Unabhängige Medien aus Moskau: für den Rest der Welt

Moskau ist eine Stadt der Gegensätze:

  • Politisch verkörpert die Metropole das Epizentrum der Macht. Journalistisch gesehen gibt es nirgendwo in Russland so viele Zeitungen, Zeitschriften und Online-Redaktionen. Nicht alle geben sich linientreu.
  • "Lange war Moskau in der Hand der Kriminellen und Neureichen. Jetzt erlebt Europas größte Metropole eine rasante Wandlung. Sie wird moderner, weltoffener – und trotzt Putins Nationalismus", schreibt DER SPIEGEL in seiner Ausgabe Nr. 16 v. 16. April 2016 (kostenpflichtiger Online-Artikel). Gemeint: Die Moskauer Bürger erobern sich immer mehr ihre Stadt, nehmen öffentliche Räume und die kulturelle Gestaltung in Besitz. 
  • Die Fakultät für Journalismus der Lomonosov-Universität (Moscow State University), visavis vom Kreml, kann sich ebenfalls weltoffen geben. Obwohl die Rektoren der staatlichen Hochschulen Ministerrang haben und fest im System verankert sind. Hier ist das Projekt Menschen-Medien-Demokratie zugange.
  • Nirgendwo hat PUTIN's Partei "Einiges Russland" so wenig Anhänger wie in der Hauptstadtmetropole. In Moskau lebt der größte Teil der kritischen und kreativen Mittelschicht des Landes. So konnte Alexej NAWALNJ bei der Bürgermeisterwahl im Jahr 2013 auf Anhieb 27% der Stimmen auf sich vereinen.
  • Und Moskau war der Ort, an dem die vielen Demonstrationen stattfanden: nach der Dumawahl im Dezember 2011 und der (erneuten) Inthronisation von Wladimir PUTIN zum Staatspräsidenten im Mai 2012. Die Bewegung der neuen Zivilgesellschaft hatte hier ihren Ausgangspunkt

So finden in dieser widersprüchlichen Stadt Aktivisten, Journalisten und Redaktionen ihre Nische. Und kommunizieren von hier in den Rest der Welt: in die Regionen Russlands hinein und über die Landesgrenzen hinaus.

Wir versuchen, diese Szene zu skizzieren.


Zeitungen aus Moskau:

1) Die Nowaja Gaseta (Новая газета / Novaya Gazeta)

Zeitung: RU
Online: RU (EN wird derzeit nicht aktualisiert)


Sehr zum Missvergnügen der staatlichen Macht erscheint dieses Blatt auch nach über 20 Jahren seit der Gründung (1993) immer noch. Und berichtet unbeirrt und regelmäßig aus dem Innenleben des Staatsapparats oder der großen staatlichen Industriekomplexe: über Selbstbereicherung, Korruption, Missmanagement.

Es ist dasjenige Medium Russlands, das die meisten Toten zu beklagen hat: drei feste Redakteure, darunter Anna POLITKOWSKAJA, sowie drei freie Mitarbeiter sind Anschlägen zum Opfer gefallen. Trotzdem: Die Zeitung gibt nicht auf - das entspräche nicht ihrem Selbstverständnis.

Schon mehrmals sah es so aus, als müsste die Redaktion aufgeben. Doch die Situation konnte sich stabilsieren. Bis 2014 hatte der Aktionär und (Klein)Oligarch Alexander LEBEDEV, zudem ehemals DUMA-Abgeordneter der Partei "Gerechtes Russland", einen Großteil der Kosten finanziert. Inzwischen hat er einen Teil seiner Aktien der Redaktion übergeben, die nun 76% der Anteile hält. LEBEDEV ist noch mit 14% dabei, 10% gehören Mikhail GORBATSCHOW.

Inzwischen hat die Nowaja Gaseta das Crowdfunding entdeckt und setzt zunehmend auch auf Spenden. Weil sie mit einer Auflage von 209.000 Exemplaren (darunter 8.000 feste Abonennten) und eigenen Redaktionen mit Regionalteilen in Wladiwostok, St. Petersburg und Krasnodar vertreten ist, so gesehen eine nationale Reichweite hat, gelingt es ihr zunehmend, Ausschreibungen für Unternehmen und andere juristische Personen zu gewinnen, die beispielsweise offizielle Mitteilungen russlandweit in Printmedien bekannt geben müssen (z.B. Handelsregistermitteilungen).

Sie wird landesweit, aber auch im Ausland gelesen (Kasachstan, Israel, Deutschland). Ein gewisser fester Abonenntenstamm sind staatliche Behörden. Sie müssen wissen, was über sie so unverblümt veröffentlicht wird.

