Kleine Chronologie: Wie plötzlich 400 Fotos der RAF in Stammheim auftauchen konnten


2.+3. April 1968

Gudrun ENSSLIN und Andreas BAADER sowie 2 weitere "Revolutionäre" legen in 2 Frankfurter Kaufhäusern Feuer: als Protest gegen den Vietnam-Krieg


14. Mai 1970

Der inzwischen verhaftete Andreas BAADER wird in einer spektakulären Aktion befreit. Eine Journalistin namens Ulrike MEINHOF hat einen Antrag gestellt: sie möchte zusammen mit BAADER ein Buch schreiben - über "Randständige Jugendliche". Dazu will sie sich mit ihrem Ko-Autor im Berliner Institut für Soziale Fragen treffen. Kaum eingetroffen stürzt eine Gruppe Vermummter ins Gebäude und eröffnet das Feuer. Ein Institutsangestellter wird lebensgefährlich verletzt, BAADER und MEINHOF können wie die Angreifer entkommen


22. Oktober 1971

Das erste Todesopfer der "Roten Armee Fraktion": ein Polizeimeister


1972

Im Mai starten die in die Illegalität abgetauchten RAF-Revolutionäre ihre ersten Bombenanschläge gegen Einrichtungen der US-Armee.
Im Juni und Juli werden Andreas BAADER, Ulrike MEINHOF, Gudrun ENSSLIN, Holger MEINS, Jan-Carl RASPE, Brigitte MOHNHAUPT und Irmgard MÖLLER verhaftet


Januar 1973

Die RAF-Gefangenen beginnen ihre Hungerstreiks gegen die "Isolationsfolter"


9. November 1974

Holger MEINS stirbt als Folge seines fast zweimonatigen Hungerstreiks. Er wiegt zuletzt 39 Kg


Anfang März 1975

Techniker des Bundeamtes für Verfassungsschutz (BfV) bauen in 5 Gefangenenzellen Wanzen ein


24. April 1975

Ein 6-köpfiges "Kommando Holger Meins" überfällt die Deutsche Botschaft in Stockholm und bringt mehrere Botschaftsangehörige in seine Gewalt. Bundeskanzler Helmut SCHMIDT, SPD, lehnt die Forderung ab, 26 "politische Gefangene" freizulassen - in Stuttgart-Stammheim laufen die Prozessvorbereitungen gegen die ersten Top-Terroristen auf Hochtouren. 
Die Terroristen erschießen daraufhin 2 Diplomaten. Als der mitgebrachte Sprengstoff vorzeitig explodiert, kommt ein Kommandomitglied ums Leben, ein weiteres stirbt im Krankenhaus. 
Deutschland steht unter Schock


Mitte Mai 1975 - vor Prozessbeginn

Die eingebaute Abhöranlage wird technisch optimiert. Diesesmal kommen die Techniker vom BND aus Pullach. Jetzt sind insgesamt 7 Zellen verwanzt.
Vorausgegangen war eine intensive Verwaltungskommunikation zwischen dem baden-württembergischen Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz, dem LKA in Stuttgart, dem BfV in Köln, dem Minsterialdirektor im Stuttgarter Justizministerium Kurt REBMANN, der später Generalbundesanwalt werden wird, sowie dem Bundeskanzleramt. Das baden-württembergische Innen- und Justizministerium erklärten den Plan für "rechtlich einwandfrei"


21. Mai 1975

In Stammheim beginnt der Strafprozess gegen Mitglieder des "harten Kerns" der RAF. Der Gerichtssaal gleicht einer modernen Festung. Die Gefangenenzellen befinden sich in einem gesonderten Hochsicherheitstrakt


Juni 1975

Bereits am zweiten Verhandlungstag beschwert sich Andreas BAADER beim Vorsitzenden Richter Theodor PRINZING darüber, dass Gespräche mit ihren Verteidigern abgehört würden. Der Richter geht darauf nicht ein.
Gespräche zwischen Angeklagten und Strafverteidigern unterliegen dem Anwaltsgeheimnis und dürfen nicht abgehört werden.
Tatsächlich werden Gespräche dieser Art, aber auch die Gefangenenzellen abgehört. Dies wird man allerdings sehr viel später einräumen. Wie oft abgehört wurde, wird dabei unklar bleiben


