Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 23.02.2016

Sachsen, Sachsen! Ei ei, das ist starker Tobak!

Von Oliver Reinhard

Blüht nach Clausnitz und Bautzen der restdeutsche Hass auf Sachsen auch deshalb so üppig, weil die Sachsen besonders typische Deutsche sind?


In der Nacht zum Donnerstag verüben Unbekannte einen Brandanschlag auf das Asylbewerberheim Löbau. Am selben Tag werden Flüchtlinge in Clausnitz von hundert hasserfüllten Gröler empfangen. 48 Stunden später brennt zum Beifall vieler Umstehender ein Asyl bewerberheim in Bautzen. Soweit die Bilanz fremdenfeindlicher Attacken der letzten Tage in Sachsen.

Im niedersächsischen Winsen geht eine Flüchtlingswohnung in Flammen auf. Soweit die Bilanz der fremdenfeindlichen Attacken der letzten Tage im Rest von Deutschland.

Nein, niemand muss sich darüber wundern, wenn Tausende empörte Kommentatoren seit dem Wochenende Sachsen mal wieder zum meistgehassten Bundesland erklären und die Sachsen zu den meistgehassten Bundesbürgern. Und dabei drücken sie sich nicht annähernd so zivilisiert aus wie J. W. Goethe: "Sachsen, Sachsen! Ei ei, das ist starker Tobak!" Die Taten weniger sächsischer Außenseiter pauschal allen Sachsen anzulasten, das ist zwar reinste Pegida-Dialektik und ebenso weit daneben. Doch dieser geringschätzige, ja verächtliche Blick hinab auf "die Sachsen" hätte keinen Anlass und fände weder Ziel noch Halt, wäre nicht der Freistaat tatsächlich das Bundesland mit den meisten offenen und aktiven Fremdenfeinden der Republik.

Wo die Schale am dünnsten ist


Dass Sachsen ein monströses Problem damit hat und die Landespolitik alles andere als unschuldig daran ist, steht außer Zweifel. Es wird intensiv thematisiert und debattiert, seit dem Aufkommen von Pegida läuft die Ursachensuchmaschine ohne Unterlass. Doch angesichts der Heftigkeit dieses restdeutschen Sachsen-Bashings stellt sich zugleich die Frage, ob es dafür noch andere Gründe gibt, jenseits der Ausschreitungen und Anschläge, und tiefer liegende.

Dieser Gedanke scheint auch den Autor Peter Richter zu bewegen. Zu seiner über die Flüchtlingspolitik besonders zerstrittenen Heimatstadt sagte er am Sonntag während seiner Dresdner Rede im Schauspielhaus: "Was also , wenn der tiefe Riss durch diese Stadt hier sich inzwischen im ganzen Land abbildete?" Umgekehrt klingt das noch zutreffender, und wer diesen Gedanken weiterdreht, landet früher oder später bei interessanten Fragen. Was also, wenn aus dem Rest der Republik auch deshalb so heftige Schelte ertönt, weil viele Sachsen und allen voran etliche Menschen aus Dresden und Umgebung "lediglich" besonders offen und unverstellt das Licht und die Schatten der deutschen Mentalität zutage tragen? Wenn viele Deutsche die vielen Anlässe nutzen und das, was sie an sich selbst fürchten oder hassen, lauthals von sich weg reden und auf "die Sachsen" projizieren? Wenn die gesamtdeutschen Risse im Firnis der zivi len und zivilisierten Gesellschaft in Sachsen "nur" offensichtlicher als anderswo sind? Jedenfalls hat sie was für sich, jene These, die Publizist Dieter Wildt 1965 in seiner "respektlosen Liebeserklärung" namens "Deutschland, deine Sachsen" aufstellte: "Sachsen, das sind Deutsche hoch zwei."

Wie er darauf kommt? Wildt fragt rhetorisch weiter: "Haben sie (die Sachsen) nicht lange vor den nichtsächsischen Deutschen versucht, durch Fleiß und Tüchtigkeit, durch Intelligenz und Erfindungsreichtum Ansehen zu gewinnen?" Tatsächlich zählten sie zu den Wegbereiter des Booms in Bergbau und Industrie sowie in Kultur- und Geistesentwicklung und standen in Sachen Organisations- und Verwaltungstalent den Preußen kaum nach. Überdies sagt man den Sachsen - und sagen viele Sachsen sich selbst - eine große Anpassungs- und Unterordnungsgabe nach. Jedenfalls solange die Dinge laufen.

