9. November 1938: das Progrom, Ignatz NACHER, seine Familie und die der Schauspielerin Camilla SPIRA

Wie es nach der Enteignung der Engelhardt-Brauerei mit Ignatz NACHER und seinen Verwandten weitergeht

Dieser Text ist die Fortsetzung des ersten Kapitels Die brutale Enteignung des Ignatz NACHER und seiner Engelhardt-Brauerei 1933/1934. Weitere Kapitel werden folgen.

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Das Jahr 1934

32 Jahre lang war Ignatz NACHER Chef, konkret: "Generaldirektor", und zugleich Mehrheitsaktionär der Engelhardt-Brauerei AG. Er hatte die kleine Mini-Brauerei namens "Engelhardt" in der Chausseestrasse 1901 gekauft und sie seither zum zweitgrößten Brauereikonzern Deutschlands aufgebaut. Dazu gehörten relevante Beteiligungen an mehreren bayerischen Brauereien (z.B. Hofbräu, Henninger Reifbräu u.a.), der Dortmunder Stiftsbrauerei und anderen. Und natürlich das Berliner "Groterjan"-Bier, sein "bestes Pferd im Stall", wie er immer betonte.

Weil Ignatz NACHER jüdischer Herkunft war, galt das beliebte "Engelhardt"-Bier und vor allem das Malzbier der Marke "Groterjan" als "Judenbier". Den Nazis war das ein Dorn im Auge. Und so war es dieses Unternehmen, das als eines der allerersten "arisiert" wurde: mittels Drohungen und Erpressung, Gefängnis und psychischer Folter - rekonstruiert unter Die brutale Enteignung des Ignatz NACHER und seiner Engelhardt-Brauerei. Ergebnis dieser Aktion:

  • Die Mehrheit der Engelhardt-Aktien befinden sich nun im Besitz der Dresdner Bank. Sie hatte mit dem nationalsozialistischen "Staatskommissar" von Berlin ein Tauschgeschäft arrangiert: Glienicker Park gegen Bier-Aktien.
  • Die Beteiligungen an "Groterjan" und den bayerischen Brauereien waren nun in den Händen des Münchner Eidenschink-Konsortiums, das - mit Hilfe eines Verwandten, dem SS-Mann Hans RATTENHUBER, der später Leibwächter von Adolf HITLER werden wird - Ignatz NACHER erst ins Gefängnis sperren ließ, ihm das lebensnotwendige Insulin verweigerte und dann den völlig zermürbten Industrieführer die Unterschrift abpresste.

Jetzt ist NACHER alle seine Brauereien los. Seine Sekretärin, der rechtzeitig die Auswanderung in die USA gelingen wird, wird 1953 berichten, dass Ignatz NACHER nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis und den abgepressten Unterschriften "einen gebrochenen und verzweifelten Eindruck" machte. Und sie „konnte nicht begreifen, dass ein Mann von seiner Stellung der Gewalt der neuen Machthaber so wehrlos preisgegeben sein könne."
Denn NACHER hatte mehr als 30 Pfund verloren "und sah furchtbar aus". Zuvor, bis 1933, war er das glatte Gegenteil: "ein Urbild der Kraft und Energie" (siehe dazu das Kapitel Von der Mini-Brauerei Engelhardt zum zweitgrößten Brauereikonzern - NOCH NICHT ONLINE, folgt als dritte Fortsetzung).

Soweit zu den bisherigen Geschehnissen in den Jahren 1933 und 1934.


1935 - das Jahr 3 seit der "Machtergreifung"

Auch wenn die Juden immer mehr ausgegrenzt werden - aus allen staatlichen Diensten als Lehrer, Richter, Ärzte an Krankenhäusern, der Verwaltung etc. sind sie längst entlassen - die Hölle der Vernichtungsmaschinerie hat noch nicht begonnen. In Deutschland sollen nächstes Jahr die Olympischen Spiele stattfinden und weil dann die ganze Welt zu Gast im Lande ist, will man sich einen schönen Schein bewahren. So wie das auch heutzutage üblich ist. Diktatoren und Tyrannen lieben die olympische Idee: Alle schauen auf die sportlichen Leistungen und niemand will wissen, was sich hinter den Kulissen abspielt.

Im Hintergrund arbeitet zu dieser Zeit im preußischen Innenministerium ein Mann, der bereits drei Jahre zuvor eine Verordnung auf den Weg gebracht hat, die es Juden unmöglich machen soll, einen als jüdisch geltenden Familiennamen abzulegen: Dr. Hans GLOBKE. Seine eigentliche Karriere wird der aufstrebende Verwaltungsjurist Dr. Hans GLOBKE allerdings erst in knapp 20 Jahren machen: in der späteren Bundesrepublik Deutschland als a) Staatssekretär und b) Chef des Bundeskanzleramts unter Bundeskanzler Konrad ADENAUER. ADENAUER wird dann einer Partei vorstehen, die das Wort "christlich"  als Markenzeichen nutzt.

Doch jetzt ist Oberregierungsrat Dr. Hans GLOBKE, der auch die sog. Gleichschaltung unmittelbar nach der Machtergreifung juristisch betreut hat, mit anderen Aufgaben betraut: Er soll seinem Chef mehrere Gesetze entwerfen. Unter anderem das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", auch "Blutschutzgesetz" genannt. Es muss rechtzeitig zum Reichsparteitag in Nürnberg vorliegen, wo es abgesegnet werden soll, damit es zum 1. Januar 1936 in Kraft treten kann.

Demnach ist dann unter Strafe (Gefängnis und Zuchthaus) verboten

  • die Eheschließung zwischen Juden und Nicht-Juden
  • außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nicht-Juden.

Sinn und Zweck: Die "Reinhaltung des deutschen Blutes".

Dieses Gesetz sowie zwei andere (siehe das Faksimile) werden später als "Nürnberger Gesetze" bezeichnet.


immer noch 1935: Reichsgerichtshof

In Ignatz NACHER, bis 1933 ein "Urbild der Kraft und Energie", inzwischen aber gesundheitlich stark angeschlagen, keimt ein wenig Hoffnung auf: Der Reichsgerichtshof hebt das Urteil der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Moabit in Berlin auf, das gegen "NACHER und Genossen wegen Betrugs" am 26. April 1934 verhängt worden war - im Zusammenhang mit dem Verkauf des ehemaligen Engelhardt-Hauses am Alexanderplatz:

"Das vorliegende Strafverfahren hat einen der Korruptionsfälle zum Gegenstande, die nach der nationalsozialistischen Revolution bei der Nachprüfung der Grundstücksgeschäfte der Stadt Berlin oder ihr nahestehender Gesellschaften aufgedeckt wurden", hatte es da in der Urteilsbegründung geheißen. NACHER war sofort in Revision gegangen.

Die Richter am Reichsgerichtshof, dem obersten Gericht, sehen das anders: Nach ihrer Auffassung "enthalten die Urteilsgründe nach dieser Richtung keine zweifelsfreie Feststellung. Aber auch in anderer Hinsicht sind die Ausführungen des Urteils mangelhaft und vielfach so unklar und unbestimmt, dass man nicht sicher erkennen kann, in welchem Tatbestande eigentlich die Strafkammer die strafbaren Handlungen der Angeklagten erblickt." Mit anderen Worten, aber so natürlich nicht einmal indirekt formuliert: Das Strafkammerurteil war politisch motiviert.

So hebt der Reichsgerichtshof das Urteil am 14. Februar unter dem Aktenzeichen "2D 1242/34" wieder auf und verweist es zurück an die Vorinstanz.

Allerdings: Es nützt Ignatz NACHER nichts mehr. Weil sich die Mehrheit der Deutschen mit dem neuen Zeitgeist längst arrangiert hat, die aktiven Nazis ihre "Säuberungsaktionen" abgeschlossen haben und das "nationalsozialistische" Gedankengut zum deutschen Volksgut geworden ist, hatte die Staatsanwaltschaft eine allgemeine Amnestie verkündet. Das Thema eines neuen Prozesses ist damit vom Tisch.