Herbst 1975

Ulrike MEINHOF, die sich immer mehr Gedanken über ihr bisheriges Tun und Handeln macht, wird immer mehr von ihren Mitgefangenen gemobbt. Zu Hasstiraden zwischen ihr und Gudrun ENSSLIN war es bereits ein Jahr früher im Zusammenhang mit der Sinnhaftigkeit der Hungerstreiks gekommen


Mai 1976

Der Vorsitzende Richter Theodor PRINZING, der den Prozess stur als Strafprozess führt und auf die Motivation der Angeklagten nicht eingeht, bekommt deswegen auch nicht mit, dass sich Ulrike MEINHOF immer stärker von ihren revolutionären Mitkämpfern distanziert. Er nutzt diese Möglichkeit nicht.
Am 4. Mai distanziert sich Ulrike MEINHOF vom Anschlag auf das Axel-Springer-Haus in Hamburg, für den sie verantwortlich war. Dabei waren 34 Beschäftigte verletzt worden.
Am 8. Mai erhängt sie sich in ihrer Zelle. Monate zuvor hatte sie sich notiert: "Selbstmord ist der letzte Akt der Rebellion"


7. April 1977

RAF-Mitglieder erschießen in Karlsruhe vom Motorrad aus den Generalbundesanwalt Siegfried BUBACK. Das Land steht erneut unter Schock


28. April 1977

Der Stammheim-Prozess ist zu Ende. BAADER, ENSSLIN und RASPE werden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt


30. Juli 1977

Die Terroristen Christian KLAR und Brigitte MOHNHAUPT wollen den Chef der Dresdner Bank, Jürgen PONTO entführen, erschießen ihn stattdessen


"Herbst 1977"

Am 5. September wird der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin SCHLEYER entführt. Seine Sicherheitsbegleiter sterben im Kugelhagel. 
Als sich die Bundesregierung unter Kanzler SCHMIDT erneut weigert, auf die Forderungen der RAF-Terroristen einzugehen und die RAF-Gefangenen freizulassen, tun sich die Revolutionäre mit dem Chef der PLFP (Volksfront für die Befreiung Palestinas) Wadi HADDAD zusammen. Der beauftragt ein Kommando, die Lufthansamaschine "Landshut" aus Palma de Mallorca zu entführen. Dies geschieht am 13. Oktober: 82 Passagiere befinden sich in der Hand von palestinensischen Entführern. Der Lufthansajet macht einen mehrtägigen Irrflug und landet schließlich in Mogadischu (Somalia). Dabei erschießt der Anführer Flugkapitän Jürgen SCHUMANN


18. Oktober 1977

Ab 0:00 gelingt einem nach Mogadischu nachgerücktem Spezialkommando der GSG 9 unter der Führung von Jürgen WEGENER die Lufthansamaschine innerhalb weniger Minuten zu befreien. Alle Passagiere und die verbliebene Besatzung bleiben unverletzt, drei der vier Geiselnehmer werden erschossen.
Bereits um 0:12 kann der nach Mogadischu entsandte Staatsminister Hans-Jürgen WISCHNEWSKI ("Ben Wisch") die Erfolgsmeldung an die Bundesregierung durchgeben. 
In der Nacht kommt es in Stuttgart-Stammheim zum kollektiven Selbstmord. Andreas BAADER und Gudrun ENSSLIN werden am frühen Morgen tot aufgefunden, RASPE, der sich durch den Kopf geschossen hat, lebt noch, stirbt aber im Krankenhaus. Irmgard MÖLLER, die sich mit einer Gabel mehrmals in die Brust gestochen hat, blutet, aber lebt noch und wird als einzige überleben.
Um möglichst viele Belege dafür zu haben, wie die RAF-Häftlinge aufgefunden wurden, entstehen von Amts wegen viele Fotoaufnahmen.
Im Anschluss daran leitet die Staatsanwaltschaft ein Todesermittlungsverfahren ein - man möchte dem Vorwurf gegenhalten, die Häftlinge seien ermordet worden. Auch den Vorwurf eines "Selbstmordes unter staatlicher Aufsicht" möchte man entkräften.
Das Ermittlungsverfahren, das Staatsanwalt Rainer CHRIST leitet, ergibt keine Erkenntnisse, die für die Vorwürfe sprächen. Eine seitens der EU-Kommission eingesetzte Untersuchung 1977/78 kommt zu dem gleichen Ergebnis.
Die Bevölkerung nimmt ungläubig zur Kenntnis, dass es möglich war, Pistolen in das hochgesicherte Gefängnis einzuschmuggeln. Und dass es möglich war, dass sich die Gefangenen heimlich eine interne Wechselsprechanlage mittels ihrer Radios und den vorhandenen Schwachstromkreisen basteln konnte. Und dass alles niemand bemerkt haben will