Die Zeitung ist vermutlich das unabhängigste und freieste Medium Russlands. Deswegen, weil sich die Redaktion ihre Spielräume nicht nehmen lässt. Und dafür regelmäßig Risiken eingeht.

Wir haben ihr deshalb schon länger ein großes Portrait gewidmet: www.ansTageslicht.de/NovayaGazeta. Ebenso einer ihrer engagiertesten und bekanntesten Journalistinnen, Anna POLITKOWSKAJA: www.ansTageslicht.de/Anna. Und wir haben eine Geschichte rekonstruiert, aus der die hartnäckige Recherchearbeit deutlich wird. Aber auch die Gefahren aufzeigt, die Redakteure der Nowaja Gaseta regelmäßig eingehen: www.ansTageslicht.de/BEKETOV.

2) Vedomosti (Ведомости)

Zeitung: RU
Online + App: RU


Die russische Zeitung verkörpert das, was in England die Financial Times und in den USA das Wall Street Journal sind. Das ist kein Zufall: Beide Blätter hatten sich 1999 - zusätzlich mit dem finnischen Medienkonzern Sanoma, der schon Erfahrungen mit dem russischen Medienmarkt hatte - zusammengetan, um ein Wirtschaftsblatt für Russland aufzumachen: Vedomosti, zu deutsch: der Anzeiger.

Mit einer Auflage von rd. 75.000 Exemplaren bzw. einer Reichweite von knapp dem Doppelten russlandweit und einem landesweiten Korrespondentennetz repräsentiert das Blatt den Typ einer klassischen Wirtschaftszeitung, die allerdings stets einen unabhängigen und kritischen Unterton pflegt.  Dies ist vergleichsweie unproblematisch: Auch in Russland lebt der Staatsapparat von der Funktionsfähigkeit der Wirtschaft, und zwar nicht nur der eigenen, sondern auch von den vielfältigen Investitionen und Marktaktivitäten ausländischer Unternehmen. Deren Manager wollen und müssen informiert sein - nicht nur aus amtlichen Quellen, deren Informationen gefiltert sind.

Vedomosti hat auch deshalb ein gutes Standing, weil das Konkurrenzblatt Kommersant seit 2006 dem Kremlnahen Oligarchen Alischer USMANOW gehört, der mit seinen Metallurgieunternehmen zu den reichsten Menschen in Russland zählt. Ihm gehört seither auch die früher meistgelesenste Internetzeitung gazeta.ru. Jetzt weiß jeder, was er lesen muss, wenn er Klartext haben will.

Die Berichterstattung in der Vedomosti unterscheidet sich daher deutlich von der des größeren Konkurrenzblattes, das 115.000 Exemplare täglich absetzt. Auch wenn die Themen oft identisch sind: der Fokus und die Inhalte sind verschieden.

Da seit 2014 russische Medien nur noch zu max. 20% im Besitz von Ausländern sein dürfen, hat Sanoma den Verlag an Demijan KUDRJAVZEV verkauft, einen studierten Journalisten, der auch Gedichte und Erzählungen vefasst. KUDRJAVZEV stand dem exilierten Oligarchen Boris BERESOVSKY nahe, der in London unter ungeklärten Umständen zu Tode kam. Von 2006 bis 2012 fungierte er als CEO beim Verlagshaus Kommersant.

KUDRJAVZEV hat im November 2015 nicht nur die Wirtschaftszeitung übernommen, sondern auch die russische Version von National Geographics und vor allem die Moscow Times, die ebenfalls zu den bedeutenden unabhängigen Medien in Russland zählt (s.u.).

3) The Moscow Times: Zeitung und tägliches Onlineportal

Zeitung + Online: EN


Sie erscheint nur in englischer Sprache und das seit 1992. Zweimal die Woche gibt es sie im Herzen Moskaus auch als Printausgabe: in diversen Restaurants, bei McDonalds und in anderen Locations. "The Moscow Times — News, Business, Culture & Events" trägt sie in ihrem Titel. Ansonsten versteht sie sich als tägliche Internetzeitung.

Alles, was die staatlich kontrollierten Medien, insbesondere das Fernsehen verschweigen, egal ob Informationen über Gerichtsverfahren gegen missliebige Bürger, Verhaftungen von Demonstranten, Aktivitäten von NGO's, bedenkliche Gesetzesvorhaben in der DUMA und anderes mehr, kann man in dieser Internetzeitung lesen. Aber auch, was kulturell 'in' oder modisch schick ist.

