reparationen ohne Ende an die Siegermächte abdrücken inklusive der Gewinne, die die Deutsche Reichsbahn einfährt - gibt es Menschen mit Weitblick. Der Essener Direktor SCHIFFER des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE) ist einer von ihnen. Er ahnt das zunehmende Überlastungs- und Stau-Debakel auf den Schienen: Wenn es mit der Wirtschaft bergab geht, muss es auch wieder nach oben gehen. Und im Ruhrgebiet schlägt nun einmal das industrielle Herz des Landes.
Die Städte des Ruhrpotts wachsen immer weiter. Schon vor dem Krieg haben hier mehr Einwohner als in der Reichshauptstadt Berlin gelebt, die Bevölkerungszahlen sind zwischen 1861 und 1910 geradezu explodiert:
- Düsseldorf ist von 49 000 auf 358 000 Einwohner gewachsen,
- Duisburgs Zahlen haben sich alleine in den zehn Jahren zwischen 1900 und 1910 verdoppelt.
- Kölns Bewohnerzahl hat sich in 35 Jahren versechsfacht,
- Dortmunds Einwohnerschaft über 50 Jahre auf 212 000 verzehnfacht,
- Gelsenkirchens von 5300 auf 168 300 sogar verzweiunddreißigfacht.
Mobilität
Diese Menschenmassen bewegen sich hin und her, zwischen Wohnen, Arbeitsplatz, Einkaufen und Freizeit. Das bekommt der öffentliche Verkehr zu spüren. Pendler stürmen die Bahnsteige, drängeln sich in den Abteilen. „Die Reichsbahn ist nicht in der Lage, den starren Fahrplan, der alleine eine reibungslose Abwicklung des großen Verkehrs ermöglichen kann, einzuführen. Hindernd steht der gemischte Betrieb entgegen, der Personen- und Güterzüge, Fern- und Nahzüge über diesselben Gleise leitet“, heißt es in einer Stellungnahme der Verkehrsreformer, zu denen auch Direktor Schiffer gehört. Ihnen ist in Erinnerung, wie im Herbst 1912, zwei Jahre vor dem 1. Weltkrieg, der Güterverkehr der Region total zusammenbrach. Das waren Wochen, in denen mancher Lokführer seine Lok im Chaos nicht mehr fand und andere für eine Strecke von 20 Kilometern eine Fahrzeit von 18 Stunden brauchten.
Tatsächlich war das Deutsche Reich vom eigenen Erfolg überfahren worden. 1909, als eine groß angelegte Verstaatlichung der Eisenbahn abgeschlossen werden konnte, erstreckte sich das reichsweite Schienennetz über 60 000 Kilometer. Selbst schwach entwickelte Regionen waren an die großen Zentren gut angeschlossen. Deutschland war in Kontinentaleuropa die Nr.1, was Bahn betraf - noch vor Frankreich und Russland. Zwar mussten nach 1918 Kriegsfolgen ausgebessert werden. Aber war nicht gerade jetzt die Ausgangslage für Neuerungen ideal?
Ein Fehlschluss. Nur in den jungen Branchen rund um die Elektrizität dachten die Manager nach vorne.
RWE-Direktor SCHIFFER schreibt im Frühjahr 1922 einen Brief an den Kollegen DUST, den Vorsteher der Essener Niederlassung der Siemens-Bauunion. Darin bittet er etwas verschwörerisch um die „technischen Unterlagen für die Bearbeitung des Projekts“. Und ob man vielleicht gemeinsam...?
Siemens ist von dieser RWE-Anfrage angetan. Auch der Mülheimer Unternehmer Hugo STINNES macht mit bei der „Studiengesellschaft“, die sie da gerade gründen. Am 4. April trifft sich in den Berliner Geschäftsräumen der Siemens-Schuckert-Werke eine Fachgruppe. Auf dem Tisch liegt das revolutionäre Vorhaben: eine „Rheinisch-Westfälische Städtebahn“.
Sie soll von Köln nach Dortmund führen. Schon vor dem 1. Weltkrieg hatten Industrielle überlegt, so was für einen Abschnitt Köln-Düsseldorf zu realisieren. Ein Vorbild fanden sie zudem in der seit 1906 rollenden Rheinufer-Bahn zwischen Köln und Bonn, die der Reichsbahn gehört. Jetzt wollen sie - auf eigene Rechnung, aber mit finanzieller Unterstützung der beteiligten Städte - ein weit größeres und vor allem modernes Schnellfahr-Netz für die ganze Region zu realisieren. Eben so, wie es die Metropolen Berlin und Hamburg längst vorzeigen:
Nahe dem Bochumer Tara Schanzara-Platz finden wir im Keller des Hauses der Geschichte des Ruhrgebiets die ausgearbeiteten Unterlagen jener Zeit. „Rheinisch-Westfälische Schnellbahn Entwurf August 1925“ steht über einem der fünf dicken Bände.