1979

Irmgard MÖLLER, die einzige Überlebende, die bis heute von "Mord" spricht, wird zu lebenslanger Haft verurteilt


30.10.1980

Der investigative Reporter beim stern Gerhard KROMSCHRÖDER veröffentlicht eine 18seitige Geschichte: "Der Fall Stammheim". In ihr werden viele Widersprüche und Ungereimtheiten angesprochen. Über die Ergebnisse einiger Untersuchungen im Rahmen des Todesermittlungsverfahren verweigert Staatsanwalt Rainer CHRIST gegenüber dem stern-Journalisten jegliche Antwort: "Wir lehnen es ab, im Fall Stammheim Fragen zu beantworten und alles nochmal aufzukochen. Es hat keinen Zweck, die Gutachter zu befragen - das sind unsere Gutachter, und die haben von uns keine Aussagegenehmigung. Da beißen Sie auf Granit."
CHRIST leitet ein Ermittlungsverfahren ein - er will wissen, woher der Reporter seine vielen Detailkenntnisse und einen Teil der Fotos her hat. CHRIST wird das Verfahren 1981 ergebnislos einstellen (müssen) - journalistische Profis wissen, wie sie mit geheim gehaltenen Informationen umzugehen haben und wie sie ihre Informanten schützen können


1985

Stefan AUST's Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" erscheint. Bis 2010 wird das Buch in insgesamt 6 Auflagen erscheinen - jeweils mit immer neuen Informationen


1986

Der Film zum Buch kommt in die Kinos. Stefan AUST hat das Drehbuch geschrieben, Regie führt Reinhard HAUFF. Der Film gewinnt auf der Berlinale den "Goldenen Bären".
Im selben Jahr bringt der WDR eine zweiteilige Dokumentation "Baader-Meinhof" auf den Bildschirm. Buch und Regie: Stefan AUST. 
Danach wird es die nächsten 20 Jahre ruhig um das Thema


2005

Nach 28 Jahren seit dem fraglichen Vorfall werden die so genannten Todesermittlungsakten von der Staatsanwaltschaft an das Baden-Württembergische Staatsarchiv in Ludwigsburg abgegeben - einsehbar nur mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft. Bis zum heutigen Tag wird keinem Menschen, offizielle Staatsvertreter ausgenommen, die Einsichtnahme in diese Unterlagen gewährt


2007

Das Thema "RAF" gewinnt wieder an Fahrt.
Stefan AUST hat eine neue zweiteilige Fernsehdokumentation gedreht, in der es um die vielen ungelösten Fragen geht, z.B. die geheime Abhöranlage, die der Staat eingebaut und zumindest zeitweise auch genutzt hatte. Parallel lässt AUST als Chefredakteur des SPIEGEL eine Titelserie laufen, die sich hier direkt aus dem SPIEGEL-Archiv aufrufen lässt (Ausg. 37 v. 10.9.2007):

Sie enthält nochmals die ganze Geschichte der RAF, rekonstruiert nochmals die fragliche Todesnacht und stellt die relevanten bis heute unbeantworteten Fragen