Doch schon in glänzenden Barockzeiten schrieb der Schweizer Aufklärer Alfred von Haller 1775 in "Alfred, König der Angel-Sachsen": "Wenn sie (die Sachsen) undankbar sind, so ist die Quelle des Übels in der unabgewogenen Verfassung des Staats. Wo kein Gleichgewicht ist, da sind diejenigen allemal unzufrieden, deren Schale die leichteste ist." Wenn Haller recht hatte, machten die Sachsen also schon vor 250 Jahren gerne die Obrigkeit für Unbill verantwortlich und fühlten sich darüber hinaus schnell von außen bedroht, beleidigt, hintergangen. Zählt man die sprichwörtliche sächsische Selbstverliebtheit und den Willen, von aller Welt gemocht zu werden hinzu - lässt sich heute Deutscheres denken als eine Mischung aus Lehrmeisterei und Liebesbuhlen? Und wer sich anhört, wie man montags in Dresden über "die Politik" und "die Merkel" redet, sei erinnert an Worte des Moralphilosophen Nicolas Hieron, der 1735 über die Sachsen sagte, "wie sie gerne eine Sache größer machen, als sie in der That ist, so sagten Sie: der Kaiser wolle sie gar ausrotten."

Die klassischen, mental als Demütigungen erlebten Brüche der deutschen Geschichte; Sachsen hat sie mit- und sogar vorerlebt wie kaum eine andere Region. Schon 100 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg stand man bis zum Schluss bei Napoleon auf der falschen Seite. Bereits 1866 hielt Sachsen es mit "dem Österreicher" und verlor mit ihm den Krieg gegen Preußen. 1918 wurde das Königreich zur Provinz und 1933 zu Hitlers Super-Gau. Dresdens Zerstörung 1945 wuchs zum weltweiten Sinnbild der Schrecken und Traumata des modernen Bombenkrieges - und zur Projektionsfläche für Holocaust-Relativierer. Die DDR machte Sachsen endgültig zum Hinterland; genauso fühlten sich Millionen in der nach 1945 vorübergehend politisch kaltgestellten BRD in Europa. Die jüngste Pegida-Studie attestiert den Sachsen gleichsam als Gegenreaktion einen "sächsischen Chauvinismus", der mit Selbstüberhöhung und Bestehen auf Vorrechte für Alteingesessene einhergeht und "anderes" abwertet. Das klingt durchaus ein wenig nach gesamtdeutscher Analyse. Gleiches gilt für die Deutung des Soziologen und Extremismus-Experten David Begrich. Der sah den nach 1990 gerade in der Ära Biedenkopf von der Landespolitik liebdienerisch gepäppelten "Sachsenstolz" als "regionalen Nationalstolz" mit einer unangenehmen Begleiterscheinung: dem Wahn, alleine zu wissen, wie man zu leben und sich zu verhalten hat und wie nicht. So besehen, spiegelt sich im sächsischen nicht mehr und nicht weniger als das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen soll.

Die Ablehung des anderen


Ist also wirklich nirgends sonst "die Ablehnung des anderen tiefer in Politik und Kultur verankert", wie der Politologe Michael Lührmann schreibt? Es könnte zumindest erklären helfen, warum im Falle echter oder angeblicher Bedrohungen das gebrochene deutsche Selbstbewusstsein, die typische Selbsthassliebe, die sprichwörtliche Nervosität und Unsicherheit sowie der Hang zur Hysterie in Sachsen schnell auflodert, wo er andernorts "nur" schwelt oder stichflammt: Eben weil in vielen Dingen die Sachsen Deutsche hoch zwei sind.

Zwar funktioniert das Von-sich-selbst-Ablenken des restdeutschen Sachsen-Ba shing bestens: Alles redet von Clausnitz und Bautzen, niemand von Winsen. Doch die wahren Urheber dieser schrillen Begleitmusik sind nun mal Sachsen. Woraus die Verpflichtung folgt, Fremdenhass und Rassismus hier energischer und deutlicher vorzubeugen und in Wort wie Tat entgegenzutreten. Ob das geschehen wird, ist mit Blick auf das bisherige Verhalten der Landespolitik indes mehr als fraglich.

Umso dringender klang der Wunsch in Peter Richters Rede für Dresden und Sachsen: "Dass man das, was man zu kennen meint, noch mal ganz neu anschaut und prüft, ob es nur ein Modell für das Problem abgibt oder ... für eine Art von Lösung." Denn so oder so können nur die Sachsen selbst beweisen, dass Alfred von Haller vor 250 Jahren doch recht hatte: "Die Sachsen sind nicht böser als alle anderen Völker."