Der Plan - das Projekt
Detailliert ist dort dargestellt, wie kühn die 113 Kilometer lange Hauptstrecke das Verkehrsgeschehen revolutionieren sollte. Die Idee von Siemens, RWE, AEG und Verbündeten: Sechsteilige Elektrotriebwagen befahren sie nach dem Start am Kölner Dom mit Halt in Düsseldorf, Duisburg, Mülheim, Essen, Gelsenkirchen, Bochum und Langendreer bis nach Dortmund.
Zu Stoßzeiten sogar im Viertelstundentakt
Die dafür zu schaffende Schnellbahn-Trasse führt 77 Kilometer auf Dämmen, über 19 Kilometer auf fünf Meter hohen Stelzen und über 15,5 Kilometer in Tunneln unter den Innenstädten des Rhein-Ruhr-Gebiets hindurch. In Düsseldorf-Flehe wird eigens eine neue 900 Meter lange Rheinbrücke gebaut. Nicht nur City-Lagen werden unterquert, sondern auch der Duisburger Kaiserberg in einer 550 Meter langen Röhre. Kommunen wie Moers, Dinslaken, Oberhausen und Gladbeck werden über Zweiglinien angeschlossen. Duisburg mit gleich drei Bahnsteigen unter dem Vorplatz des Hauptbahnhofs wird zum zentralen Knoten und Standort des Betriebshofes.
Atemberaubend kurz ist die angestrebte Fahrzeit. Ganze 77 Minuten von Köln nach Dortmund. Das ist doppelt so schnell wie es die dampflokbespannten Züge der Reichsbahn im Jahr 1922 hinbekommen. Sie brauchen 150 Minuten. Und es ist noch zwischen drei und zehn Minuten schneller als der Regionalexpress RRX einhundert Jahre später sein wird. Im März 1922 werden die Kosten für die Kernstrecke auf 214,9 Millionen Reichsmark geschätzt. Schon bald nach der nur acht Jahre später geplanten Betriebsaufnahme sollen schwarze Zahlen angepeilt werden können.
Versuch der Umsetzung
1922:
Am 9. Dezember treffen sich die neun Oberbürgermeister des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk zu einer Sondersitzung in Köln. Ihnen liegen die Projektpläne vor. Sie begeistern sie. Einmütig stellen sie sich hinter die Idee.
1924:
Noch scheint die Welt der Experten überzeugt: Die Städtebahn - jetzt heißt sie offiziell Schnellbahn - ist die Lösung. Doch man rechnet hin und her, Kosten- und Gewinnprognosen schwanken. Die Zinshöhen der Inflationsjahre könnten zu einer Hürde für die Finanzierung werden. Unter den beteiligten Industriellen kommt es zu einem ersten Streit. Dürfen die Züge nun Tempo 90 fahren, wie es Siemens favorisiert - oder doch bis zu 150, wie es sich der Mülheimer Stinnes vorstellte?
1926:
Nach einigem Zögern erteilt das Reichsverkehrsministerium eine Konzession, die allerdings nur die Hauptstrecke Köln-Dortmund umfasst. Immerhin.
Panik
Schon diese Konzession muss den Herren der Region, den Bergwerks-Baronen, auf den Magen geschlagen sein. In ihren Chefetagen wachsen Wut und Angst. Über die wahren Motive ihres massiver werdenden Widerstandes kann es nur Spekulationen geben. Aber mit dem Austausch der Dampfloks gegen E-Triebwagen mussten sie um den Absatz ihres Produkts, der Kohle, fürchten - und das direkt vor den eigenen Zechentoren. In der Öffentlichkeit gestehen sie ihre eigentlichen Gründe nicht ein. Sie schicken das Oberbergamt Dortmund mit einer zentralen Argumentation vor:
- Der Bau der Schnellbahn führe zu mehr Bergschäden.
- Der Kohleabbau könne behindert werden, der Erdboden, worst case, sogar einbrechen.
- Die Kosten für das „schwarze Gold“ könnten explodieren und die Grundlage für die eigene Branche erodieren.
Deshalb: Nein.
Genau so von Konkurrenzängsten befallen wird eine zweite mächtige Institution, die gerade erst gegründete Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft. Würden die schnellen Elektrozüge nicht die weit langsameren des Staatsbetriebs abhängen, ja, sie am Ende zwischen Rheinland und Westfalen leer dahinrollen lassen? Die Reichsbahn, die zunächst nicht abgeneigt schien, entpuppt sich als ein noch gefährlicherer Gegner. „Die Reichsbahn ist aus ihrer bisherigen abwartenden Stellung herausgetreten und nimmt offen eine feindliche Stellung gegen die Schnellbahn ein“, beobachtete der Krefelder Bahn-Experte Dr. Ing. Erwin HEISTERBERGK.