Anfang 2008

Oberstaatsanwalt Bernhard HÄUßLER von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft lässt die Todesermittlungsakten, die bis dahin niemand zu Gesicht bekommen hat, aus Ludwigsburg wieder abholen - man müsse "nach Auswertung vorhandenen Wissens" nochmals prüfen, ob jemand von der Suizidabsichten der RAF-Häftlingen wusste und deshalb der Selbstmord doch staatlich 'geduldet' war


Ende Juli 2008

Der Neffe des Polizeifotografen, der nach der Todesnacht 1977 diverse Aufnahmen in den Zellen und bei den Obduktionen gemacht hatte bzw. der für die Vervielfältigung der Bilder für die diversen "Dienststellen" verantwortlich war, findet auf dem Dachboden eine Art Koffer, in dem sich rund 400 Abzüge von den vielen Fotos aus dem Jahre 1977 befinden. Er meldet sich zunächst beim stern in Hamburg. Dort ist allerdings Wochenende und die übers Wochenende 'Wache schiebenden' Personen reagieren - nach Angaben des Neffen - eher unprofessionell: Sie meinen lakonisch, er könne die Fotos ja mal herschicken.
Der Anruf des Neffen bei der lokalen Zeitung, der Stuttgarter Zeitung ist ergiebiger. Dort ist man fitter und reagiert sofort.
Allerdings: Michael OHNEWALD muss sich zunächst mit Vertretern der Staatsanwaltschaft und dem Staatsschutz journalistisch 'handelseinig' werden: Wie der Koffer erst zur Stuttgarter Zeitung und dann zur Staatsanwaltschaft gelangte


5. August 2008

Michael OHNEWALD und sein Kollege Markus HEFFNER veröffentliche ihre große Geschichte: Ein Koffer für den Staatsanwalt.
Abends zuvor hatte die Stuttgarter Zeitung die Meldung über die Nachrichtenagenturen verbreitet, weshalb sich nach der Veröffentlichung großes Interesse auf den Artikel konzentrierte


6. August 2008

Michael OHNEWALD und Markus HEFFNER machen eine Nachlese zu dem großen Medienecho: 


25. September 2008

Filmpremiere: "Der Baader-Meinhof-Komplex". Hauptrollen: Moritz BLEIBTREU und Martina GEDECK. Die Buchvorlage stammt von Stefan AUST. Regie führt Uli EDEL, Produzent ist Bernd EICHINGER


26. September 2008

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die sich sonst regelmäßig in Schweigen hüllt, versucht kritischen Nachfragen hinsichtlich den immer noch unbeantworteten Fragen nach dem Wissen um den geplanten Selbstmord den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie veröffentlicht eine Pressemeldung: Kein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Selbsttötungen von Baader, Ensslin und Raspe in der JVA Stuttgart-Stammheim


1. Oktober 2008

Rechtzeitig zum Film kommt auch Stefan AUST's Buch in einer neuen Auflage auf den Markt: "Der Baader-Meinhof-Komplex". Diesesmal mit dem Zusatz versehen: "Das Standardwerk. Vollständig aktualisiert. Erstmals mit Fotos. Alle Fakten. Alle Details". Das Buch ist nunmehr knapp 900 Seiten dick


4. Oktober 2008

Michael OHNEWALD und Markus HEFFNER führen ein Interview mit 2 Staatsanwälten, die seinerzeit in die Ermittlungen involviert waren: "Das Ganze ist auch ein Stefan-Aust-Komplex".
AUST fordert daraufhin eine Unterlassungsverpflichtungserklärung von der Stuttgarter Zeitung - er sieht sich in seiner journalistischen Ehre gekränkt


2010

Die Todesermittlungsakten werden wieder dem baden-württembergischen Staatsarchiv in Ludwigsburg übergeben. Einsehen können hat sie bis heute (Stand Dezember 2010) immer noch niemand. Die offenen Fragen verbleiben deshalb immer noch offen



(WJ)