Der gesamte Werdegang beispielsweise von Alexej NAWALNJ und die Pressionen gegen ihn lassen sich den älteren Ausgaben entnehmen. Ebenso die Vorfälle und Verhaftungen bei den Demonstrationen seit Dezember 2011.

Für dieses publizistische Konzept steht Chefredakteur und Journalist Michail FISHMAN. Er hatte früher bei Echo Moskwy gearbeitet und auch beim Kommersant, bevor der in die Hände des kremlnahen Oligarchen USMANOV fiel. War dann Mitarbeiter bei Russki Newsweek und Russland-Korrespondent der deutschen Zeitung DIE WELT. Seit 2014 ist er zudem Chefredakteur des Onlinemagazins Cityboom. Auf dem unabhängigen Fernsehkanal Doschd (Rain TV) leitet er eine wöchentliche Nachrichtensendung.

2013 hatte er ZEIT ONLINE ein Interview gegeben: Wie der Kreml die Medien kontrolliert.

FISHMAN steht für die Unabhängigkeit der Berichterstattung, Demijan KUDRJAVZEV, der vom finnischen Verlag Sanoma auch das Wirtschaftsblatt Vedomosti übernommen hat, für das ökonomische Funktionieren des journalistischen Konzepts.

4) The New Times (НОВОЕ ВРЕМЯ)

Zeitung + Online: RU


Noch konsequenter, fast radikaler, versteht sich die New Times als Internetzeitung. Auch sie gibt es - ähnlich wie die Moscow Times - als wöchentliche Printausgabe in englischer Sprache in der Innenstadt Moskaus kostenlos an verschiedenen Orten und ansonsten täglich online auf russisch. 

Anders als The Moscow Times haben die New Times - Journalisten deutlich mehr Ärger mit der Polizei und Gerichten, weil sie beispielsweise öfters vor Ort gehen und näher ran an das, was später kritisch beleuchtet wird. The New Times robbt sich näher an die 'Roten Linien' heran, deren Überschreiten gefährlich werden kann. Die Redaktion versteht sich als oppositionell.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Besitzverhältnisse. Bis 2013 waren Eigentümer "Die Bürger Russlands", konkret die eigenen Leser - eine Art NGO. Jetzt zeichnet als Besitzer eine GmbH mit dem Namen New Times (ООО Новые Времена). Deren Anteile wiederum gehören einer anderen GmbH namens Jusson Finance (ООО "ЮССОН ФАЙНЭНС") in Krsanojarsk und die befindet sich im Eigentum der Aletteko Ltd. (ООО "ЮССОН ФАЙНЭНС") mit Sitz auf Zypern. So will man offensichtlich sicherstellen, dass das Projekt als 'juristische Person' weitgehend außerhalb staatlichen Zugriffs liegt.    

5) Sovershenno Sekretno (Совершенно секретно): Streng Geheim

Zeitung + Online: RU


Es war das erste unabhängige Medium, das sich im Mai 1989 gegründet hatte: Der Journalist Julian SEMJONOW hatte andere junge Kollegen eingeladen, mit dabei zu sein. Darunter auch Artyom BOROVIK. Der hatte die Zeitung übernommen, nachdem der Gründer verstorben war. Aber auch BOROVIK starb jung: im Alter von 39 Jahren bei einem Flugzeugunglück.

BOROVIK war einer der ersten, der bereits zu Zeiten von Michail GORBATSCHOW's Glasnost investigativ zu arbeiten begann. In den 90er Jahren arbeitete er nicht nur für Streng Geheim, sondern auch für das US-amerikanische CBS-Magazin 60 Minutes. Die Zeitschrift erlebte eine Blütezeit- BOROVIK war bekannt, denn er hatte bereits gegen Ende der 80er Jahre einem Millionenpublikum in seiner satirisch gehaltenen Fernsehsendung "Vzglyad" das politische Geschehen erklärt. Als Chef einer eigenen erfolgreichen Zeitschrift gründete er nun einen gleichnamigen TV-Kanal. Das beständigste Thema in Print und TV: Korruption in den Kreisen der politischen und wirtschaftlichen Elite.

Ein weiteres Thema, das ihn nie loslies: die Tschetschenienkriege. 1992 hatte er ein Buch über den erfolglosen Krieg der Sowjets in Afghanistan geschrieben. Jetzt recherchierte er zu den aktuellen militärischen Konflikten. Für die verheerenden Bombenanschläge mit fast 300 Toten und über 1.000 Verletzten im Monat September 1999 in Moskau (Wohnkomplex), Volgodonsk und Buynaksk in Dagestan hatte er als Schuldigen den FSB ausgemacht. Zum gleichen Ergebnis waren auch die Rechercheure der Novaya Gazeta gekommen. PUTIN (Premierminister) nahm die Vorfälle, für die er tschetschenische Terroristen verantwortlich machte, zum Anlass, den zweiten Tschetschenienkrieg zu beginnen.

