Portrait: Victoria IVLEVA

Biografisches

Victoria Ivleva?! Wer ist diese faszinierende Frau, die in ihrer eigenen Galaxie zu leben scheint?
Sie ist eine sehr selbstbewusste, wagemutige und eigenwillige russische Journalistin, Sonderkorrespondentin und Fotoreporterin. Sie scheint in ihrer eigenen Welt zu leben und lässt sich von nichts und niemanden in ihrem Handeln beeinträchtigen. Wollen wir sie uns mal genauer 'besichtigen'.

Ivleva wurde im Jahre 1956 in Leningrad (St. Petersburg) geboren. Während der Schulzeit erlernte sie die englische Sprache, die für ihre weitere Laufbahn von großer Bedeutung sein sollte. Dementsprechend spricht sie fließend Englisch. Nach der Schulzeit absolvierte sie eine Ausbildung zur Fotografin, was quasi den Grundstein für ihre spätere berufliche Laufbahn legte. Dieser Lebensabschnitt hat sie sehr geprägt, da sie über die Fotografie ein steigendes Interesse für den Journalismus in sich entdeckte und entwickelte. Die berufliche Ausbildung an sich reichte ihr nicht aus, sodass sie sich 1978 an der Staatlichen Universität in Moskau (MGU) für den Studiengang Journalistik bewarb. Die Universität hatte sie dann im Jahre 1983 abgeschlossen. Zu dieser Zeit existierte in Russland noch ein strenges System, bei dem die jeweiligen Universitäten den Studenten vorgeschrieben hatten, wo diese zu arbeiten hätten. So mussten die Studierenden ca. 3 Jahre lang an einem zugeteilten Arbeitsplatz tätig sein. Erst dann gab es die Chance selbst zu entscheiden. Es gab aber auch die Möglichkeit einen Nachweis von irgendeiner Organisation vorzuzeigen, die einen aufnehmen wollte. Viele haben dies so gemacht, um dieser staatlichen Verteilung von oben herab zu entgehen.

Ivleva ließ sich ebenfalls nicht vom System verwalten ließ sich von ihrer Mutter einen entsprechenden Nachweis anfertigen. Dies ermöglichte ihr den Verbleib in Moskau und vermied ihre Rückkehr nach Leningrad. Sie befand sich seit diesem Moment quasi absolut „im freien Flug“. Sie hat seitdem freiberuflich gearbeitet und fing an bei verschiedenen Zeitungen mitzuarbeiten, sich quasi mit jeder Arbeit durchzuschlagen. Gleichfalls mit Übersetzungen aus dem Englischen ins Russische. Auf diese Weise kamen ihre englischen Sprachkenntnisse zu Nutze, die in ihrem weiteren Berufsleben eine große Rolle spielen sollten. So schuf sie sich langsam Beziehungen zu den Verlagen - sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland.

Im nicht-sowjetischen Ausland

Nach 3 Jahren kam Michail S. Gorbatschow an die Macht und alles fing an sich zu verändern. Es gab neue Möglichkeiten, Journalismus zu betreiben. Eine ihrer ersten Veröffentlichungen war im Jahre 1987: in der Illustrierten stern: ein Artikel über den sowjetischen “Underground“, der viel Platz in der Zeitschrift einnahm. Aufgrund dessen, dass Ivleva mit vielen Leuten aus dem stern befreundet war, wurden auch einige von ihr gemachten Fotos veröffentlicht. Von dem verdienten (West)Geld konnte man früher ziemlich gut leben.

Im gleichen Jahr wurde sie zufälligerweise einem französischen Journalisten, Claude-Marie Vadro, bekannt gemacht. Dieser schlug ihr vor, zusammen mit ihm einen Fotoband über die Sowjet Union zu erstellen. Der fertige Bildband erschien in Frankreich, später auch in den USA.

Wenn sie heute auf jene Zeit zurück blickt, beurteilt sie diese Veröffentlichung als mittelmäßig. Aber damals war es so, dass alles, was aus der Sowjetunion kam, sofort als „heißes Brot“ verkauft wurde und einen anderen Stellenwert besaß.