Krieg der Gutachter
Bergbau und Reichsbahn engagieren einen scharfzüngigen Gutachter, den Berliner Prof. Dr. Erich GIESE, der als ehemaliger Reichsbahnbeamter bzw. "Reichsbahnoberrat" am S-Bahn-Netz der Hauptstadt entscheidend mitwirkt. Er verreisst zunächst die Kosten- und Gewinnkalkulation der elektrizitätsnahen Industrie, um dann auf die möglichen wirtschaftlichen Folgen für die Reichsbahn zu verweisen - und auch für den Straßenverkehr.
Doch dem 46jährigen Professor steht ein fachlich ebenbürtigen Gegner auf seiten der Schnellbahn-Gruppe gegenüber, ein Praktiker und ebenso studierter Bauingenieur, aber 23 Jahre älter: Dr. Gustav KEMMANN. KEMMANN ist wissenschaftlich wie fachlich beschlagen. Hat die Verkehrspolitik der Metropole London untersucht und deren Eisenbahnnetz, hat im Auftrag der Deutschen Bank ein Gutachten über die Argentinische Nordostbahn erstellt, die Städte Wien, Rotterdam, New York, Boston und Buenos Aires in Sachen Verkehrspolitik beraten: mit einem völlig neuen und wegweisenden Konzept der Verkehrsprognose. In Berlin, wo er ebenfalls wie GIESE arbeitet und lebt, war und ist der maßgebliche Planer und Entwickler der Berliner U-Bahn.
KEMMANN kontert GIESE süffisant: „Die bequeme Fahrt in der Schnellbahn ist einer Kraftwagenfahrt durch die unzulänglichen Straßen des Ruhrgebiets bei weitem vorzuziehen“. Sogar heutigen Nutzern der permanent verstopften Regionalautobahnen A 40, A 42, A 43 und A 46 wird das nachvollziehbar klingen.
Und so geschieht das, was in solchen Fällen immer geschieht: Gegner einer neuen Idee oder eines neuen Projekts rechnen die Kosten hoch und spielen die Vorzüge herunter. Der Berliner Professor geht (nur) von 25 Millionen Fahrgästen jährlich aus, KEMMANN schätzt das Verkehrsaufkommen auf 40 Millionen.
Der "Reichsbahnoberrat a.D." GIESE wird sekundiert von vielen anderen, u.a. von mehreren "Reichsbahnräten", teils aktiv, teils "a.D.".
Insgesamt werden rund 80 Gutachten produziert. Man schlägt sich Zahlen und Daten über Verkehrsaufkommen und Erträge um die Ohren. Angriffe in diesem Gutachterkrieg zielen zuweilen ins Persönliche. So argwöhnen Schnellbahn-Befürworter im Westen, GIESE vertrete doch nur Interessen der Reichshauptstadt und wolle, dass das Kapital in den Osten und an die Spree fließe - und nicht in die Rhein-Ruhr-Region.
Die Pro-Gutachter zerpflücken die zentrale Botschaft des Dortmunder Oberbergamtes über vom Zusammenbruch bedrohte Kohleschächte. Die Reichsbahn, heißt es in ihren Protokollen, stampfe schließlich mit „steifachsigen, schweren“ Dampfloks und langen Zügen durch die Abbaugebiete der Kohle, und das, bei den häufigen Verspätungen, noch mit Tempo 95. Die angedachte elektrische Schnellbahn hingegen „steht besonders günstig da mit ihren besseren Kurven-, Neigungswechsel- und Oberbauverhältnissensowie mit ihrem elektrischen Einzelachsantrieb und dem geringeren Zuggewicht“. Unterm Strich: Die neue Städtebahn schadet dem Kohleabbau weniger als es die Reichsbahn tut.
"Gewähr oder Ablehnung freier Meinungsäußerung"
Viele der Diskussionen spielen sich - wie heute auch - in einschlägigen Fachzeitschriften ab. Die werden nicht nur in den wissenschaftlichen Fachkreisen gelesen, sondern auch in den einschlägigen Behörden und zuständigen Ämtern. Oft auch von Politikern. In jedem Fall von Entscheidungsträgern.
In den wissenschaftlichen Fachzeitschriften kommen vor allem die Gegner des visionären Projekts zu Wort. KEMMANN versucht regelmäßig, die Redaktionen zu überreden, eine Erwiderung seinerseits abzudrucken. Denn vieles, was die Experten zu Papier bringen, weil ihnen das Vorhaben zu kühn erscheint, sind negative Vermutungen und/oder wenig faktenbasierte Argumente.