Inwieweit BOROVIK's Tod (Flugzeugabsturz noch auf dem Moskauer Flughafen Sheremetyevo) wenige Tage vor PUTIN's Wahl (26. März 2000) zum Staatspräsidenten im Zusammenhang mit seiner Arbeit steht, ist ungeklärt. Sein Erbe übernahm seine Witwe.

Heute existiert nur noch die Zeitschrift Streng Geheim und die dazugehörige Onlinesite. Auch dieses Medium musste sich ein wenig der veränderten Situation unter PUTIN's zweiter Staatspräsidentschaft anpassen. Wie die Zeitschrift Ende der 90er Jahre aussah, über was sie geschrieben hatte und wie sie sich verändert hatte (bzw. musste), lässt sich an den früheren Ausgaben sehen: Sie sind alle online im Archiv zu lesen: www.sovsekretno.ru/magazines.

Chefredakteur ist inzwischen Sergej SOKOLOV, seit 1997 dabei und sehr erfahren im investigativen Gewerbe. Geschichten, Themen und Berichte werden auch heute noch ausgesprochen hintergründig und umfangreich veröffentlicht, oft über mehrere Seiten. Der Themenkanon hat sich seit den 90er Jahren begreiflicherweise verschoben.

Die russischsprachige Zeitschrift setzt eine Auflage von 16.000 Exemplaren ab: in Russland und in den Großstädten benachbarter Länder wie Almaty (Kasachstan), Tiflis und Tbilissi (Georgien), Kiew (Ukraine), Tartu (Estland) und in Riga (Lettland).

Eine Website: einst aus Moskau, jetzt aus Riga und dem Indischen Ozean: www.meduza.io

Web: RU + EN
App: RU; EN einstellbar via http://meduza.io/en


Die Top Level Domain "io" steht für Indish Ocean und meint die gleichnamige Mini-Inselgruppe inmitten des Indischen Ozeans, gleichermaßen Tausende von Kilometern weit weg von Mauritius (vor Afrika) im Westen und Indonesien im Osten. Die Ureinwohner wurden 1966 zwangsumgesiedelt, denn die Insel steht unter britischer Verwaltung und ist seither an die Amerikaner verpachtet - zu militärischen Zwecken: absolutes Sperrgebiet. Jetzt leben dort nur rund 3.000 Personen, allesamt Militärs. Trotzdem: Man kann sich auf dem militärischen Territorium eine Domain registrieren lassen. So macht es beispielsweise meduza.io. Untertitel: "The Real Russia. Today". Dort ist man für russische Begehrlichkeiten unerreichbar. Dafür ganz nah dran an US-amerikanischen Überwachungsaktivitäten.

Die Redaktion indes sitzt inzwischen ganz woanders: in Riga (Lettland) - die rund 20 Journalisten haben Moskau verlassen, sind ausgewandert: ehemalige Journalisten, die unter der Chefredakteurin Galina TIMTSCHENKO gearbeitet hatten, die der Redaktion von Lenta.ru 10 Jahre lang vorstand und dieses Nachrichtenportal maßgeblich geprägt hatte. Bis 2014. Dies ist die Geschichte von Galina TIMTSCHENKO und ihrer Redakteure:

Zwei Websites gehörten bis zum Jahr 2014 zu den meistgelesensten Onlineportalen in Russland, die beide in Moskau beheimatet sind: gazeta.ru und lenta.ru . Beide berichteten zuverlässig und schnell und vor allem unvoreingenommen über das, was geschah. Insbesondere auch über die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Beispielsweise Demonstrationen, die subtilen Pressionen gegen Alexej NAWALNJ und alle anderen, die faire Wahlen und mehr demokratische Rechte einforderten.  Mehr dazu unter www.ansTageslicht.de/Russland

Lenta.ru, 1999 von einem Politologen gegründet, befand sich seit 2006 im Besitz des (kleinen) Oligarchen Wladimir POTANIN bzw. dessen Unternehmen Afisha Rambler, Tochter seiner "Prof-Media"-Gruppe. Die Redakteure hatten - weitgehend - freie Hand. Aber POTANIN verkaufte 2013. Bzw. fusionierte seine (kleine) Mediengruppe mit dem größeren Medienkonzern SUP. Eigner dieses Konzerns: der Oligarch, Bankier und Rechtsanwalt Alexander MAMUT, der bereits seit Boris JELZIN immer ein Freund des Kreml war, egal, wer dort regierte. Zu MAMUT's Pfunden gehört beispielsweise das Blogportal und Social Media-Unternehmen LiveJournal - eine Art von russischem facebook, auf dem viele Russen bloggen und kommunizieren. Auch Oppositionelle. MAMUT hat weitergehende Interessen. So kann er im westlichen Ausland seit 2011 die britisch-irische Buchhandelskette Waterstone's sein eigen nennen. Wirtschaftlich und politisch ist er ein Schwergewicht. Ließ aber seine Redakteure weitgehend gewähren. 