Dank des Erfolgs des Bildbands und dank der Perestroika fuhr sie - vor ihrer zweiten Reise nach Frankreich - nach Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach. Zu dieser Zeit war die Stadt gerade von asebaidschanischen Truppen besetzt und sie die einzige Journalistin vor Ort. Ihre Fotos konnte sie innerhalb von Tagen weltweit verkaufen.

Bilder versus Worte


So hat sich ihre Karriere stufenweise entwickelt, wobei sie sich nicht ganz sicher darüber ist, ob sie dies als „Karriere“ bezeichnen kann. Sie fing an mit der Hamburger Fotoagentur „Fokus“ zusammenzuarbeiten, mit der Agenturleiterin, die ziemlich viel für sie bewerkstelligt hat. In der Sowjet Union und später in Russland war sie weiterhin als „Freelancer“ tätig, was grundsätzlich zur damaligen Zeit nicht Gang und Gebe war, explizit nicht für Frauen. Genauso unüblich wie der Beruf Fotojournalist.

Im Jahre 1991 hatte Ivleva Bilder vom Inneren des Chernobyl Reaktors geschossen, die ihr Geld und Weltpopularität für „fünf Minuten“ eingebrachten. Für diese Serienfotos erhielt sie 1991 den ersten Preis des World Press Photo und zwar den „Gold Eye“ Preis in der Kategorie Wissenschaft und technische Geschichten. Für Ivleva war es ein großes Glück in die Welt des Journalismus hineingeraten zu sein.

Allein die Tatsache, dass die große Fotoagentur „Magnum“ in Frankreich ihre Fotos verkauft hat (obwohl sie dort nie Mitglied war), war schon eine unglaubliche Ehre für Ivleva. Sie nahm neue Eindrücke mit. Zum Beispiel wie die Mitarbeiter in der Agentur arbeiteten. Für sie war alles ganz neu – wie die Kollegen mit den Bildaufnahmen umgehen, wie sie diese in Händen hielten, einpackten und markierten. Im Gegensatz zu den westlichen Ländern ist Russland das Land des Wortes - nicht das Land der visuellen Kultur. Von Fotografen hat man in Russland eine feste Meinung. Der Fotograf gilt dort als Schuft und Rüpel, der keine Bücher liest. Diesen Unterschied zwischen West und Ost hat Ivleva persönlich feststellen können.

Erfahrungen in und aus Ruanda (Afrika)

Im Jahre 1994 änderte sich ihre Einstellung zu ihrem Beruf. Sie geriet in die Nachkriegsära von Ruanda, wo teilweise immer noch geschossen wurde. Ivleva war die einzige russische Journalistin vor Ort. Nach dieser Zeit hat sie sich für nahezu 10 Jahre aus dem Journalismus verabschiedet – zu groß war der Schock, zu nachhaltig die Eindrücke. Sie konnte sich vorstellen, sich mit etwas Anderem zu beschäftigen. Sie vermochte es nicht einen ‚niederträchtigen’ Beruf auszuüben, in dem Fotografen Bilder von menschlichen Schicksalen und Tragödien schossen, um damit Geld zu verdienen.

Das Verhalten vieler ihrer Kollegen in Ruanda hatte sie besonders traurig gemacht. Während ihres restlichen 10-tägigen Aufenthalts in Ruanda verbrachte Ivleva vielmehr damit ihre Zeit, kranke Leute aus der Gegend einzusammeln und in die umliegenden Krankenhäuser zu begleiten. Dies machte den großen Unterschied zu den vielen anderen Journalisten aus, die in den schwarzen, leidenden Leuten nur ein Foto-Objekt und eine Informationsquelle sahen.

In ihrem Bestreben Gutes zu tun, ließ sie sich gleichfalls von der russischen Literatur beeinflussen bzw. leiten, mit der sie aufgewachsen ist: Schriftsteller wie Tolstoy, Chekhov und Fjodor Michailowitsch Dostojewski. In Ruanda ist ihr erstmals wirklich bewusst geworden, dass das menschliche Leben weit mehr wert ist als Ruhm bzw. Popularität und der Verkauf von Informationen oder Bildern.