Die Antworten und Reaktionen der Fachblätter sind entweder ausweichend, vertröstend oder gleich ablehnend. KEMMANN kommt nicht zu Wort.
Auch nicht bei der renommierten und in verkehrspolitischen Kreisen gelesenen Fachzeitschrift "Verkehrstechnik". Deren "Hauptschriftleiter" hat einen bekannten Namen: Prof. Dr. Erich GIESE. In der Fachzeitschrift "Deutsches Bauwesen" ist es Oberbaurat GRUMMEL, der blockiert - ein Mitarbeiter von Prof. GIESE.
Gustav KEMMANN entschließt sich, diese verweigernden Schriftwechsel zu dokumentieren. Er stellt eine 40seitige Broschüre zusammen. Jeweils links auf einer Seite die veröffentlichten Texte aus den Fachzeitschriften, rechts daneben das, was er als Erwiderung dagegen geschrieben hatte, aber nicht veröffentlichen konnte: "Behandlung der Rheinisch-Westfälischen Städtebahn in einigen Fachzeitschriften: Gewähr oder Ablehnung freier Meinungsäußerung?" (siehe Faksimile des Cover aus dem Jahr 1928).
Das Ende des visionären Plans
Die Treffsicherheit dieser Argumente hilft nicht weiter. Die Machtfrage entscheidet.
Bergbau und Reichsbahn haben in diesem Spiel bessere Karten. Ihre konzentrierte Abwehr, unterlegt mit einem eigenen Modernisierungsplan des bestehenden Gleisnetzes mit Kosten unterhalb der für die Schnellbahn, lässt das gemeinsame Konzept von Siemens, AEG, RWE und der Oberbürgermeister am Ende scheitern. Zehn Jahre später - inzwischen ist Adolf HITLER an der Macht, der sämtliche Ressourcen und industriellen Kapazitäten für die Vorbereitungen des Großen Krieges braucht - wird die „Studiengesellschaft“ 1938 aufgelöst: das endgültige Ende der kühnen Idee. Die Reichsbahner stricken in der Folge in eigener Regie ein Pendlernetz - unter Dampf. Es ist die spätere Übergangslösung, der Ruhrschnellverkehr.
Moderne elektrische Nahverkehrssysteme, wie sie in jenen Jahren in Metropolen wie Berlin und Hamburg als Grundlage für deren aktuelle Mobilität geschaffen wurden und die heute im Minutentakt Millionen befördern, sollte das Ruhrgebiet auf Jahrzehnte nicht erhalten. Erst ab 1957, nach dem zweiten Krieg, rollt der erste elektrische Triebwagen der neuen Deutschen Bundesbahn zwischen Duisburg und Dortmund. Tunnel unter den Rhein-Ruhr-Großstädten bleiben bis heute den in den 1970er Jahren modisch gewordenen tiefer gelegten lokalen Straßenbahnbetrieben, so genannten „Stadtbahnen“, vorbehalten. Eine auf Stelzen verkehrende Magnetschnellbahn „Metrorapid“ von Dortmund nach Köln mit Tempo 200, wie sie der sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang CLEMENT (SPD), 2002 als „Quantensprung“ ankündigte, scheiterte unter seinem Nachfolger Peer STEINBRÜCK (SPD) nach 2003 schon im Planungsstadium.
Die Londoner Verkehrsbetriebe verbinden derzeit den Vorort Reading und den Flughafen Heathrow mit dem anderen Stadtende bei Shenfield auf eine ähnliche Weise wie sie die deutschen Konzerne 100 Jahre zuvor anpeilten. Blau-weiße Züge der „Crossrail“ werden in einer 118 Kilometer langen Streckenführung das Zentrum unterqueren und in den Außenbezirken oberirdisch fahren.
Die elektronische Steuerung des Projekts stammt aus Deutschland, und zwar von einem Unternehmen, das bereits vor 100 Jahren auf diesem Gebiet führend war und sein Business-Modell schon seit Jahrzehnten auf diesem Prinzip aufbaut: zwei Drittel des Umsatzes sollen immer aus Produkten und Leistungen stammen, die in den letzten 5 Jahren entwickelt wurden, um technischen Fortschritt voran zu bringen: Siemens.
(DS, JL)
Hinweis:
Diese Geschichte lässt sich direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Staedtebahn.
Online am: 20.10.2023
Aktualisiert am: 22.10.2023
Inhalt:
Tags:
Bochum | Dortmund | Düsseldorf | Gutachter | Kartell | Nordrhein-Westfalen | Politik + Behörden | wirtschaftliche Macht