Im Jahr 2013 hatte lenta.ru ein Interview mit dem Führer des "Rechten Sektors" in der Ukraine veröffentlicht, darunter einen alten Link zu einer Site, auf der einer der Wortführer des "Rechten Sektors" den tschetschenischen Untergrundkämpfer Doku UMAROW um Hilfe gegen den Kampf gegen Russland bat. Auf das Konto von UMAROW, der sich 2007 zum "Emir des Kaukasus-Emirats" erklärt hatte, gehen viele terroristische Anschläge in Russland zurück, so z.B. der Bombenanschlag 2011 auf dem Moskauer Flughafen Domodedovo, bei dem 36 Menschen ihr Leben verloren. Lenta.ru hatte diesen Link aus Gründen der Vollständigkeit gesetzt ähnlich wie auch andere Medien UMAROW selbst zu Wort kommen ließen (Beispiel RadioFreeEurope/RadioLiberty).   

Dies nahm die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor zum Anlass, lenta.ru abzumahnen, weil der Inhalt "extremistisch" sei. In Russland gibt es ein (neues) Gesetz, nach dem Fluchen oder die Veröffentlichung "extremistischer" Inhalte verboten ist und mit Sanktionen belegt werden kann.

Oligarch MAMUT nahm dies zum Anlass, die Chefredaktreurin Galina TIMTSCHENKO auf der Stelle zu entlassen. Nach außen hin kommunizierte er, dass TIMTSCHENKO selbst gekündigt habe.

Es kam zu einer Welle der Solidarität: Fast alle der über 80 lenta.ru-Mitarbeiter kündigten ebenfalls. Und verließen lenta.ru. Es war die Zeit, als es in der Ukraine und dem Maidan drunter und drüber ging, russische Soldaten die Krim infiltrierten, die Ukraine am Zerfallen war und alle, die sich in Russland kritisch zu den Vorgängen äußerten, unter Druck gerieten. 

Die Journalisten teilten sich. Rund 20 gingen mit ihrer entlassenen Chefredakteurin nach Riga, bereiteten dort in aller Stille ihr Meduza-Projekt vor - https://meduza.io ging am 14. Oktober 2014 ans Netz. Das journalistische Konzept: Glaubwürdige Informationen, Nachrichten und Reportagen aus anderen Quellen zu aggregieren, aber auch selbst zu recherchieren: Vorgänge und Ereignisse aus Russland und den Ländern der früheren Sowjetunion.

meduza.io gehört zu den wichtigsten unabhängigen Medien. Die inzwischen 25köpfige Redaktion berichtet zwar nicht mehr direkt aus Russland bzw. Moskau. Aber meduza.io hat einen eigenen Weg gefunden.

Die anderen Redakteure von lenta.ru blieben in Moskau. Und gründeten eine eigene Nachrichtenseite auf der Social Media Plattform vKontakte: "lentach". Über die gab es schnell Streit. Deshalb gibt es heute 2 "lentach": old.lentach und tru lentach. Beide Sites kommunizieren nur (noch) einfache Nachrichten, die politisch wenig angreifbar sind.

Websites und Online-Medien für alle: aus Moskau

1) Alexej NAVALNJ's Anti-Korruption-Stiftung (ФОНД БОРЬБЫ С КОРРУПЦИЕЙ) https://fbk.info

Online + App: RU + teilweise EN via https://fbk.info/english


Alexej NAWALNJ (Alexey NAVALNY) ist schon lange dabei und immer wieder unter Druck geraten. Er wurde vor Gericht gestellt und verurteilt. Oder zu Hausarrest verdonnert. Und manches mehr an Pressionen. Sein Ziel, das der Macht missfällt: Russland den russischen Bürgern zurückgeben. Und das Land nicht nur einer kleinen Elite von einigen Hundert VIP's überlassen.