28. Dezember 1935

In der Kurfürstenstrasse 56 im Berliner Bezirk Tiergarten (Lützowviertel), wo schräg gegenüber Ignatz NACHER privat wohnt (Kurfürstenstrasse 129) und direkt nebenan im großen Eckgebäude sich die Konzernzentrale der Engelhardt-Brauerei befindet (Kurfürstenstrasse 131), die nun mehrheitlich der Dresdner Bank gehört, findet eine Aktionärsversammlung in kleinem Kreis statt: eine Sitzung der "Borussia AG für Brauereibeteiligungen".

In dieser Holdinggesellschaft waren u.a. NACHER's Beteiligungen an der Groterjan-Brauerei sowie den bayerischen Brauereien konzentriert, die sich das sog. Eidenschink-Konsortium aus München mit Hilfe a) ihres Anwalts Dr. Josef MÜLLER, dem sogenannten Ochsensepp, und b) dem SS-Mann Hans RATTENHUBER unter den Nagel gerissen hat.

Auch im Jahr zuvor hatte es - in kurzem Abstand - zwei kurze Sitzungen gegeben. Am 1. September 1934 hatte der Berliner Anwalt Dr. Albrecht ASCHOFF die im Gefängnis von NACHER erpresste Generalvollmacht benutzt, um nun die übrig gebliebenen Brauererbeteiligungen an die Eidenschink-Konsorten zu verkaufen. Dies war der 'Preis' für NACHER's Freilassung aus dem Gefängnis. NACHER musste zu diesem Zweck seine Funktion als Vorsitzender des Aufsichtsrats abgeben, die nun Anwalt Albrecht ASCHOFF einnahm, um den Verkauf abzusegnen. Die Sitzung hatte ganze 13 Minuten gedauert.

Kaum war der Deal abgewickelt, gab ASCHOFF kurze Zeit drauf in einer neuerlichen Aufsichtsratssitzung am 30.Oktober 1934 seinen Posten wieder an NACHER zurück. Auch im "Dritten Reich" musste alles seine Ordnung haben.

Nun sitzen Ignatz NACHER und seine beiden Brüder Rudolf und Sigmund NACHER beisammen. Rudolf NACHER als Vorstand der Borussia, Sigmund als Aufsichtsratsmitglied und Ignatz als Vorsitzender des Aufsichtsrats. Der gemeinsame Neffe der drei Brüder, Ferdinand NACHER, der bis 1933 als Prokurist bei der Engelhardt-Brauereri amtierte, war einer der ersten, der von den neuen Engelhardt-Männern bedrängt und gekündigt worden war. Ferdinand NACHER hatte sich sofort zur Auswanderung entschlossen, sitzt derweil in Brüssel und wartet dort auf eine Einwanderungsgenehmigung in die USA.

Die durch "Dividendenausfälle und bei Abstossung unserer Beteiligungen entstandenen Verluste haben das Geschäftsergebnis ungünstig beeinflusst", heißt es in dem handelsrechtlich notwendigen Jahresabschluss für das Finanzamt. Weil die Einnahmequellen nun für alle weggefallen sind, beschließen die Anwesenden,

  • die restlichen Vermögenswerte in das Privatvermögen von Ignatz NACHER zu übertragen
  • und die Borussia AG zu liquidieren, sprich zu beerdigen.

Die Borussia AG wird nur 8 Tage darauf im Handelsregister auch offiziell gelöscht. Sie hat damit aufgehört zu existieren.


1936

Damit ist auch für Ignatz NACHER's Brüder Rudolf und Sigmund NACHER sowie deren Familien die finanzielle Existenzgrundlage entfallen.

  • So muss Sigmund NACHER sein Zweifamilienhaus verkaufen und zieht mit seiner Ehefrau Elisabeth in eine kleine 2 1/2-Zimmer Mietwohnung am Hohenzollerndamm 184. Bis 1933 war er als Außenvertreter für die Engelhardt-Biere unterwegs. Die Aufsichtsratsfunktion war ein kleines Zubrot.
    Sigmund und Elisabeth NACHER's Wohnung bekommt im April Zuzug: ihre 35jährige und geschiedene Tochter Margarete MUNDERSTEIN mit ihrem sechsjährigen Sohn Thomas MUNDERSTEIN. Jetzt wird es am Hohenzollerndamm enger.
  • Rudolf NACHER hatte das Vorstandsamt bei der Borussia AG im Hauptberuf ausgeübt- Und für 'schlechte Zeiten' finanziell vorgesorgt. Nun ist er als "Privatsekretär" für Ignatz NACHER tätig, der sich das - derzeit - noch leisten kann. Rudolf NACHER hat Frau und seine beiden Kinder, Peter (3 Jahre) und Hannah (2 Jahre) zu Hause, die er ernähren muss.

Derweil glänzt Deutschland vor aller Welt mit Olympia:

33 Goldmedaillen, 26 Male Silber und 30 mal Bronze, insgesamt 89 Medaillen. Mit einem Vorsprung von 33 Medaillen vor den Vereinigten Staaten von Amerika führt Deutschland die Spitze an. Alle anderen Sportnationen folgen weit abgeschlagen. Die Nationalsozialisten haben, was sie wollten: ein hervorragendes Image im Ausland. Nicht nur sportlich gesehen.


danach

Camilla SPIRA, die Schwiegertochter von Ignatz NACHER, fühlt sich immer unwohler. Vor 1933 befand sie sich auf dem Weg einer steilen Schauspielerinnenkarriere. Sie hatte 1930 im beliebten Singspiel "Zum Weißen Rößl am Wolfgangsee" erst im Großen Schauspielhaus in Berlin und dann in der gelichnamigen Verfilmung die Rolle der "Rößl-Wirtin" gespielt. Hatte als "Julchen" im "Schinderhannes" und im Film "Das Testament des Dr. Mabuse" von Fritz LANG geschauspielert (siehe Foto). Fritz LANG, der berühmte Regisseur und Filmemacher, der die Klassiker "Metropolis" (1927) oder "M" (1931) gedreht hatte, ist längst in die USA ausgewandert, dreht jetzt in Hollywood.

Sie, der man noch Anfang Februar 1933 in Anwesenheit der Zuschauer Hermann GÖRING, Joseph GOEBBELS und Adolf HITLER bei der Uraufführung des U-Boot-Films "Morgenrot" im Berliner Ufa-Palast einen Lorbeerkranz umgehängt hatte, auf dem in goldenen Lettern zu lesen stand "Der Darstellerin der deutschen Frau", darf jetzt nur noch auf den bescheidenen Bühnen des Jüdischen Kulturvereins auftreten.

Doch die Aufführungen werden seltener, die Honorare schmaler. Die meisten der Deutschen jüdischen Glaubens haben entweder kein regelmäßiges Einkommen mehr, weil sie entlassen wurden, oder schlagen sich sonstwie mehr schlecht als recht durchs Leben. Kultur kommt - frühestens - an dritter Stelle - nach Essen und Trinken sowie Miete.

Camilla SPIRA geht es vergleichsweise gut. Ihr Ehemann, Hermann EISNER und an Kindes statt angenommer Sohn von Ignatz NACHER und mit ihm gleichzeitig aus dem Vorstand der Engelhardt-Brauerei 1933 entlassen, ist gelernter Rechtsanwalt. Rechtlichen Beratungsbedarf gibt es schon wegen der zunehmenden Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung am öffentlichen Leben. Offiziell darf Hermann EISNER seinen Beruf nicht mehr ausüben. Nur noch illegal. Das funktioniert im Augenblick. Noch.

Camilla SPIRA drängt ihren Ehemann: Wer weiß, wie lange das noch 'gutgehen' kann? Auswandern wäre eine Option. Fritz LANG in Hollywood würde sie mit offenen Armen empfangen!

Dr. Hermann EISNER ist anderer Ansicht: "Wie lange kann sich dieser Unteroffizier mit dem Schnauzbärtchen da oben wohl noch halten?"


