Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 20.10.2015

Die zerrissene Stadt

Am ersten Jahrestag von Pegida zeigt sich brutal, wie sehr der Frieden in Dresden gestört ist. Ein Situationsbericht.

 

Von Thilo Alexe, Annette Binninger, Klemens Deider, Anna Hoben, Tobias Hoeflich, Mirko Jakubowsky, Marcus Krämer, Heinri


Am Abend, irgendwann nach 18.30 Uhr, wird es dunkel auf dem Theaterplatz. Auf einem großen Bildschirm an der Semperoper ist zu lesen: "Wir sind kein Bühnenbild für Fremdenhass". Zehn Dresdner Kulturinstitutionen und Kirchen sowie die Gläserne Volkswagen-Manufaktur beteiligen sich an der Aktion "Licht aus!". Sie alle setzen gemeinsam ein Zeichen für Weltoffenheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Humanität - und damit gegen Pegida.

Den selbsternannten "Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes" ist das indes egal. Er sei "aufgeregt wie nie zuvor", sagt Lutz Bachmann, als er mit Verspätung am ersten Jahrestag von Pegida vor seine fahnenschwingenden Anhänger tritt. Innerhalb eines Jahres ist er wie kein anderer zum Gesicht der Asylgegner geworden. Nach Schätzungen von Reportern der Sächsischen Zeitung sind zwischen 15 000 und 20 000 Menschen gekommen.

Die Gegendemonstranten sind gut zu hören. Sie haben die Zugänge zum Theaterplatz für sich beansprucht. Die Situation drinnen wirkt auf den ersten Blick: bekannt. Wie auf einem rassistischen Oktoberfest grölt die Masse der Pegida-Demonstranten wahlweise "Merkel muss weg" oder eben "Lügenpresse". Pegida-Initiator Lutz Bachmann spricht von einer eigens installierten Bühne. Ein großer Monitor überträgt die Reden über den Platz. "Wir sind noch hier", sagt Bachmann. Man sei, das kennt man schon, gekommen, um zu bleiben und, ja klar, man will bleiben, um zu siegen - doch worüber? Meint er etwa seine geplante Anzeige gegen Innenminister Thomas de Maizière (CDU), dem er Beleidigung und Volksverhetzung vorwirft, weil er die Pegida-Organisatoren als "harte Rechtsextremisten" bezeichnet hatte?

Auffällig sind an diesem Abend auf dem Theaterplatz zwei Dinge. Erstens: die verhältnismäßig hohe Zahl an gewaltbereit wirkenden jungen Männern. Etliche tragen Jacken von Labels, die in der Neonaziszene verbreitet sind. Sie telefonieren und sammeln sich an mehreren Stellen auf dem Platz. Und die Demonstranten, die womöglich tatsächlich wegen der Flüchtlingspolitik besorgt sind, müssen sich fragen lassen, neben wem sie sich da versammeln.

Was zweitens auffällt: die hohe Zahl an Gastrednern unter anderem aus Tschechien und Italien. Pegida, die Bewegung, die in Deutschland außerhalb Dresdens nicht funktioniert, scheint sich zu vernetzen. Um 20 Uhr spricht der Stargast, der rechtspopulistische türkischstämmige Autor Akif Pirinçci. In seinen Büchern hetzt er in drastischer Sprache gegen Politiker, Journalisten und den angeblichen "Genderwahn". Titel seiner jüngsten Veröffentlichung: "Die große Verschwulung."

Kurz vor dem Beginn der Kundgebung hat es zwischen Taschenbergpalais und Zwinger erste Rangeleien zwischen Pegida-Anhängern und Gegendemonstranten gegeben. Böller werden gezündet. Ein Polizeisprecher bestätigt, dass ein Pegida-Demonstrant auf dem Weg zur Kundgebung angegriffen wurde. Er habe schwere Verletzungen erlitten. Drei weitere Demonstranten seien leicht verletzt worden.

Unter dem Motto "Herz statt Hetze" stellt sich bereits ab dem Nachmittag ein breites Bündnis aus Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen und Initiativen der Pegida-Kundgebung entgegen. Ab 16.20 Uhr starten vier Demonstrationen zeitversetzt vom Straßburger Platz, von den Bahnhöfen Neustadt und Mitte sowie von der TU aus als Sternlauf in Richtung Innenstadt. Die Studentengruppe "Durchgezählt" schätzt die Teilnehmerzahl bei allen Gegendemonstrationen auf 14 000.

Gegen 17.30 Uhr versammeln sich Mitglieder der Satirepartei "Die Partei" vor dem Taschenbergpalais. Bestens gelaunt singen die rund 60 Anhänger Geburtstagslieder. Einer von ihnen hat sich ein Hitlerbärtchen unter die Nase geklebt, andere halten Transparente mit Aufschriften wie "Ein Jahr im rechten Licht" oder "Rational befreite Zone" in die Luft. Das Motto der Versammlung: Kindergeburtstag.

Zur selben Zeit startet der Demo-Zug am Bahnhof Mitte. Angemeldet hat ihn Sabine Friedel. Die 41-Jährige war Mitarbeiterin beim oft als Pegida-Versteher gescholtenen Politikprofessor Werner Patzelt, dann persönliche Referentin des ehemaligen Dresdner Oberbürgermeisters Ingolf Roßberg (FDP). Seit 2009 sitzt sie für die SPD im Landtag, ist Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss. Dennoch lud sie im vergangenen Dezember Pegida-Chef Lutz Bachmann zu einem Gespräch ein. Der reagierte nicht. "Inzwischen", sagt Sabine Friedel, "würde ich das nicht mehr tun, im Gegenteil". Polizisten aus Nordrhein-Westfalen sichern die Demonstration ab, die später einen Zwischenstopp am Haus der Presse macht, als "Zeichen der Solidarität mit freien Medien". Dabei zeigt sich aber, wie angespannt die Stimmung in der Stadt ist. Eine Teilnehmerin, offenbar dem Antifa-Spektrum zuzurechnen, schlägt einer Reporterin das Handy aus der Hand.

Im Demo-Zug vom Straßburger Platz Richtung Neumarkt laufen viele Familien mit Kindern sowie Senioren mit. Auch Selmin Caliska, die Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, ist dabei. Unter den Demonstranten sind auch Flüchtlinge - jene Menschen, um die es hauptsächlich geht an diesem Abend.

Und später kommt es doch noch so, wie manche befürchtet haben. Nach dem Ende der Pegida-Kundgebung entlädt sich ab etwa 21.30 Uhr an mehreren Orten Gewalt. In der Nähe des Landtages greifen Pegidisten eine Polizistin an. Die Menge beschimpft Beamte, sie sollten sich überlegen, wem sie den Eid geschworen haben. Vor dem Haus der Presse fliegen Böller. Autoscheiben werden eingeschlagen. Auf der Ostra-Allee bewaffnet sich eine große Gruppe von Pegida-Anhängern mit Steinen und herumliegendem Material. Auf dem Weg zum Bahnhof Mitte machen sie Jagd auf zwei Männer, schlagen auf sie ein. Einer geht verletzt zu Boden. Nach eigenen Angaben ist er Marokkaner.