NAWALNJ's Werdegang und seine Aktivitäten haben wir unter www.ansTageslicht.de/Nawalnj ausführlich beschrieben. Auch dass er 2013 bei der Bürgermeisterwahl in Moskau 27% der Stimmen auf sich vereinigen konnte - obwohl er keinerlei Sendezeiten im staatlichen Fernsehen bekommen hatte und ihn die staatlich administrierten als auch regierungstreuen Medien in ihrer Berichterstattung völlig negierten. NAWALNJ gilt als einer der führenden Köpfe der politischen Opposition und vieler zivilgesellschaftlicher Regungen (mehr unter www.ansTageslicht.de/Russland). 

Den Kampf gegen Korruption und Selbstbereicherung der Eliten hat NAWALNJ schon vor vielen Jahren aufgenommen. Von ihm stammt beispielsweise die inzwischen bekannte Floskel, dass PUTIN's Partei "Einiges Russland" die Partei der "Gauner und Diebe" (партия жуликов и воров) sei. 

Mit seinem Projekt "RosPil.info" hatte NAWALNJ angefangen: mit eigenen Recherchen und gesammelten Dokumenten, die er u.a. den Lesern zur Verfügung stellte, damit die selbst daraus entsprechende Einschätzungen geben und Schlüsse ziehen konnten. Aus diesem Projekt "Rospil" wurde jetzt "FBK.info": der "Fonds gegen Korruption" (ФОНД БОРЬБЫ С КОРРУПЦИЕЙ): eine NGO, die sich - wegen der geänderten Gesetzgebung hinsichtlich ausländischer NGO's - ausschließlich aus russischen Geldern, insbesondere Spenden finanziert. 30 Leute zählen inzwischen zu seiner Mannschaft. Die Zielsetzung ist unverändert, die Arbeit aber professioneller geworden - NAWALNJ kann sich inzwischen auf ein größeres Netzwerk an Informanten und Zuarbeitern auch außerhalb Russlands stützen.

Rechercheergebnisse werden möglichst breitflächig und zielgenau komuniziert:

So haben NAWALNJ und sein Team schon einiges in Bewegung gesetzt:

  • 2014 musste der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der PUTIN-Partei in der Staatsduma und gleichzeitiger Vorsitzender der Ethikkommission der Duma, Wladimir PECHTIN, zurücktreten. NAWALNJ hatte publik gemacht, dass der Abgeordnete zwei nicht deklarierte Luxusimmobilien in Miami Beach (Florida/USA) sein eigen nennt: Eigentumswohnungen vom (Aller)Feinsten, direkt am Meer gelegen.
  • NAWALNJ hatte sich auch PUTIN's Freund Wladmir JAKUNIN, den Chef der russischen Eisenbahnen vorgenommen. Zum Beispiel JAKUNIN's fürstliches Privatanwesen und seine diversen Privatgeschäfte. JAKUNIN ist inzwischen ganz offiziell in Ungnade gefallen.
  • Im Juli 2015 stand Russlands Stellvertretender Ministerpräsident Igor SHUVALOV und dessen Ehefrau OLga SHUVALOV im Visier. Konkret: deren nicht deklariertes Privatflugzeug und die offiziell nicht angegebene 500 qm große Luxuswohnung in London. SHUVALOV war vormals stellvertretender Leiter von PUTIN's Präsidialverwaltung. In seinem Fall gibt es noch keine sichtbaren Konsequenzen.

NAWALNJ's Antikorruptionsprojekt ist beides in einem: Als Medium, das sich auch als Social Media begreift, werden spezifische Vorgänge recherchiert und veröffentlicht. Als NGO muss das Medienprojekt das machen, was in demokratischen Gesellschaften die öffentliche Diskussion nach Presseberichten bewirkt: Behörden auf Trab zu bringen und Fehlentwicklungen einzudämmen. In Russland ist das anders.  

Weil Korruption international geächtet ist und auf der Agenda fast aller Staatsmänner und Staatsfrauen steht, PUTIN sich 2008 auf dem G8-Gipfel (offiziell) verpflichten musste, dagegen anzugehen, scheint dieses engagierte und professionell organisierte Projekt zu funktionieren. Obwohl NAWALNJ auf der Schwarzen Liste des Kreml ganz oben stehen dürfte. 

2) Tägliche Zeitschrift (Ежедневный Журнал): vormals ej.ru, jetzt: http://ej2015.ru

Website: RU


Für das Medium steht vor allem ein Name: Alexander GOLTS. Er betreibt diese Site zusammen mit Alexander RYKLIN. Eingetragen ist sie auf eine GmbH: Mediafokus in Moskau.