1937

In Spanien tobt derweil der Bürgerkrieg. Adolf HITLER und seine Wehrmachtgeneräle stehen auf Seiten des General FRANCO.

Im April eilen sie ihm zu Hilfe: Deutsche Piloten der "Legion Condor", deren Flugzeuge ohne nationale Kennung flogen und für die verdeckte Operationen zuständig waren, zerstören die kleine Stadt Guernica im Baskenland. Und töten Hunderte von Menschen. Die Basken gelten schon immer als 'aufsässig', ebenso wie die Katalanen, die nach mehr Autonomie streben. General FRANCO will mit dem allen ein für alle Mal Schluss machen.

Der Aufbau der "Legion Condor" begann bereits ein Jahr früher. Ebenso wird seither die Rüstungsproduktion forciert - im Geheimen. Aber die Geschäftsberichte der Firmen Krupp und Flick strotzen nur so von satten Zahlen. Und im Ruhrgebiet vermelden die Kohlezechen nur steigende Förderzahlen. Das Ausland stellt keine Fragen.

Auch nicht, als japanische Truppen erst die chinesische Küste überfallen und dann Peking einnehmen.

Währenddessen werden in Deutschland keine jüdischen Bewohner mehr zu Doktorprüfungen zugelassen. An den jüdischen Schulen werden die verbliebenen jüdischen Lehrer aus dem Beamtenverhältnis entlassen: staatliches Gehalt gibt es nun auch für diese Berufsgruppe nicht mehr. Und Auslandsreisepässe für Juden werden nur noch mit Sondergenehmigung erteilt.


Frühjahr 1938

Im April wird von deutschen Beamten eine Verordnung ausgearbeitet, die von Hermann GÖRING verkündet wird: Die "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden." Alle jüdischen Bürger, in Deutschland, aber auch in Österreich, das einen Monat zuvor dem Deutschen Reich mithilfe der Wehrmacht sowie SS-Einheiten einverleibt wurde, müssen ab sofort alles schriftlich deklarieren, was sie an Vermögenswerten über 5.000 RM besitzen. GÖRING braucht Geld für seinen Vierjahresplan, der Bestandteil der Kriegsvorbereitungen ist.

Wer gegen die Verordnung verstößt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen: Geld- und Haftstrafen bis zu zehn Jahren Zuchthaus. Außerdem: Einzug des Vermögens durch Vater Staat.

Auch Ignatz NACHER muss sich dieser Verordnung beugen. Zu seinen ihm verbliebenen Besitztümern zählen auch einige Orignialgemälde, an denen er sehr hängt.

Wenig später - NACHER hat seiner Anmeldepflicht Genüge getan - klingeln an seiner Wohnungstüre mehrere Männer. Sie stellen sich nicht vor, gehen ins Wohnzimmer, hängen drei Bilder ab und verschwinden ebenso wortlos wie sie gekommen sind. Sie nehmen mit

  • zwei Originalbilder von Lucas CRANACH dem Älteren, einem Maler aus dem 16. Jahrhundert,
  • ein Portrait von Franz von LENBACH "Junge mit Hund", das gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist.

Wer die Männer waren, wohin die Bilder verbracht wurden und wer sie heute illegal besitzt, ist unbekannt.


Juli 1938

Die Dresdner Bank, die seit 1934 Mehrheitsaktionärin der Engelhardt-Brauerei ist, hat inzwischen weitere Geschäftsfelder erschlossen: die SS. Anders gesagt: Die Dresdner Bank ist inzwischen zur Hausbank der SS und ihrer Wirtschaftsbetriebe aufgestiegen. Die Konzentrationslager, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht als industrielle Vernichtungsmaschinerie arbeiten, aber Menschen gefangen halten, körperlich und physisch durch Demütigungen und Arbeitskommandos foltern und ruinieren, werden als Wirtschaftsunternehmen geführt. Meist als GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) - mehr dazu an anderer Stelle unter Die SS, die KZ's, die Dresdner Bank und das Bundesverdienstkreuz.

Die Dresdner Bank finanziert in diesem Rahmen auch die adretten Ein- und Zweifamilienhäuser, in denen Deutsche eben gerne wohnen: in den eigenen Vier-Wänden.

Und so ist es auch bei den KZ-Aufsehern der Fall. "Die SS-Siedlungen wurden meist wie ein Kranz um die Lagerbereiche herum an geeigneten und landschaftlich schönen Punkten, in Entfernungen von drei bis sechs Kilometern angelegt", wird Eugen KOGON 1945 über "Das System der deutschen Konzentrationslager" schreiben.

Der Dresdner Bank-Chef Carl GOETZ, der in über 40 Aufsichtsräten der Rüstungsindustrie sitzt (Friedrich Krupp, Mauser-Werke, AEG, RWE, Wintershall, Degussa u.a.m.) macht sich Sorgen, die er schriftlich festhält:

"Es gibt heute Gesellschaften, die für die Rüstung oder Rüstungsbestriebe Arbeiten leisten, die sie formell in ihrem Geschäftsbericht erwähnen müssten. Der Vorstand (gem. der Dresdner Bank, Anm.d.Red.) faßt für sich den Beschluß, das im Geschäftsbericht unter den Tisch fallen zu lassen, weil das Wohl des Volkes auf dem Spiel steht."


ab Sommer 1938: die Schlinge zieht sich immer mehr zu

Die Nationalsozialisten und ihre treuen nicht-jüdischen Staatsdiener perfektionieren das jüdische Meldesystem:

  • Im Juli wird eine besondere Kennkarte für Juden eingeführt.
  • Ab August müssen jüdische Männer den Namen "Israel" als Zweitnahmen vor dem Nachnamen führen, Frauen den Namen "Sara"
  • Seit Oktober wird in die jüdischen Pässe ein rotes "J" eingestempelt.

Ebenfalls im Oktober 1938: Die Deutschen besetzen - nach dem sogenannten Münchner Abkommen im September - das Sudetenland, einen Teil der Tschoslowakei, in dem kanpp 3 Millionen Deutsche leben. Die Gebiete mit über 3.000 Gemeinden werden als "Reichsgau Sudetenland" dem Deutschen Reich einverleibt.

Das Ausland akzeptiert. Adolf HITLER ist international längst als ernst zu nehmender Staatsmann anerkannt.


Herbst 1938

Inzwischen hat sich Dr. Hermann EISNER von seiner Ehefrau Camilla SPIRA überzeugen lassen: irgendetwas ist im Busche. Ähnlich spricht es auch Ignatz NACHER im Kreise seiner Familie aus. Seine vielen Freunde und Bekannte aus dem Geschäftsleben, aber auch aus seinen privaten Kreisen, haben sich längst von ihm losgesagt, halten keinerlei Kontakt mehr zu dem ehemals großen und einflussreichen Industrieführer. Umso wichtiger sind die Kontakte zu seinen Verwandten. Sein Neffe Peter NACHER, 5 Jahre alt und Sohn seines Bruders Rudolf, sowie sein Großneffe Thomas MUNDERSTEIN, 8 Jahre, sind jetzt öfters zu Besuch in der Kurfürstenstrasse 129.

Hermann EISNER und Camilla SPIRA sind mit einem Schiff nach New York gefahren, wollen in den USA erkunden, ob und wie man dort leben kann. EISNER's Neffe, Ferdinand NACHER und Sohn von einem der Brüder von Ignatz NACHER, hat sich bereits 1933 aus Deutschland abgesetzt und lebt jetzt in Forrest Hills. Mit einem Affidavit, ausgestellt von Fritz LANG in Hollywood, konnten sie eine Schiffspassage von Amsterdam aus buchen. Offiziell gilt seine Überfahrt als 'Geschäftsreise'. Camilla kann "Hollywood" geltend machen - Fritz LANG würde sie gerne als "Star" aufbauen.

