Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 02.01.2016

Interview Frank Richter - "Tal der Ahnungslosen wirkt nach"

Pegida funktioniert vor allem in Dresden. Der Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, Frank Richter, sieht dafür mehrere Gründe.


Frank Richter wurde kritisiert für eine Pegida-Pressekonferenz, veranstaltet Bürgerveranstaltungen zum Thema Flüchtlinge und muss einiges aushalten. Die Asylfeinde von Pegida beobachtet er von Beginn an. Im SZ-Interview analysiert er das Phänomen.

Herr Richter, seit über einem Jahr spaziert die asylfeindliche Pegida-Bewegung montags durch Dresden? Was ist das eigentlich?


Pegida ist eine rechtspopulistische Empörungsbewegung, die fremdenfeindliche und islam-kritische Ressentiments mobilisiert und Vorbehalte gegenüber den politischen und medialen Eliten vorträgt. So formulieren es Professor Vorländer und seine Kollegen. Ich schließe mich an. Im vergangenen Jahr hat sich freilich viel verändert.

Was hat sich genau verändert?


Ich unterscheide drei Phasen: die Politisierungs-, die Differenzierungs- und die Stabilisierungsphase. Im Spätherbst 2014 politisierten sich Menschen in einer Weise, wie ich das 25 Jahre lang nicht erlebt habe. Sie trugen ihren Unmut auf die Straße und artikulierten zahlreiche politische Probleme. Die Abspaltung der Gruppe um Kathrin Oertel, der Austritt von Rene Jahn sowie die Hitlerpose von Lutz Bachmann führten zu einer Differenzierung. Die Zahl der Demonstranten sank von über 20 000 auf 1 500. Manche Beobachter rechneten mit dem Ende von Pegida. Mit dem Anwachsen der Flüchtlingszahlen stieg die Anzahl der Demonstranten erneut. Die Ansprachen wurden immer radikaler.

Woran machen Sie denn eine Radikalisierung fest?


Lange Zeit unterschied man bei Pegida zwischen Islam und Islamismus. Jetzt diffamieren Redner pauschal eine ganze Weltreligion. Lange Zeit unterschied man zwischen "Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen". Jetzt werden Flüchtlinge pauschal als "Invasoren" bezeichnet. Lange Zeit betonten die Redner den Wert der Gewaltlosigkeit. Jetzt spricht Tatjana Festerling goutierend von "Methoden, die der weichgespülte, moralisierte Mainstream für nicht anständig hält". Viele Äußerungen bei Facebook sind hemmungslos, hasserfüllt, menschenverachtend und stacheln zur Gewalt an.

Sind das denn alles Radikale, die da montags auf die Straße gehen?


Nein. Einige äußern sich fremden- und islamfeindlich. Sie tun nichts gegen den Eindruck, rechtsextremistisch zu denken und ohne Distanz zum Nationalsozialismus zu sein. Sie finden gut, was durch den Lautsprecher tönt, applaudieren und gehören zur Fangruppe der Organisatoren. Andere gehen mit, obwohl sie den Vorwurf, fremden- oder islamfeindlich zu sein, von sich weisen. Sie haben ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt, das durch die pauschalen Beschimpfungen unter anderem durch Politiker gestärkt wurde. Sie meinen, ihren Protest gegen politische Entwicklungen, die sie für falsch halten, nur bei Pegida zum Ausdruck bringen zu können. Letztere können und sollten in den demokratischen Diskurs einbezogen werden. Da hat sich meine Einschätzung nicht verändert.

Wir haben über Differenzierung gesprochen. Was ist die Summe der Teile?


Die Summe ist die besagte Empörungsbewegung, die sich montags in einer ritualisierten Form versammelt. Das Erscheinungsbild von Pegida macht Angst und weckt Erinnerungen an die Zeit der deutschen Geschichte, in der aus Mitläufern Nazis wurden.

Also gibt es doch ein Gefahrenpotenzial? Worum geht es denn wirklich?


Hans-Joachim Maaz rät zu einer sozialpsychologischen Betrachtung. Er sagt sinngemäß: Wenn die Lautstärke des Protestes im Hinblick auf das Problem übertrieben erscheint, dann sollte man davon ausgehen, dass etwas anderes dahintersteckt. Es hat sich etwas angestaut, was nicht öffentlich wurde. Ich glaube, dass viele Menschen Trauer in sich tragen. Ihre Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so sehr verändert, dass sie Verwurzelung und Heimat verloren haben, obwohl sie noch am selben Ort wohnen. Nun nimmt eine neue Veränderung Fahrt auf. Wo ist noch Sicherheit? Wo bleibt das Vertraute, wo die Wertschätzung der eigenen Lebensleistung? Aus unterdrückter Trauer wird Angst. Aus unausgesprochenen Ängsten und dem Gefühl der Ohnmacht wird Wut. Vom sogenannten Wutbürger sprach man meines Wissens erstmals im Zusammenhang der Proteste gegen Stuttgart 21.

