Frankfurter Rundschau, 10.03.2010

"Alle haben es gewusst"

Der Schulleiter einer Reformschule steht "auf kleine Jungs" - sein Umfeld weiß das. Aber niemand greift ein. Im Interview deckt ein heute 42 Jahre altes Opfer die Zustände an der Odenwaldschule auf.

Sie gehören zu den Missbrauchsopfern von Gerold Becker. Wie konnte es damals überhaupt so weit kommen?

Becker hat immer mit einer unglaublichen Selbstsicherheit zugegriffen und attackiert. Das fand ja ganz offen statt, in seiner Wohnung, in unseren Zimmern oder unter der Dusche. Alle wussten, "der Gerold steht auf kleine Jungs". Später habe ich erfahren, dass auch unter Lehrern teils offen darüber geredet wurde. Becker war sich offenbar sicher, dass ihm keiner an den Karren fährt.

Was hat das damals mit Ihnen gemacht?

Als 13-Jähriger bin ich natürlich total erschrocken und dachte: Mein Gott, was passiert hier mit mir? Von da an hatte ich eigentlich immer Angst vor ihm. Die Angst beim Einschlafen. Die Angst, der letzte im Duschraum zu sein. Die Angst, als Letzter in seiner Wohnung zu sein, wenn wir da abends gemeinsam Fernsehen geguckt haben.

Hat die Angst aufgehört, als Sie die Schule verlassen haben?

Die Angst vor Becker hat natürlich nachgelassen. Aber bei Traumatisierungen entstehen ja immer wieder neue Ängste vor allen anderen Situationen, über die man nicht die Kontrolle hat. Ich habe diese Ängste, Panikattacken und Unruhezustände dann immer auf meine Weise behandelt.

Behandelt?

Als ich noch auf der Odenwaldschule war, habe ich sie mit Alkohol und Drogen behandelt. Und mit Anfang 20 war ich ganz solide alkoholabhängig. Der Tiefpunkt war, als selbst große Mengen Alkohol nicht mehr dagegen geholfen haben, dass die Bilder des Missbrauchs im Kopf auftauchen. Später habe ich mich immer mit Aktivitäten zugeschüttet. Ich musste immer irgendwas tun, um so die Kontrolle über mich und die Situation zu bekommen.

War der Satz "Ich bin missbraucht worden" immer präsent?

Als ich das erste Mal über den Missbrauch sprechen konnte, war ich Mitte 20. Aber auch da konnte ich nur sagen, es ist etwas passiert, aber nicht genau, was. Becker war ja eine Vaterfigur für mich, und ich hatte immer das Gefühl, ich hätte nein sagen können, wenn ich es wirklich nicht gewollt hätte. Also ich war derjenige, der sich geschämt und schuldig gefühlt hat, obwohl Becker sich hätte schämen sollen und die Verantwortung für die Situation hatte.

Sie haben sich mit anderen Altschülern Ende der 90er Jahre entschlossen, an die Odenwaldschule zu gehen. Warum?

Weil damals bekannt wurde, dass Becker wieder vertretungsweise an der Odenwaldschule gearbeitet hat. Da war uns klar, wir müssen etwas tun. Zwei Altschüler haben sich dann an die OSO gewandt.

Hat die Schule aus ihrer Sicht richtig reagiert?

Aus meiner Sicht hat die Schule eine Retraumatisierung der Opfer vollzogen. Die Schüler wollten ja nur, dass aufgeklärt wird, was genau passiert ist und wer beteiligt war, dass Vorsorge für weitere Generationen getroffen wird und dass die ganzen Vorgänge in den OSO-Nachrichten abgedruckt werden. Das war also noch sehr niedrigschwellig. Beckers Nachfolger Wolfgang Harder hat dazu gesagt: Wenn das öffentlich gemacht wird, dann macht man die Schule zu. Die Vertreter der OSO haben also den Spieß umgedreht, die Betroffenen waren die Täter, die arme OSO das Opfer. Die gestrigen Statements, die OSO habe sich damals korrekt verhalten, sind absolut zynisch. Die Loyalität der Betroffenen gegenüber der Schule wurde ausgebeutet. Hätte die Schule damals einen Experten engagiert, wäre sehr schnell klar gewesen, dass es in solchen Systemen niemals nur einen Täter und einzelne Opfer gibt.

Nach 1999 tauchte Becker nach kurzer Schamfrist wieder in den angesehensten Pädagogikkreisen auf.

Da stand der Täter wieder als gefeierter Pädagoge im Rampenlicht. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich wieder Ohnmacht empfunden habe: Ich kann wieder nichts gegen Becker tun, mir wird nicht geglaubt, ich werde nicht ernst genommen.

Mit welchen Folgen?

Es ist bis heute so, dass ich nachts nassgeschwitzt aufwache, weil ich glaube, jemand steht neben meinem Bett. Ich hatte paranoide Zustände. Ich war draußen unterwegs und dachte, ich werde verfolgt. Es macht sich auch physisch bemerkbar, ich stehe ständig unter Strom, ich habe mir schon einige Zähne kaputt geknirscht. Die Liste ist noch länger. Vor eineinhalb Jahren waren meine Schwierigkeiten so groß, dass ich eine Traumatherapie begonnen habe und jetzt mit der EMDR-Methode arbeite (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, die Red.). Das ist bisher die einzige therapeutische Maßnahme, die mir wirklich hilft.

Ist die Sache durch die aktuellen Ereignisse schlimmer geworden?

Überhaupt nicht. Für mich ist der öffentliche Diskurs ein Schritt zur Genesung. Mir ist jetzt klar, dass nicht ich derjenige bin, der sich zu schämen hat. Öffentlichkeit hilft gegen ungewollte Intimität.

Sind die Verjährungsfristen aus Ihrer Sicht ausreichend?

Nein. Ich habe in den letzten Tagen mit einigen 40- bis 50-Jährigen gesprochen, die sich jetzt erst vollständig daran erinnern, dass sie als Kind missbraucht worden sind. Denen geht es wie mir. Die Schuld- und Schamgefühle sind so groß, dass man erst als gestandener Erwachsener über solche Dinge sprechen kann. Die gegenwärtige Gesetzeslage ist in meinen Augen aktiver Täterschutz.