In New York, wo man bei Ankunft mit dem Schiff von der "Freiheitsstatue" begrüßt wird, werden beide ersteinmal auf Ellis Island festgesetzt: einer kleinen vorgeschobenen Insel, die als Immigranten-Sammelstelle genutzt wird. Sie gelten mit ihrem jüdischen Auslandspass als "einreiseverdächtig". Auf Betreiben von Fritz LANG und anderer bereits assimilierter Immigranten aus Deutschland kommen sie frei, können sich in New York City umsehen.

Was sie sehen, verstört beide sehr: Schilder mit der Aufschrift "gents only", die nichts anderes meinen als "no black people", an allen Orten, hier, da und dort. Ihr Entschluss steht bald fest: Sie sehen keinen Unterschied zwischen den USA und Deutschland: Rassendiskriminierung hier und zuhause.

Sie buchen ihre Rückfahrt für Anfang November auf dem niederländischen Schiff "Rotterdam". Zu Hause warten auch ihre beiden Kinder auf sie: Peter EISNER, 11 Jahre und seine Schwester Susanne, zehn Jahre jünger.


10. November 1938, morgens

Während das Schiff auf seinen Heimathafen zusteuert, gehen per Funk in holländischer Sprache die ersten Meldungen ein: von den Geschehnissen des letzten Abends, die bis in den frühen Morgen dauerten: Progromstimmung in den Städten und auf dem Land, zerstörte Synagogen, Verhaftungen jüdischer Männer und Tote.

Hermann und Camilla melden sofort ein Auslandgespräch an, telefonieren mit Ignatz NACHER, wollen wissen, was genau passiert ist, stellen Fragen.

Ignatz NACHER merkt, dass sie ungefähr wissen, was passiert ist, ist sich selbst unsicher, ob er abgehört wird oder nicht, sagt, dass es ihm gut gehe und gibt nur diese Empfehlung am Telefon durch: Sie solllen sich noch etwas Urlaub gönnen!

Hermann und Camilla verstehen das Signal, legen auf und wissen nicht, was sie zuerst tun sollen.


Kleine Rückblende in die letzten Stunden: die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938

Ignatz NACHER hatte Glück: Niemand hat an seiner Tür geklingelt. Keiner hat ihn verhaftet. Und er wurde nicht in ein Gefängnis oder KZ verschleppt. Offenbar haben ihn die Nazis - möglicherweise schon wegen seines Alters von jetzt 70 Jahren - bereits abgeschrieben.

Anders bei seinem 38jährigen Bruder Rudolf NACHER. Ihn hat man aus dem Bett geholt und ersteinmal eingekerkert.

Dass einer seiner engsten Freunde, gleichzeitig langjähriger Geschäftspartner in Bamberg, Wilhelm LESSING, auf brutalste Weise von SA-Männern erschlagen wurde, weiß Ignatz NACHER zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ignatz NACHER wird erst später erfahren, was in der Nacht passiert ist. Und wie alles zusammenhängt:

In Berlin hatte der Abend am 9. November ersteinmal normal begonnen. Auch in Leipzig. Dort hat Wilhelm Furtwängler mit seinen Berliner Philharmonikern ein Gastkonzert dirigiert: BEETHOVEN's Klavierkonzert in G-Dur, Anton BRUCKNER, Sinfonie Nr. 5 in B-Dur. Tosender Applaus.

In München hält sich fast die gesamte NSDAP-Parteiprominenz in der "Hauptstadt der Bewegung" auf. Feierlicher Gedenkmarsch zur Feldherrnhalle. "Der Führer legt an den erzenen Sarkophagen der Blutzeugen vom 9. November 1923 Kränze der Treue und der Dankbarkeit nieder", vermeldet der "Völkische Beobachter". Kurz darauf stirbt der am Vortag in Paris von Herschel GRYNSZPAN erschossene deutsche Legationsrat. Diese Tat: eine persönliche Rache, die eine tiefere Ursache hat. Mehr dazu unter Das Vorspiel (NOCH NICHTONLINE).

Diese Nachricht ist das Thema Nr. 1 beim abendlichen "Kameradschaftsabend". Adolf HITLER, der eigentlich eine Rede halten wollte, geht ohne ein Wort zu sagen. Propagandaminister Joseph GOEBBELS übernimmt das Wort. Und weist auf judenfeindliche Kundgebungen und Spontanaktionen in Hessen hin. Macht klar, "daß derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren seien; soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten!"

Die vielen anwesenden Gauleiter haben verstanden. Der Kameradschaftsabend löst sich auf - die Partei- und Gauleiterbonzen beginnen zu telefonieren ...


Bamberg: 9. und 10. November

In der Nobel-Gaststätte "Messerschmitt" sitzen - nach den feierlichen Kundgebungen zum 9. November auch in Bamberg - spätabends die Bamberger Parteifunktionäre beim Bier zusammen. Die Bamberger Nazi-Bonzen treffen sich nicht irgendwo, sondern pflegen dies in Bamberg erster Adresse in der Langestraße zu tun.

Einziges Gesprächsthema dieses Abends: die Schüsse von Paris und der Tod des Botschaftsrates. Es herrscht schon die ganze Zeit eine unruhige Spannung, da wird plötzlich der NSDAP-Kreisleiter Lorenz ZAHNEISEN ans Telefon gerufen. Am anderen Ende: die Gauleitung in Bayreuth.

Kaum vom Telefon zurück schrillt die Stimme ZAHNEISEN's durch den Saal: »Einheitsführer raus

Im sogenannten Schlauchzim­mer geben er und sein Kreispropagandaleiter Bergner bekannt, "daß auf Befehl von oben die Synagogen zerstört werden müs­sen. Die Polizei ist verständigt und wird nicht einschreiten. Au­ßerdem sind die Fernsprecher für Zivil gesperrt". Auf die Frage, woher denn so schnell "Einbrecherwerkzeug" nehmen,  bietet  der  Sturmführer des  "Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK)" DÖRNBERGER, der Besitzer der ganz in der Nähe gelegenen "Luisengarage" ist, seine Hilfe und sein Werkzeug an.

Als die mit entsprechender Ausrüstung und Benzinkanistern be­waffneten Parteimänner an der Synagoge in der Herzog-Max-Straße eintreffen, waren andere schon schneller: SA-Sturmfüh­rer HERTEL und Sturmbannführer SAUER geben ihren Mannen die Kommandos: Inneneinrichtung zerstören, zerschlagenes Holz und Stoff vor dem Altar zusammenlegen, Benzin drüber und Feuer an!

Inzwischen haben sich nicht nur weitere NSKK-Leute eingefun­den, jetzt hat auch die alte Parteigarde ihren Stammplatz bei »Messerschmitt« mit dem Ort, 'wo es 'was zu sehen gibt', ge­tauscht. Die Neugier über das aufregende Spektakel treibt auch immer mehr Zivilisten dazu. Kreisleiter Lorenz ZAHNEISEN, der gerade von einem »Kontrollgang« durch die Innenstadt zurück­kommt: "Das Feuer brennt doch gar nicht richtig!"

Weitere Brandherde auf der Empore und unter der Dachkuppel bringen das Feuer erst richtig in Gang. Gegen 1 Uhr 10 taucht die Feuerwehr auf. Der anwesende Staatsanwalt SPIEß zum Lösch­trupp: die Feuerwehr solle sich nicht um Dinge kümmern, die sie nichts angingen! Als der Stahlrohrführer des ersten Löschzuges, Georg KREISER, trotzdem versucht, mit seinem Löschrohr in den Vorraum der Synagoge zu gelangen, wird er von den betrunke­nen SA- und NSKK-Männern, die mit Eisenprügeln Wache stehen, hinausgescheucht. Gegen 2 Uhr schlagen die Flammen durch die Fenster.