Heimat ist ein wichtiges Stichwort. Wo geht denn die Heimat verloren?


Im ländlichen Raum eindeutig mehr als in Dresden und Leipzig. Für ältere Menschen mehr als für jüngere. Für Menschen, die in der DDR sozialisiert sind und schon einmal eine tiefgreifende politische Veränderung erlebt haben, mehr als für solche, die aus dem Westen hierherkamen. Die Zurückgebliebenen fühlen sich oft wie die Zurückgelassenen.

Wird das eigene Problem nicht nur auf die Flüchtlinge projiziert? War das nicht schon vorher da?


Ein Beispiel: Viele junge Frauen verhalten sich schon seit Langem mobiler, flexibler, den schulischen und universitären Anforderungen besser gewachsen als junge Männer. Natürlich können diese in den jungen, zumeist männlichen Flüchtlingen nun auch eine Konkurrenz erkennen. Sie projizieren auf diese ein Problem, das sie möglicherweise schon vorher hatten. Dennoch bleibt es eine vernünftige Frage: Welche Probleme entstehen, wenn die Gesellschaft lange Zeit von einem Männerüberschuss geprägt wird?

Ist Pegida also ländlich, männlich, weniger beweglich oder gebildet?


Meine Aussagen beziehen sich nicht nur auf die Demonstranten, sondern auch auf die Teilnehmer an Bürgerversammlungen und auf die Menschen, die sich schriftlich an mich gewendet haben. Da gibt es mehr ältere als jüngere, mehr mit Wohnsitz im ländlichen Raum als in den urbanen Zentren, mehr Männer als Frauen, mehr Menschen mit technisch-praktischer als solche mit sozial-kultureller Intelligenz. Viele meinen, die Politik funktioniere wie eine Werkstatt. "Wenn der Motor stottert, muss das kaputte Teil ausgewechselt werden." Das Verständnis für die repräsentative Demokratie ist schwach. Viele fühlen sich "von oben herab behandelt". Manche halten die Abgeordneten für ihre Angestellten, die ausschließlich ihre Interessen zu vertreten hätten. Dass Abgeordnete ihrem Gewissen folgen und das Allgemeinwohl anstreben sollen, das den Interessen einzelner Wählergruppen im konkreten Fall zuwider laufen kann, ist vielen unbekannt.

Woher kommt dieses Denken? Hat das auch mit der DDR oder der Zeit des Übergangs ab 1990 zu tun?


Monokausale Begründungsversuche sind einfach, billig und falsch. Die DDR und die Wende sind wahrlich nicht an allem schuld. Trotzdem gilt: Am Ende der DDR stand für viele eine enttäuschte Staatsgläubigkeit. Diese wurde kurzzeitig von der Gläubigkeit an den neuen Heilsbringerstaat ersetzt und erneut enttäuscht. Die Menschen auf dem Territorium der DDR erlebten zwei Diktaturen mit pseudoreligiösem Anspruch. Der Nationalsozialismus endete in einer Katastrophe. Mit der DDR verschwand die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. Diese war einerseits erkennbar funktionsuntüchtig. Andererseits begründete sie eine Ordnung, in welcher der Einzelne einen Platz hatte und vor globalen Bedrohungen beschützt wurde, in der es Ideale gab und in der man für konformes Verhalten Anerkennung erfuhr.

Das begründet dann die Ablehnung von Flüchtlingen?


Der Nationalismus stößt in einen weltanschaulichen Leerraum. Er bietet sich an. Der Einzelne ist wertvoll allein durch die Tatsache, dass er Deutscher ist. Außerdem ist der Osten Deutschlands die am stärksten säkularisierte Region Europas. Die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Mit den Flüchtlingen kommen Menschen mit einer robusten Religiosität und klaren Wertmaßstäben. Auch das bereitet Unbehagen.

Pegida vergleicht sich gerne mit 1989.