Die Einstellung zu den alltäglichen Dingen ändert sich urplötzlich, wenn man anfängt die Dinge aus einer neuen Perspektive heraus zu betrachten. „ Je mehr Du für den Anderen tust, desto mehr bekommst Du für dich selbst. Danach fühlst Du dich so, als ob Du gewonnen hast“, so Ivleva.

Seit dieser besonderen Zeit in Ruanda lebt sie nach dieser Erkenntnis. Dies ist z. B. der Fall, wenn sie sich in einer kritischen Situation befindet bzw. es einem Menschen neben ihr schlecht geht und dieser Hilfe braucht. Sie nimmt sich dann eine Minute Zeit für ein Gespräch und ist in dem Moment quasi „die Frau für alle Fälle“.

Nach 10 Jahren Auszeit: Novaya Gazeta

In ihrer 10-jährigen Pause hat sie 2 Söhne großgezogen. Nach diesen 10 Auszeit stellte sich für sie heraus, dass sie nichts Anderes zu tun vermag als weiterhin für den Journalismus tätig zu sein. Sie kehrte demnach alsbald als fester Bestandteil in die Redaktion der im Westen renommierten, aber im Osten unbeliebten Moskauer Tageszeitung Novaya Gazeta zurück. Sie fing an, dort zu schreiben und als Sonderkorrespondentin tätig zu sein.

Nach Ivleva’s Meinung ist dies die einzige Redaktion im Lande, die ihrer Überzeugung und ihrem Verständnis ihren Vorstellungen von Journalismus entspricht. Bis heute ist sie mit dabei (hier gibt's mehr zur Novaya Gazeta).

Ivleva's Philosophie

Woher rührt ihre Einsatzbereitschaft und ihr unerschöpfliches Engagement, sich für Menschen und deren Rechte einzusetzen? Was ist die Triebfeder ihres persönlichen Schaffens?

Es ist vor allem die Neugier, die sie voran treibt. Gleichfalls sind es die Möglichkeiten, die sich auftun, z. B. anderen Menschen helfen zu können und in das Leben der anderen Menschen einblicken zu können. Dies ist auch ein Grund mit, warum sie sich als Sonderkorrespondentin und als Fotoreporterin in Konfliktzonen bzw. Brennpunkten wie in Uganda, Ruanda und Afghanistan für die Geschichten von Einzelschicksalen einsetzt. Sie wagt den Blick hinter die Kulissen und hat langjährige Erfahrung in dieser menschennahen Berichterstattung. Sie hat einfach das Bedürfnis, sich auf ihre Weise einzumischen.

Im November 2005 waren ihre Fotos im Moskauer Museum of Modern Art zu sehen. Die Ausstellung hieß: „ The Apotheosis of War“. Was Sie dazu motiviert, ist wahrscheinlich das Selbe, was auch ihren Lieblingsliteraten Nikolai Wassiljewitsch Gogol motiviert hatte: Liebe und Mitleid zu denjenigen, die man den “kleinen Menschen“, den „kleinen Mann auf der Strasse“ nennt.

Gerd Bucerius-Förderpreis "Freie Presse Osteuropa"

Seit dem Jahr 2000 vergibt die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius den Gerd Bucerius-Förderpreis "Freie Presse Osteuropa". Am 19. Mai 2008 wurde Gerd Bucerius-Förderpreis "Freie Presse Osteuropa" auch an Victoria IVLEVA verliehen. Sie wurde von der Norwegian Union of Journalists und dem Norwegischen P.E.N. vorgeschlagen und erhielt als Preisgeld 10.000 Euro. IVLEVA hatte keine Kenntnis darüber, wie, warum und wofür dieser Preis überhaupt vergeben wird. Deswegen war sie ziemlich überrascht, als sie den Sonderpreis für Journalisten 2008 erhielt, da sie sich mit keinen 'schutzrechtlichen' Aktivitäten beschäftige.