Zu dieser Zeit wird der Vorsteher der jüdischen Kultusge­meinde, Wilhelm LESSING, von allen »Willy« LESSING genannt, per Telefon aus dem Schlaf gerissen. Willy LESSING, früher mit dem Berliner Bier-Pionier und Ex-Generaldirektor Ignatz NACHER aus Berlin an mehreren bayerischen Brauereien, u. a. an der Hofbräu in Bamberg und der Henninger Reifbräu in Erlangen (beide firmieren heute unter »Patrizierbräu«) sowie kleineren Braustätten in Weiden und in Lichtenfels gemeinschaftlich betei­ligt, ist schon lange enteignet. Die Aktienanteile befinden sich zum größten Teil im Besitz des »Eidenschink-Konsortiums« in München bzw. sind inzwischen weiterverkauft - mit einem Ge­winn von 511.934 Mark.

Willy LESSING, seines Vermögens und seiner Einkommensquelle total beraubt, bleibt trotzdem in seiner Heimatstadt. Er kümmert sich als Gemeindevorsteher um die immer dringlicher werdenden Nöte und täglichen Sorgen seiner Gemeindemitglieder.

Im Mantel, den Hut ins Gesicht gedrückt, steht Willy LESSING auf der Urbanstraße in Höhe der Gastwirtschaft »Krug zum grünen Kranze« (heute: »Ristorante Paolo«), von wo er schon die lo­dernden Flammen aus dem Gotteshaus sehen kann, vor einer Absperrkette aus SA-Männern, die ihn erkennen und ihrem Mannschaftsführer einen Wink geben. Der geht auf Willy LESSING zu und versetzt ihm einen Hieb gegen die Brust: LESSING taumelt benommen zurück. Die SA-Männer, von dem Schau­spiel der Zerstörung schon richtig aufgeheizt, machen sich ein Vergnügen, indem sie den Gemeindevorsteher unter lautem Ge­gröle die Urbanstraße zurückscheuchen bis LESSING mit dem Rücken am Gartengitter des Eckhauses Herzog-Max-Straße/ Amalienstraße Nr. 8 steht, die SA-Leute direkt vor ihm. "Du Saujude", "Dreckjude", "Stinkjude" - fünf SA'ler haben endlich Gelegenheit, ihren aufgestauten Haß auszuleben: Die jungen und kräftigen Kerle schlagen den 57jährigen mit Fäusten in den Bauch und ins Gesicht, treten ihn mit ihren gespornten Uniformstiefeln, werfen ihn an das Eisengitter zurück. LESSING fällt in sich zusammen. Die SA-Männer sind noch nicht fertig: Sie reißen ihn wieder hoch, lehnen ihn am Gartengitter an, zwingen ihn zu sprechen, er sei ein "Saujude", ein "Dreckjude", ein "Stinkjude", schlagen ihn erneut zusammen und trampeln, als LESSING flach auf dem Gehweg liegt, mit ihren Uniformstiefeln auf dem regungslosen Menschenkörper herum. Sie lassen ihn einfach liegen.

Willy LESSING, der sich irgendwann wieder aufraffen kann und sich taumelnd die Gitter entlang nach Hause in die nicht weit entfernte Sophienstraße Nr. 8 (heute "Willy-Lessing-Straße") schleppen kann, bricht dort zusammen. Als LESSING's Frau, zu Tode erschrocken, ihren Mann, so gut das überhaupt geht, ver­binden möchte, brechen draußen von der Straße her Zivilisten die Haustür ein, stürzen sich auf den Halbtoten, schlagen ihn so, wie sie ihn finden, mit den Fäusten auf den Rücken, zerren ihn die Treppe herunter auf die Straße, lassen ihren Haß nochmals mit Fäusten aus und schleifen ihn bis zur Hausnummer 4.

Erst jetzt lassen sie von ihm ab und ziehen weiter. Ein Teil der Zivilisten hat derweil einen Korb Holzwolle in der Wohnung angezündet. Als die Flammen schnell um sich greifen und die deutschen "Christen" in Zivil um die angrenzenden Häuser ihrer Volksgenossen fürchten, löschen sie das Feuer an Ort und Stelle und türmen.

Es ist gerade 3 Uhr, als sich Willy LESSING, blutverschmiert mit letzter Kraft nochmals nach Hause schleppen kann. "Lessing stand von seinem Bette nicht mehr auf", wird das Gerichtsproto­koll später konstatieren.


Berlin, 10.November, Donnerstag abends

Hier eilen die kulturbeflissenen Berliner und andere (nichtjüdische) Deutsche in die Deutsche Staatsoper zu "Richard WAGNER" - der 30jährige Herbert von KARAJAN dirigiert "Tristan und Isolde". Im Staatlichen Schauspielhaus gibt es ein Jubiläum besonderer Art: Gustav GRÜNDGENS spielt zum 100. Male den "Hamlet".

Deutschland, das "Land der Dichter und Denker"...


Die jüdische Bevölkerung verharrt derweil in Schockstarre.

Rund 400 Juden werden in dieser Nacht deutschlandweit ermordet, etwa 1.400 Synagogen und Betstuben verwüstet oder abgefackelt, jüdische Friedhöfe geschändet, an die 30.000 Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Viele werden dort gequält und kommen dabei zu Tode. Überlebende werden nach einiger Zeit wieder freigelassen. Diesesmal.

Doch jetzt zieht sich die Schlinge zu:


danach

Hermann  GÖRING, ein "Kämpfer" der ersten Stunde, jetzt Nazi als Multifunktionär - Preußischer Innenminister, Preußischer Ministerpräsident, Reichstagspräsident, Reichsminister ohne Geschäftsbereich, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Beauftragter für den Vierjahresplan, der den Kriegsvorbereitungen dient und parktischerweise auch Chef der Hermann-Goring-Werke - beruft eine Sitzung ein. GÖRING ist sauer. Die Schäden, die in der sogenannten Reichskristallnacht entstanden, sind auch ein wirtschaftliches Problem. Das viele Glas, das zu Bruch gegangen ist, muss jetzt in Belgien geordert werden - die deutschen Glasproduzenten sind in die heimliche Kriegsproduktion eingebunden. Glas aus Belgien kostet Devisen. Wo soll er die hernehmen? Und wer ersetzt jetzt die riesigen Schäden? Wer kommt finanziell dafür auf?

"Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet", wird GÖRING die Sitzungsteilnehmer anherrschen. So wird es das Sitzungsprotokoll später vermerken.

Wichtigster Teilnehmer der Sitzung, die am 12. November stattfindet: der Chef der Allianz-Versicherung, der gleichzeitig auch Leiter des Branchenverbandes, der "Reichsgruppe Versicherungen" ist. GÖRING will mit ihm die versicherungsrechtlichen Fragen klären und die von der Allianz eigentlich auszuzahlenden Versicherungsgelder für seinen Vier-Jahres-Plan selbst einkassieren.

GÖRING hat bereits einen Plan, wie er dem Allianz-Mann diesen Vorschlag schmackhaft machen will ... (mehr unter Das Novemberprogrom 1938 und die Allianz-Versicherung (NOCH NICHT ONLINE).


12. November 1938, Samstag

Nach der Sitzung am Samstag, den 12. November, die mehr als 3 1/2 Stunden gedauert hat, erlässt Hermann GÖRING noch am selben Tag 3 Verordnungen:

  1. Die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben.". Danach darf ab sofort kein Jude mehr "Betriebsführer" sein. Und er schafft damit die rechtliche Grundlage, dass Arier jüdische Geschäfte, Fabriken und sonstige Unternehmen "arisieren" dürfen. Ebenfalls ab sofort verboten: jüdische Handwerksbetriebe und das Feilbieten von Waren jegiicher Art, mit dem sich viele jüdische Deutsche mit knapper Not finanziell über Wasser halten konnten. Damit ist es jetzt vorbei.
  2. Jüdisches Kapitelvermögen und wird eingezogen
  3. Parkbänke erhalten die Aufschrift "Nur für Arier", Juden dürfen nicht mehr in Kinos, Theater, Bibliotheken, Museen oder Schwimmbäder gehen.
    Viele Geschäfte und Restaurants hängen jetzt Schilder auf, so wie in den USA: "Juden unerwünscht"
    Und: ab 15. November ist der Gesuch von "jüdischen" Schülern in "deutschen" Schulen verboten.