Ja, es gibt Ähnlichkeiten. Die Regisseure bedienen sich der Symbolik der friedlichen Revolution. Montagabend, "Wir sind das Volk." usw. Es gibt nicht wenige bei Pegida, die auch 1989 auf der Straße waren. Einer, der mit mir am 8. Oktober die Gruppe der 20 gegründet hat, sagte mir: "Frank, es ist wie 89. Die da oben machen, was sie wollen. Uns bleibt wie damals nur die Straße." Die Regisseure von Pegida knüpfen an das an, was in der Öffentlichkeit 25 Jahre lang als großartiges Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte dargestellt wurde.

Ist der 1989-Vergleich aber nicht zumindest politisch abwegig?


In der politischen Substanz gibt es große Unterschiede. Die Montagsdemos von 1989 richteten sich unmissverständlich gegen den Machtapparat der SED. Das Demo-Geschehen heute richtet sich auch gegen die Mächtigen. Aber es vollzieht sich in einem freiheitlichen und demokratischen Staat, in dem es zahlreiche andere Möglichkeiten der politischen Einflussnahme gibt. Pegida erzeugt Angst bei den Flüchtlingen, die die deutsche Politik nicht zu verantworten haben. Das finde ich widerlich.

Warum funktioniert Pegida ausgerechnet in Dresden?


Dresden ist die einzige Großstadt im Osten mit einer politisch konservativen Prägung. Pegida trat in Erscheinung mit politisch rechten, konservativen, nationalen und zum Teil nationalistischen Positionen. In Dresden ist mit geringerem Widerstand zu rechnen als in einer politisch links geprägten Stadt wie Leipzig. Dresden ist Residenz. In Dresden sitzt die Regierung. Wer demonstrieren will, geht dahin, wo regiert wird.

Dresden hat ein Umland, das seinen Protest in die Großstadt trägt. Auch das "Tal der Ahnungslosen" wirkt nach. Die Region war über Jahrzehnte mehr abgeschnitten als andere Regionen von Internationalität, Informationsaustausch und Weltoffenheit. Das war auch ein Vorteil. Dresden musste und konnte sich auf sich selbst konzentrieren. Dresden ist selbstbewusst. Professor Fischer von der TU meint, die Stadt hätte besondere Antennen. Themen, die im Grunde keine Dresdner Themen sind, wurden und werden in Dresden besonders intensiv diskutiert: die Wiedervereinigung zum Beispiel oder die Frage, ob und wie deutsche Städte an ihre eigene Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erinnern können, die Frage, ob man auf ein Weltkulturerbe verzichten kann und was es eigentlich wert ist. Und jetzt die Frage nach der Rolle des Islams in unserer Kultur. Dresden ist Schauplatz der politischen Auseinandersetzung. Dresden ist Kulisse. Dresden eignet sich als Bühne für große Inszenierungen. In Dresden spielt man Theater nicht nur im Theater. Wer hier auftritt, wird ausgeleuchtet. Dresden erlebt mit Pegida die Schattenseite seiner Prominenz.

Was glauben Sie, wie sich Pegida entwickelt?


Was lange angewachsen ist, wird nicht schnell vergehen. Die Themen Asyl, Flucht und Islam werden der Gesellschaft erhalten bleiben. Wenn die demokratisch legitimierte Politik keine tragfähigen Lösungen findet, können Populisten noch lange auf der Welle der Probleme surfen.

Kann Dialog dazu führen, dass die Leute nicht mehr auf die Straße gehen?


Ja, aber, dass Menschen auf die Straße gehen und dort gewaltfrei demonstrieren, ist nichts Undemokratisches. Sie machen von einem Grundrecht Gebrauch. Politische Lösungen freilich werden sie auf der Straße nicht finden. Es gibt keine vernünftige Alternative zu Dialog und Diskurs. Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen von Natur aus nicht schreien wollen, sondern reden. Warum werden Dialogforen, in denen Tausende Menschen mit kontroversen Positionen konfrontiert werden, kritischer bewertet als Vorlesungen, Theatervorstellungen, Vorträge oder Predigtgottesdienste? Bei denen wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie die Nachdenklichkeit und den inneren Dialog der Besucher auslösen. Ich sehe in der Geringschätzung niederschwelliger Angebote viel intellektuelle Arroganz. Kein Mensch kann sagen, wie sich die politische Situation ohne diese Angebote entwickelt hätte. Auf dem Scheitelpunkt von Pegida versammelten sich über 20 000 Menschen. Jetzt sind es 7 000. Ich weiß nicht, wo die 13 000 anderen geblieben sind. Vielleicht in den Dialogforen. Auszuschließen ist das nicht.



Das Gespräch führten Tobias Wolf und Andreas Weller.