Die digitale "Zeitschrift", wie sie sich nennt, existiert seit 2001 und wurde ursprünglich von dem Oligarchen Wladimir GUSINSKI gesponsert, einem Medienmagnaten aus der Ära vom Boris JELZIN. Weil GUSINSKI in seinem Fernsehkanal NTW (heute in staatlichem Besitz) viel Kritisches über den Äther laufen ließ, wurde NTW, nachdem PUTIN Staatspräsident geworden war, von den Behörden abgeschaltet. GUSINSKI floh 2001 nach Israel.

Die Site ej.ru konnte sich weiter am Leben halten - Alexander GOLTS veröffentlicht seither viel aus den Bereichen Militär und Sicherheit. Ausgebildet als Journalist hatte er sich früh auf derlei Themen konzentriert. 1980 bis 1996 arbeitete er bei der (ehemals) sowjetischen Militärzeitschrift Krasnaya Zvezda (Roter Stern), später als Militärredakteur für die Zeitschrift Itogi. Nach der Gründung seiner eigenen Internet-Zeitschrift schrieb er u.a. viele Gastbeiträge für andere Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftliche Journale. Beispielsweise für das Bulletin of the Atomic Scientists, das 1945 von mehreren Wissenschaftlern des sog. Manhattan-Projekts gegründet wurde: aus Sorge um das, was sie mit ihrer Arbeit angerichtet hatten. Nach wie vor ist er mit Beiträgen in der Moscow Times zu lesen.

Als sich Alexander GOLTS mit einschlägigen Artikeln, aber auch Kommentaren im Jahr 2014 zur Besetzung der Krim zu Wort meldete, wurde ej.ru von der staatlichen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor abgeschaltet. Seither existiert die Site unter http://ej2015.ru.

Und nach wie vor gibt es viele Intellektuelle, die sich auf dieser Plattform zu den unterschiedlichsten Fragen und Problemen des Landes und der internationalen Zusammenarbeit äußern. Die Marke "ej" ist ein Medium vor allem für die liberale Bewegung in Russland. Sie ist auch in Russland erreichbar.

3) colta.ru (кольта.ру): Soziales und Kulturelles

Website: RU


Dem Mutigen gehört die Welt, so lautet ein (deutsches) Sprichwort, aber es gilt auch anderswo, beispielsweise in Moskau. Im Jahr 2012, dem Jahr der erneuten Inthronisation von Staatspräsident PUTIN zum dritten Male, hatte der Besitzer der Website OpenSpace.ru angekündigt, das redaktionelle Konzept umzustellen. Seine bisherige Chefredakteurin Maria STEPANOVA und die meisten Mitglieder der Redaktion waren damit nicht einverstanden und kündigten. Und eröffneten eine eigene Website: colta.ru.

Ihre Idee: den Fokus auf Soziales und Kulturelles im "modernen Russland" zu legen. Und darüber - indirekt - auch politisch zu wirken. 

Um die Unabhängigkeit zu sichern, wurden ein Kuratorium gegründet, User mobilisiert und Partnerschaften eingegangen. Wer 300.000 Rubel (ca. 4.200 €) im Jahr einbezahlt, wird als Kuratoriumsmitglied aufgenommen, das nicht die redaktionelle Linie vorgibt, sondern 2 Male im Jahr zusammenkommt und das Projekt am Laufen hält sowie mit dem jeweils individuellen Standing nach außen hin vertritt. Die Mitglieder sind bunt gemischt: die Programmdirektorin des Festivals Kinotawr ist dabei, ein Restaurantbetreiber sowie ein Ökonomieprofessor, die Direktorin an der Moskauer Rodchenko-Schule für Fotografie und Multimedia, Schriftsteller und Fotografen, der Präsident der Investorengruppe "KoperniK", eine Fernsehmoderatorin und viele andere mehr.

Aber auch die User können sich finanziell engagieren: über die Crowdfunding-Plattform planeta.ru. Weitere Partner, die sich zum Teil finanziell engagieren, sind die Michail PROCHOROV-Stiftung und die Verkaufsagentur BESTseller . Inhaltlich kooperiert colta.ru mit der Website slon.ru, die zur Mediengruppe Doshd gehört (siehe das Kapitel Die Mediengruppe Doshd TV und zwei Hörfunksender), aber auch mit der international bekannten russischen NGO Memorial.

Seit 2016 gibt es ein neues Projekt von colta.ru: die monatliche Zeitschrift Rasnoglasia (Разногласия) - zu deutsch: Uneinigkeit. Sie soll das Thema künstlerische und gesellschaftliche Kritik abdecken. Die Zeitschrift lässt sich auch online auf colta.ru lesen: www.colta.ru/raznoglasiya.