Hermann GÖRING begründet das Schulbesuchs-Verbot so:

Dass es "nach der ruchlosen Mordtat von Paris ... keinem deutschen Lehrer und keiner Lehrerin mehr zugemutet werden kann, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen."

Die "Rassentrennung im Schulwesen" sei zwar schon seit mehreren Jahren erfolgt, doch gäbe es immer noch "Restbestände" an Ausnahmen.

Von dieser Verordnung ist jetzt auch der achtjährige Thomas MUNDERSTEIN betroffen, der Großneffe von Ignatz NACHER, der in einer 2 1/2-Zimmerwohnung am Hohenzollerndamm 184 lebt, zusammen mit seiner Mutter (geschieden) und seinen beiden Großeltern.


danach

Der Protest der restlichen Welt hält sich in Grenzen. Keiner der Staatsmänner steht auf, redet Klartext.

Jetzt wollen die meisten Menschen jüdischen Glaubens oder jene, die als solche gelten, so schnell wir möglich aus Deutschland raus. Die Nazis hätten nichts dagegen. Aber: Alle Länder haben strenge Einreisequoten, von denen sie nicht ablassen. Und die Wartelisten sind lang.

Vor allem Großbritannien bzw. der amtierende Ministerpräsident Neville CHAMBERLAIN erklärt sich nach mehreren eindringlichen Gesprächen von einflussreichen Juden und Quäkern bereit, zumindest einige Kinder aufzunehmen, wenn für deren Lebensunterhalt gesorgt wäre: maximal 10.000 kids. Das Gleiche bieten die Niederlande an.

Die Organisation klappt gut, es bilden sich auf der Stelle mehrere zivilgesellschafliche Initiativen, die alles in die Wege leiten. Die staatlichen Behörden unternehmen nichts.

So kann der erste Kindertransport bereits am 30. November starten. Es sind herzzerreißende Momente, wenn sich Kinder von ihren Eltern verabschieden (müssen) - nur mit einem kleinen Köfferchen in der Hand und maximal 10 RM. Und die meisten Eltern wissen, dass sie ihre Kinder vermutlich nie mehr wiedersehen werden.

Der erste Kindertransport kommt am 1. Dezember in England an, technisch durchgeführt vom Internationalen Roten Kreuz.

Am 11. Dezember stehen Camilla SPIRA und Hermann EISNER am Hauptbahnhof von Amsterdam und warten ungeduldig, bis der Zug einfährt. Sie nehmen überglücklich ihre beiden Kinder Peter und Susanne in Empfang.

Insgesamt werden es etwa 20.000 Kinder sein, die ihren Häschern entrissen werden (können). Knapp ein Jahr später ist auch das zu Ende: Adolf HITLER und seine ihm ergebenen Soldaten der Deutschen Wehrmacht fallen in Polen ein und zetteln den größten Weltkrieg der Geschichte an.


Das Jahr 1939

In Berlin hat Ignatz NACHER inzwischen seine große Wohnung in der Kurfürstenstrasse 129 aufgegeben, wohnt jetzt in einer kleinen Behausung am Kurfürstendamm 73. Seiner Privatsekretärin ist es gerade gelungen, nach England auszureisen. Von dort schafft sie es später in die USA.

Nachdem nun seine eigenen Kinder nicht mehr zurückkommen (können), hält ihn nichts mehr. Auch Ignatz NACHER will jetzt Deutschland verlassen. Er beauftragt einen (arischen) Steuerberater, der sich mit Devisenangelegenheiten auskennt. Und der seitens der Behörden auch mit Sondergenehmigung auswanderungswillige Juden beraten darf. NACHER achtet peinlich darauf, nicht bei irgendwelchen Behörden anzuecken.

Allerdings: So ohne weiteres lassen die Nazis 'reiche' Juden nicht raus aus dem Land. Sie werden vorher noch ordentlich geschröpft. Auch der frühere Engelhardt-Brauerei-Chef.

So muss Ignatz NACHER im März ersteinmal wegen der Schäden in der Progromnacht die zweite Rate seiner "Sühneleistung" an sein zuständiges Finanzamt Schöneberg bezahlen:

Kurz darauf meldet sich das Finanzamt in Bamberg: Die treuen Finanzbeamten machen eine Steuerhinterziehung in Sachen Brauereisteuer aus alten Zeiten geltend: 150.000 Reichsmark.

NACHER ist geschockt über diesen Vorwurf - mit Steuerehrlichkeit hat er es schon immer gehalten und eine kleinere Auseinandersetzung über die Steuerhöhe hatte man - eigentlich - bereis im Jahr 1930 einvernehmlich beigelegt.

Der potenzielle Straftatbestand setzt NACHER so zu, dass er einen Schlaganfall erleidet. Offenbar hat irgendjemand, der ihm nicht wohlgesonnen war oder ist, den staatstreuen Finanzbeamten, die Hermann GÖRING und seinen von ihm ökonomisch verantwortlichen Kriegsvorbereitungen zuarbeiten, einen Tipp gegeben. Jemand aus dem Münchner Eidenschink-Konsortium? Aus Frust oder Rache darüber, dass es nicht mit den Engelhardt-Aktien geklappt hat?

Drei Wochen später will das Finanzamt-Schöneberg die "Reichsfluchtsteuer" kassieren. Als nächstes ist die "Judenabgabe" an der Reihe, dann die "Auswanderungsabgabe" an die Jüdische Gemeinde, anschließend eine "Dego"-Abgabe.

Das alles kassiert der Staat, bürokratisch verwaltet und organisiert durch das Finanzamt-Schöneberg unter Ignatz NACHER's Steuernummer 46/336:

  • 531.278,00   Reichsfluchtsteuer
  • 544.000,00   Judenabgabe
  • 136.000,00   Judenabgabe
  • 319.788,00   Auswanderungsabgabe
  • 265.840,58   Dego-Abgabe

Alles zusammen 1.660.916,58 Reichsmark. Ohne die beiden "Sühneleistungen" gerechnet.


Mitte August 1939

Jetzt endlich darf Ignatz NACHER, inzwischen durch die ständigen Stresssituationen der letzten Monate sehr schwach und fast kraftlos geworden, in die Schweiz ausreisen. Er darf kein Geld mitnehmen, aber einige Möbelstücke und diversen Hausrat.

In Zürich nehmen Ignatz NACHER und seine Frau Olga ersteinmal ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Die Möbel liegen bei einer Spedition als Sicherheit für die schweizerische Fremdenpolizei. Ebenso hat sie ein kleines Konto gesperrt, das NACHER noch vor 1933 in Zürich unterhielt.

Kaum in Zürich angekommen überfallen die „deutschen Volksgenossen“, soweit sie Soldaten sind und Krieg spielen wollen, das Nachbarland Polen. Sie marschieren einfach ein. Und besetzen das Land, machen es sich untertan – der Zweite Weltkrieg beginnt.

Gleichzeitig enden - schon technisch bedingt - sämtliche Kindertransporte. Wer es bis jetzt nicht geschafft hat, rauszukommen, ist verloren.

Ignatz NACHER hat es bis in die Schweiz geschafft. Seinen restlichen Lebensabend kann er nicht mehr genießen. Er stirbt am 15. September 1939 im Alter von 71 Jahren - so, wie es 1933 der "Industrieberater der Dresdner Bank" angekündigt hatte: "am Bettelstab".


Gleichzeitig

Währenddessen haben Camilla SPIRA, Hermann EISNER und ihre beiden Kids eine Bleibe in der Deurloostr. 59 gefunden. Hermann EISNER kann seine Familie mit kleineren Aufträgen hier, da und dort finanziell über Wasser halten. An das Geld, das auf seinem Berliner Konto liegt, kommt er nicht heran – Devisensperre. Camilla tritt ab und an mal hier, mal dort in kleineren Theatern und Cabarets auf - sie hat ihre bisherigen Rollen immer noch im Kopf und im Blut.

Noch funktioniert das Leben in den Niederlanden normal. Halbwegs normal auch für Flüchtlinge, soweit sie schon im Lande sind.