Nach der Preisauszeichnung hatte ihr einer der Juryberater gesagt, dass drei ihrer Artikel über die baltischen Republiken bei der Bewertung ihrer Arbeiten ausschlaggebend gewesen seien. Es handelte sich hierbei um 3 von 14 Ländern der Serie „USSR- das Produkt nach dem Zerfall“. Im Jahre 2007 hatte sie eine Reise in die 14 ehemaligen und inzwischen unabhängigen Sowjetrepubliken unternommen. In der Novaya Gazeta hatte sie dann diese 15-teilige Serie veröffentlicht, die jeweils aus doppelseitigen Text- und Fotoreportagen bestand.

In diesen Berichten schildert sie ihre Emotionen zur Situation in postkommunistischen Ländern. Es handelt sich keinesfalls um Artikel mit politischer Zielrichtung. Vielmehr fühlt sie sich dem Genre des sowjetischen gesellschaftspolitischen Journalismus verschrieben und setzt sich für eine friedliche Koexistenz aller Völker und Nationalitäten ein. Ihre Fotoreportagen erzählen, wie die Menschen in den neuen Republiken leben.

„Meine Geschichten entstehen aus den Begegnungen heraus, dem Miteinander vor Ort. Mich interessieren Menschen, ich will ihr Leben verstehen, beobachten, mich auf sie einlassen, das erfordert Zeit“, erklärt IVLEVA.

Sie schreibt und fotografiert das Leben so, wie sie es um sich herum erlebt. Mit vielen Menschen, über die Viktoria ihre Artikel schreibt, versucht sie noch lange in Kontakt zu bleiben. So hat sie sich zum Beispiel um eine geflüchtete Frau aus Tadschikistan gekümmert. Oder einem Jungen aus Uganda das Studium organisiert. Was sie als selbstverständlich ansieht, scheint für viele 'Experten' ungewöhnlich zu sein. Aber sie hält ihre Art, Journalismus zu betreiben, für normal. Bzw. selbstverständlich. Das, was sie macht, wird aber nicht von allen Journalisten praktiziert.

Die 3 Reportagen und Bilder, für die Victoria IIVLEVA 2008 den Förderpreis „Freie Presse Osteuropa“ zugesprochen bekam:

Stolpersteine in Hamburg – Stolpersteine in Russland?

Nachdem IVLEVA 2008 den Gerd Bucerius-Förderpreis erhalten hatte, verbrachte sie „eine schöne Zeit“ in Hamburg und Oslo. In den Städten hatte sie auch Kollegen aus den anderen Ländern kennen gelernt. Was die Journalistin aus Moskau in Hamburg gesehen hatte und was ihr seither nicht mehr aus dem Kopf geht, sind die in das Straßenpflaster eingelassenen kleinen quadratischen Messingplatten: die so genannten Stolpersteine - Gedenksteine im Trottoir, die an die aus Hamburg stammenden ermordeten Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedenken. In Hamburg über 2.000 Erinnerungen dieser Art. (siehe dazu www.stolpersteine.com und www.stolpersteine-hamburg.de ).

IVLEVA wäre sehr glücklich darüber, wenn es in ihrem Heimatland Russland gleichfalls solche Symbole zum Gedenken an Verstorbene in GULAG (Akronym für Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager) geben würde. Während des Aufenthalts in Hamburg war IVLEVA besonders von dem Empfang in der Zeit-Stiftung gerührt Dies alles war für Ivleva wichtiger als der Preis an sich und das Preisgeld.

Weitere Projekte

Ivleva’s gerade beendetes Fotoprojekt nennt sich „Das Foto, das heute gemacht wurde“. Das Ergebnis des Projektes sind 10 lebensnahe Bildaufnahmen.

Ein früheres Projekt war ihre 23-tägige Reise mit drei Teenagern (darunter ihre 2 Söhne) mit dem Zug von Moskau bis Vladivostok. Während dieser Tour haben sie sich gemeinsam Russland angeschaut und mit verschiedenen Menschen gesprochen. Das Material wurde am 11., 13., 25. und am 27. November 2009 in der Novaya Gazetaveröffentlicht.

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