4) Dosch (Дош / Dosh): www.dosh-journal.ru/ - Berichte aus dem Kaukasus

Website: RU
Zeitschrift: EN


Zwei Redaktionen hat das Journal: eine in Moskau, die andere in Grozny, der Hauptstadt Tschetscheniens. Dies ist kein Zufall: DOSCH informiert vor allem aus Tschetschenien und den benachbarten Ländern, z.B. Inguschetien. Es geht um die permanenten und teilweise kriegerischen Auseinandersetzungen im Nordkaukasus, um Menschenrechte und insbesondere um die dort lebenden Menschen.

Träger ist zum einen das Russische Zentrum für Menschenrechte (Российский исследовательский центр по правам человека), zum anderen das in Norwegen beheimatete Human Rights House Network. Diese NGO setzt sich in vielen anderen Ländern für Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit ein und versteht sich als gemeinsame Dachorganisation vieler kleinerer nationaler NGO's in anderen kaukasischen Ländern wie Aserbaidschan, Armenien, Georgien. Human Rights House ist aber auch auf dem Balkan, der Ukraine oder Polen vertreten.

Die Redakteure dieses Mediums leben gefährlich. Im Jahr 2010 wurden der Chefredakteur und sein Stellvertreter, Abdullah DUDUEV und Israpil SHOVHALOV, entführt - sie waren auf einer Recherchereise nach Inguschetien. Der Vorfall ging gut aus - jemand hatte Radio Moskwy und Kavkazi Uzel kurzfristig informiert, die Journalisten wurden kurzfristig wieder freigelassen. 2014 wurde der Redakteur Timur KUASCHEW tot aufgefunden - 2016 wurden die Ermittlungen eingestellt ohne einen Schuldigen gefunden zu haben. 2014 wurde auch die erste Website doshdu.ru von Roskomnadsor vorübergehend gesperrt.

Dosch gibt in unregelmäßigen Abständen ein englischsprachiges Magazin heraus: in einer geringen Auflage gedruckt, ansonsten als PDF auf der Website downloadbar. Auf der alten, inzwischen wieder zugänglichen Website www.doshdu.ru/english sind alle bisherigen Magazine seit der ersten Nummer aus dem Jahr 2003 downloadbar.

5) Kavkaz-Uzel (Кавказский узел / Kavkazskiy Uzel): Kaukasischer Knoten 

Website RU: http://www.kavkaz-uzel.eu
Website EN: http://www.eng.kavkaz-uzel.eu


Es ist für alle, die sich in Russland und andersow mit dem Kaukasus beschäftigen, die wichtigste Quelle: gegründet im Jahr 2001 von der russischen und international bekannten NGO Memorial. Seit 2008 ist Eigentümerin der Domain eine GmbH namens MEMO. Seit der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor das Recht zusteht, Internetseiten zu sperren, wurde die Top Level Domain verändert: von kavkaz-uzel.ru auf www.kavkaz-uzel.eu

Weil es die bedeutenste Nachrichtenquelle auch für den Rest der Welt ist, die täglich zwischen bis zu 100 Meldungen und Berichte online stellt und dies aus den 20 Regionen des Kaukasus einschl. aller dortigen Staaten, wird die Website auch in englischer Sprache bedient: als Caucasion Knot.

Aufgrund ihres Anspruchs, über alle Vorgänge, Ereignisse und Entwicklungen zu berichten, negative wie positive, ist kavkaz-uzel eine journalistische wie wissenschaftliche Quelle, die neben den aktuellen Nachrichten auch Analysen und Reports veröffentlicht.

Um das Projekt abzusichern, kooperiert kavkaz-uzel mit unterschiedlichen Partnern in unterschiedlichen Zusammenhängen: dem Russischen Institut für Menschenrechte und einer Expertengruppe namens panorama, die 1989 eine gleichnamige Zeitung herausgegeben hatten. Mit der Russland-Redaktion des englischen Senders BBC läuft das (Teil)Projekt "Nothern Caucasus in Blogger's Eyes", mit dem Russischen Zentrum für Hydro-Metereologie das "Wetter in 49 Städten des Kaukasus", mit der russischen Suchmaschine Yandex eine "Maps of Peaceful Caucasus". Zusammen mit der dem Kremlnahen Oligarchen MAMUT gehörenden Onlinesite gazeta.ru hat kavkaz-uzel Interviews mit den Präsidenten und Gouverneuren der Kaukasusregionen publiziert.

Die inhaltliche Gewichtigkeit dieses Projekts und die breite Kooperation mit anderen Institutionen zu einer im offiziellen Russland eher vergessenen Großregion scheint die unabhängige Funktionsfähigkeit zu garantieren.

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Diese Auflistung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Deswegen sind wir für weitere Hinweise auf andere Medien, die unabhängig agieren (können), dankbar.