Noch.


10. Mai 1940

Jetzt ist es soweit: Die Deutschen überfallen Holland, besetzen das Land, um von da aus auch in Belgien und vor allem in Frankreich einzufallen.

Die Deutschen mögen die Niederländer, haben die Vorstellung, die Holländer zu ‚germanisieren‘, zu Ariern zu machen. Deswegen gehen sie mit dem Land und seinen Strukturen behutsam um. Sie belassen die niederländische Regierung im Amt, setzen nur einen übergeordneten „Reichskommissar“ ein, Artur SEIß-INQUART, und verlassen sich auf das Funktionieren der Verwaltung und ihrer vielen Beamten. Beamte sind treue Staatsdiener, fragen nicht nach Sinn und Zweck ihrer Aufgaben – dafür werden sie nicht bezahlt, sondern fürs Funktionieren.


1941

Da die Niederlande ein weltweit perfekt organisiertes Einwohnermeldesystem haben, erlassen die Deutschen zu Beginn des Jahres eine „Verordnung über die Meldepflicht von Personen, die ganz oder teilweise jüdischen Blutes sind und sich in den besetzten niederländischen Gebieten aufhalten“. Das wird 160.000 Juden betreffen, davon rd. 22.000, die in die Niederlande geflohen sind.

Auch Camilla SPIRA bzw. EISNER erfüllt am 13.3. diese Order und meldet ihre Familie an. Unter Religionszugehörigkeit trägt sie „Joods“ ein.

Inzwischen hat die deutsche Besatzungsmacht ihre anfängliche Behutsamkeit und polizeiliche Zurückhaltung aufgegeben. Längst ziehen nationalsozialistische niederländische Schlägertrupps marodierend durch die Strassen Amsterdam‘s, um jüdische Jugendliche und Kommunisten zu provozieren. Als dabei ein nationalsozialistischer Aktivist ums Leben kommt, nutzen die Deutschen die Gelegenheit, Teile der Stadt mit Stacheldraht abzuriegeln und sie als „Jüdische Viertel“ zu kennzeichnen. Mit der Wiederherstellung der „Ordnung“ beauftragen die deutschen Militärs den „Jüdischen Rat“ von Amsterdam.

Am 22. und 23. Februar veranstalten die Deutschen eine Razzia im inzwischen als „jüdisch“ geltenden Viertel „Jonas Daniel Meijerplein“. Sie verhaften ohne Grund über 427 Männer zwischen 20 und 35 Jahren und verschleppen sie in deutsche Konzentrationslager, die meisten nach Mauthausen. Ganze zwei werden das überleben.

Die Empörung über das brutale Vorgehen in Amsterdam ist enorm. Zwei Tage später kommt es zu etwas, was absolut ungewöhnlich ist: städtische Arbeiter, Angestellte und Beamte streiken. Der Streik weitet sich aus, z.B. auch auf Einzelhandelsgeschäfte. Es kommt zu einem Generalstreik - die Versorgung der Stadt wird kritisch.

„Reichskommissar“ SEYß-INQUART tobt: „Die Juden werden von uns nicht als ein Bestandteil des niederländischen Volkes angesehen. Die Juden sind für uns nicht Niederländer. Sie sind jene Feinde, mit denen wir weder zu einem Waffenstillstand noch zu einem Frieden kommen können. Wir werden die Juden schlagen, wo wir sie treffen können, und wer mit ihnen geht, hat die Folgen zu tragen“, so seine Worte.

Und jetzt lässt er auch von seiner bisherigen Behutsamkeit ab; der Terror beginnt. Erster Schritt: Arbeitslager für alle Juden, die keinen Arbeitsplatz nachweisen können.

Hermann EISNER ist inzwischen beim Jüdischen Rat angestellt.

Was alles geschieht, beschreibt in Amsterdam ein dreizehnjähriges Mädchen in ihrem Tagebuch: Anne FRANK:

„Ab 1940 ging es bergab mit den guten Zeiten: erst der Krieg, dann die Kapitulation, der Einmarsch der Deutschen, und das Elend für uns Juden begann. Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde sehr beschränkt. … Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Strassenbahn fahren, Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3 bis 5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Friseur; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr früh nicht auf die Strasse; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebensowenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach 8 Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. … Jacque (ihre engste Freundin, Anm. d. Red.) sagt immer zu mir: Ich traue mich nichts mehr zu machen, ich habe Angst, dass es nicht erlaubt ist.“

Nicht anders im Deutschen Reich.

Dort beginnen im Herbst die ersten Deportationen. Am 27. November verlässt ein solcher sogenannter Transportzug Berlin und karrt die in Viehwagen zusammengepferchten Menschen in Richtung Osten, ist bei Kälte zwei ganze Tage unterwegs. Darunter: Ignatz NACHER’s Großneffe Thomas MUNDERSTEIN, seine Mutter und seine Großmutter (mehr unter Thomas MUNDERSTEIN, im Alter von 11 Jahren erschossen; NOCH NICHT VERFÜGBAR, geht als 5. Kapitel im Februar 2020 online).


1942

Was die deutschen Beamten und die vielen Verwaltungsangestellten in den unterschiedlichsten Behörden, die Reichsbahner, Lokomotivführer, Signalwärter, die Angestellten bei der Sparkasse und anderswo begonnen haben, wird jetzt großflächig und industriell perfektioniert: auf der sogenannten Wannseekonferenz im Januar 1942 besprechen die zuständigen Vertreter die letzten offenen Fragen für die jetzt einsetzende Vernichtungsmaschinerie.

In Deutschland rollen die Osttransporte, die als „Umsiedlung“ getarnt sind, schon länger. In den Niederlanden setzen sie im Juli ein. Dort hat man wegen der vielen Flüchtlinge in der Heide ein großes Camp eingerichtet: das Lager „Westerbork“, wohin nun die ersten jüdischen Menschen zum „Arbeitseinsatz“ hin deportiert werden.

Der erste Zug nach Westerbork verlässt Amsterdam am 15. Juli – mit 1.135 Menschen, eingesperrt in Viehwagen.

„Westerbork“ wird als Durchgangslager genutzt. Der „Jüdische Rat“ selbst muss dann nach Anordnung der deutschen Besatzungsmacht die Listen zusammenstellen, wer wann mit welchem Transportzug weiter nach Auschwitz gekarrt wird.

Die Familie FRANK in Amsterdam war am 5. Juli gewarnt worden, dass sie auf der Liste stehe. Die ganze Familie tauchte sofort unter. Vater Otto FRANK hatte in weiser Voraussicht ein Versteck vorbereitet, in dem die Familie FRANK und andere versuchen, zu überleben: Im Hinterhaus des Bürogebäudes am Prinsengracht Nr. 263.

Camilla SPIRA und ihre Familie ist noch nicht davon betroffen. Hermann EISNER ist beim Jüdischen Rat angestellt und dessen Angestellte werden zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Durchführung der ganzen Aktionen benötigt.


1943

Im Vernichtungskrieg der Deutschen Wehrmacht hat sich das Blatt schon die letzten Monate gewendet. In der Schlacht bei Stalingrad im Januar „fallen“ Tausende von Menschen: vor allem Russen und Deutsche.
Um die Deutschen zu Hause abzulenken, beginnen in Berlin Dreharbeiten zu einem neuen Film: „Die Feuerzangenbowle“. Hauptdarsteller: Heinz RÜHMANN.

Ebenfalls „zu Hause“ proklamiert am 18. Februar im Berliner Sportpalast Joseph GOEBBELS den „totalen Krieg“ – tosender Beifall. Derweil rollen die „Transportzüge“ nach Auschwitz ohne Unterlass, müssen oft stundenlang bei klirrender Kälte stehenbleiben, damit die Wehrmacht weiteres Militärmaterial an die Ostfront schaffen kann.

