Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 20.08.2015

Die Streetworker

Zwei Dresdner Studenten berichten auf Twitter über fremdenfeindliche Demos. Dafür gibt es einen bundesweiten Preis.


Von Anna Hoben

Gestern Abend in Dresden: Die AfD hat zur Demonstration gegen die aktuelle Asylpolitik aufgerufen, es geht vom Goldenen Reiter ins Regierungsviertel. Eine Frau protestiert mit einer Sitzblockade gegen die AfD-Anhänger, Polizisten fordern sie auf zu gehen. 17.32 Uhr, Tweet von "Straßengezwitscher": "Frau fragt nach dritter Aufforderung: Muss man Rassist sein, um die Straße zu bekommen?"

Fünf Monate zuvor: Der 2. März 2015 ist ein Montag, Pegida-Tag. Die Demonstration ist offiziell zu Ende, als etwa 100 Menschen zu einem Protestcamp von Flüchtlingen auf dem Theaterplatz strömen. Lautstark fordern sie die Räumung des Camps; etwa zwei Dutzend Rechte versuchen, den Platz zu stürmen. Es kommt zu Rangeleien. Alexej Hock und Johannes Filous beobachten die Szene. "Es herrschte eine aggressive, beängstigende Stimmung", erinnern sie sich heute. Ein Schlüsselerlebnis.

Die beiden 26-Jährigen überlegen, wie sie solche Ereignisse der Öffentlichkeit zugänglich machen können, und landen schnell bei Twitter. Privat nutzen sie den Kurznachrichtendienst schon lange, Alexej seit 2009, Johannes seit 2011. Sie gründen einen neuen Account, nennen ihn Straßengezwitscher und sich selbst @streetcoverage. Am 8. März setzen sie den ersten Tweet ab, also einen Kurzbeitrag in 140 Zeichen: die Ankündigung, dass sie am darauffolgenden Tag von der Pegida-Demonstration berichten werden, vorerst anonym.

Die aktuelle Bilanz: Von März bis gestern Abend haben Alexej und Johannes rund 1 800 Tweets abgesetzt. Sie haben von der Zeltstadt in Dresden berichtet, vom Geschehen vor dem Asylbewerberheim in Freital, von der "Initiative Heimatschutz" in Meißen, von einer NPD-Demonstration in Riesa. 2 250 Nutzer folgen den beiden, lesen also regelmäßig ihre Berichte.

Vor einer Woche wurde bekannt, dass die Macher von "Straßengezwitscher" den diesjährigen Preis für Zivilcourage vom Förderkreis "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" erhalten. Der Preis ist mit 3 000 Euro dotiert und wird für Aktivitäten gegen Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Rassismus vergeben. Mit der Auszeichnung solle die "vorbildliche Haltung" der beiden jungen Männer gewürdigt werden, sagte die Vorsitzende des Förderkreises, Lea Rosh. Seitdem sind die Namen von Alexej und Johannes in der Welt. Den Schritt aus der Anonymität haben sie sich lange überlegt. "Uns war klar, dass wir die Auszeichnung nicht ohne Gesicht annehmen können", sagt Johannes. Die Verleihung findet im November in Berlin statt.

Alexejs und Johannes' Generation ist nicht gerade für ihr politisches Engagement berühmt. "Als Student verdrängt man wahrscheinlich auch vieles", sagt Alexej, "vor allem in der Neustadt leben die Leute in einer Blase". Dann kam Pegida. Die Bewegung polarisierte und politisierte. Plötzlich war es wichtig, eine Meinung zu haben und sich zu positionieren.

Politisch interessiert waren die beiden immer schon gewesen. Bei Alexej, Maschinenbau-Student an der TU, kam noch ein großes Interesse für den Journalismus dazu. Auf einem Blog schreibt er seit Langem über Russland und die russische Politik. "Das politische Engagement aber kam mit Pegida", sagt er. Von Anfang an nahmen sie an den Gegendemos teil und stellten schnell fest, dass es ziemlich graue Veranstaltungen waren. Also bastelten sie bunte Plakate und eine Weltkugel mit der Aufschrift "Grenzenlose Solidarität".

Mit der Zeit stellte sich jedoch Ernüchterung ein. "Wir hatten das Gefühl, nicht dagegen anzukommen", sagt Alexej. Es kam jener 2. März, an dem Rechte nach der Demonstration auf das Flüchtlingscamp auf dem Theaterplatz zustürmten. Als Alexej und Johannes hinterher mal wieder versuchten, Freunden, die woanders lebten, die Stimmung in Dresden begreiflich zu machen, wurde ihnen klar: Trotz aller beschreibenden Worte - die Leute konnten sich nicht vorstellen, wie es vor Ort ist. Auch das war ein Grund, weshalb die beiden anfingen, von Versammlungen und Aktionen rund um das Thema Asyl zu berichten. Ihr Anspruch: sagen, was ist.

Die Twitter-Berichterstattung lebt von ihrer Unmittelbarkeit. "Wir wollen nüchtern ein Gefühl vermitteln", so drückt es Alexej aus. Sie schlüpfen in die Rolle der Beobachter. Nicht als politische Akteure fühlen sie sich, sondern als Journalisten. Dazu gehört natürlich auch Recherchearbeit. "Wir sind ständig dabei, die sozialen Netzwerke zu durchforsten", sagt Alexej. Jeden Tag arbeiten sie eine Liste mit 35 Seiten ab, auf denen gegen Asylbewerber Stimmung gemacht wird, immer auf der Suche nach Ankündigungen für Veranstaltungen und Versammlungen. Sie kommen nicht umhin, Tausende Hetzkommentare zu lesen. "Keine schöne Arbeit", sagt Alexej trocken. Sie kostet viel Zeit und viel Energie.

Zwangspause von Facebook

Was sie durch ihre Arbeit gelernt haben: Gegensätze muss man aushalten. Beides gehört zur Realität, Flüchtlinge, die für Kleinigkeiten dankbar sind und blanker Hass von Pöblern und Rassisten. Eltern und Freunde machen sich manchmal Sorgen. Freital ist das schlimmste Pflaster von allen. Einmal warteten dort gewaltbereite Rechte am Auto auf sie. "Wir sind nur mit Polizeischutz weggekommen", sagt Johannes. Das Abschalten am Abend fällt ihnen inzwischen oft schwer, im Urlaub kürzlich mussten sie sich eine Zwangspause von Twitter und Facebook verordnen.

Die aktuellen Entwicklungen in Dresden hätten sie noch vor einiger Zeit für unmöglich gehalten. Im Oktober beginnt Johannes, der schon in Schottland internationale Beziehungen studiert hat, ein zweites Studium: Medizin an der TU. Er hat lange mit sich gerungen, ob er wirklich in Dresden bleiben will. Und er ist zu dem Schluss gekommen, dass er bleiben muss.

Der große Zuspruch macht den beiden Mut und spornt sie an. Sie wollen ihr Projekt ausbauen und demnächst auch Livestreams anbieten, so wie sie es während der Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew gesehen haben. Das nötige Equipment haben sie schon. Nächste Mission: weitermachen, draufhalten, dranbleiben.