Inzwischen wurden auch Camilla SPIRA, ihre Ehemann Hermann EISNER und ihre beiden Kinder, Peter (16 Jahre) und die kleine Susanne (6 Jahre) nach Westerbork verfrachtet. Der dortige Lagerkommandant Albert Konrad GEMMEKER zeigt sich kultur-, und insbesondere theateraffin. Er zieht in ‚seinem Lager‘ ehemals als Künstler arbeitende Juden zusammen und lässt sich dafür ein eigenes Theater zimmern. Dort ist jetzt auch Camilla SPIRA zu Gange: tagsüber Proben für  kleinere Theaterstücke und Cabaret-Einlagen mit den anderen, abends Vorstellung für den Lagerkommandanten GEMMEKER und ausgewählte Zuschauer.
GEMMEKER lädt Camilla SPIRA sogar zu einem Abendessen ein – er kennt ihren Namen und ihre Rollen aus der Zeit vor 1933. 

Doch den Gang der Dinge aufhalten kann er nicht.

Camilla SPIRA hatte bereits im September 1942 ein Schreiben an den für die Niederlande zuständigen „Rassereferenten“ Hans CALMEYER aufgesetzt. Dessen Job: in nicht ganz eindeutigen Fällen darüber zu entscheiden, wer „jüdisch“ war und wer nicht bzw. ob „halbjüdisch“ bzw. „Mischling 1. Grades“ oder „Mischling 2. Grades“. So hatte es sich 1935 der in Berlin inzwischen längst zum Ministerialrat aufgestiegene Dr. Hans GLOBKE ausgedacht:


Die Famile EISNER – SPIRA hat keine Chance. Eigentlich.

Doch wer überleben will, muss sich etwas einfallen lassen. Sie überlegen einen Plan:
Wenn einer von beiden Elternteilen nicht reinrassig „jüdisch“ wäre? Sondern nur teilweise? So wie ich dieser Dr. Hans GLOBKE in Berlin ausgedacht hat? Und

Camilla SPIRA setzt ein Schreiben auf: an den „Rassereferenten“ Hans CALMEYER.

Sie habe zwar bei ihrer Registrierung vor 2 Jahren in Amsterdam als Glaube ‚jüdisch‘ angegeben. Aber der jüdische Ehemann ihrer Mutter sei garnicht ihr leiblicher Vater, sondern ein „Seitensprung“, ein Schauspielerkollege ihrer Mutter, die ebenfalls Schauspielerin war.

Dieses gestand mir meine Mutter schon im Jahre 1933, als die Judenfrage acut wurde und ich deshalb gezwungen war, meine Laufbahn als Schauspielerin in Berlin aufzugeben“, schreibt Camilla. Und sie habe – dummerweise – selbst verhindert, dass ihre Mutter etwas „zur Richtigstellung meiner Herkunft“ unternahm. Grund: Sie habe „begreifliche Hemmungen“ gehabt, vor ihrer Heirat 1927 ihrem Mann „meine uneheliche Geburt einzugestehen“. Nun halte sie es jedoch für ihre Pflicht, ihre beiden Kinder „vor dem ihnen bevorstehenden Schicksal zu behüten“.

Und: Sie könne auch alles beweisen, die „arischen Papiere“ ihrer Mutter wie auch die ihres leiblichen, ebenfalls „arischen“ Vaters seien bereits angefordert.


1944

Der Plan geht auf.

Prof. Dr. Hans WEINERT, Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Kiel, der seine Wissenschaft in den Dienst der nationalsozialistischen Rassenehre gestellt hat, um seine Karriere zu befördern, kommt nach einem Vergleich von Lichtbildern (Fotos) am 1. Juni 1944 zu diesen Ergebnissen in Sachen "Abstammung Camilla Spira":

  • "Von den Kindern zeigt der Sohn wahrscheinlich etwas stärkeren Anteil vom jüdischen Vater.
  • Die untersuchte Tochter Susanne, im Alter von 7 Jahren, läßt aber keinen jüdischen Einfluss erkennen. Sie ist ein auffallend schlankes Kind.
  • Nach allem kann die Eindordnung des Prüflings (gemeint: Camilla SPIRA, Anm.d.Red.) als arisch durchaus zugestimmt werden. Die beiden Kinder sind demnach Mischling".

Die Familie ist gerettet - ein knappes Jahr vor Ende des "totalen Kriegs".


danach

Fünf Tage nach der Ausstellung des befreienden Dokuments landen im Westen die alliierten Truppen am 6. Juni in der Normandie. Die USA-Amerikaner bieten Zehntausende von eigenen Menschenleben auf, um dem größenwahnsinnigen Treiben von Adolf HITLER, seiner SS und seinen Gefährten sowie den kadavergehorsamst ergebenen Generälen der Deutschen Wehrmacht Einhalt zu gebieten. Im Osten sind die deutschen Truppen von der Roten Armee ebenfalls schon weit wieder zurückgedrängt worden.

Der zaghafte Versuch einiger Generäle, am 20. Juli den "Größten Führer aller Zeiten" beseitigen zu wollen, scheitert. Die Generäle handeln nicht aus Widerstand gegen die NS-Ideologie. Sie haben bisher alles mitgemacht und mitgetragen: die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, die brutale Unterwerfung anderer Völker, den nationalsozialistischen Rassenwahn.

Die Generäle handeln aus anderen Motiven: Sie wissen, dass der Krieg verloren ist und wollen deshalb einen Waffenstillstand und eine Beendigung des Krieges mit dem "Feind" aushandeln.

Weil jetzt alles seinem absehbaren Ende entgegen geht, verlässt am 3. September der letzte Transportzug mit 1.019 Menschen jüdischen Glaubens das Lager Westerbork in Richtung Auschwitz. In einem der Viehwagen: die Familie FRANK mit ihrer Tochter Anne. Irgendjemand hatte sie einen Monat zuvor an die Gestapo verraten.


1945 - das Ende des "totalen Kriegs"

Anfang September 1944 haben die russischen Truppen Auschwitz erreicht -  schneller als die Deutschen erwartet hatten. Deswegen sind noch rund 7.500 Häftlinge am Leben - die Zeit hat nicht gereicht, auch die letzten zu ermorden. Zwischen 60.000 und 70.000 Menschen sind allein im Stammlager vergast worden.

Anne FRANK (16 Jahre alt gewordeN) und ihre Mutter Edith sind bereits tot. Otto FRANK, der Vater, völlig ausgermegelt und erschöpft, ist noch am Leben.

Am Leben sind ebenfalls alle der Familie EISNER/SPIRA. Sie können nach der Befreiung von Westerbork durch alliierte Truppen in ihre Wohnung nach Amsterdam zurückkehren.

Die Wohnung ist leergeräumt. Die Hausbewohner haben das Mobiliar und Inventar unter sich aufgeteilt. Camilla SPIRA stellt sie zur Rede. Alle geben das Eigentum der EISNER's zurück.

Nicht mehr am Leben ist die Schwester von Ignatz NACHER, Emma BALAI. Sie hat ihr Leben im Vernichtungsager Kulmo lassen müssen.

Im Odebruch, einer landschaftlich geprägten Region östlich von Berlin wagen sich die beiden Kinder von Rudolf NACHER aus der Deckung: Peter NACHER, jetzt 12 Jahre alt und seine ein Jahr jüngere Schwester Hannah. Ihnen war es gelungen, den Nachnamen zu ändern und mit Hilfe anderer Menschen sich über 3 Jahre lang zu verstecken. Wie ihnen das gelang, ist derzeit Gegenstand einer Recherche.


Hinweis:

Wie es weitergeht nach 1945, mit allen der NACHER-Familie, aber auch mit den Tätern, wird in einem weiteren Fortsetzungs-Kapitel dokumentiert werden: Was aus ihnen wurde (NOCH NICHT ONLINE).

Was es bisher an Texten (Kapiteln) zu der ganzen Geschichte gibt, erfahren sie im Überblick auf der Startseite. Dort findet sich aus, was an weiteren Kapiteln hinzukommen wird.

Sie können diese Geschichte direkt aufrufen und verlinken mit diesem kurzen Link: www.ansTageslicht.de/Nacher.


(JL)