Anna POLITKOWSKAJA

Eine couragierte Journalistin

Anna MASEPA wird am 30.08.1958 in New York geboren. Ihre Eltern sind ukrainische Diplomaten im Dienst der UdSSR bei den Vereinten Nationen. 48 Jahre später wird sie in Moskau durch fünf Schüsse einer Makarov-Pistole ermordet.


Die auf amerikanischem Boden geborene Anna verschlägt es nach Russland. Als 20jährige heiratet sie Alexander POLIT- KOVSKIJ, den sie kurz vor ihrem Studium der Journalistik an der Lomonossov-Universität in Moskau auf einer Party kennen lernt. Er ist 25. Sie bekommen zwei Kinder. Alexander arbeitet an seiner journalistischen Karriere, Anna übernimmt die Rolle der Hausfrau. Schnell ist sie unausgefüllt, wird eifersüchtig auf seine Arbeit. Sie will auch arbeiten, schreiben. Schreiben, worüber sie denkt. Keine Kompromisse. Nicht für Geld. Nicht für irgendwessens Interessen. 1980 schließt sie ihr Studium ab.

Zunächst arbeitet Anna für diverse russische Zeitungen und Zeitschriften wie z. B. dem Lufttransport oder der Iswestija. Ihr Eintritt in das Leben einer professionellen Journalistin gestaltet sich jedoch schwer. Die Arbeit wird ihren Ansprüchen nicht gerecht, ihre Aufgaben sind substanzlos. Bei der Iswestijaverantwortet sie den Briefverkehr.
Ihre Ehe ist ein ewiges Auf und Ab. Alexander und Anna leben in bescheidenen Verhältnissen. Mit Pfandflaschen helfen sie sich die Zeit bis zur nächsten Vorschusszahlung zu überbrücken. Für Kultur reicht das Geld nicht aus, aber Verzicht üben die beiden keinen: Das Theater gegenüber der gemeinsamen Wohnung besucht das Paar regelmäßig. „Wir gingen nach dem ersten Akt, als wir ohne Mantel über die Straße gelaufen kamen, ins Theater hinein, als kämen wir vom Rauchen wieder. Dadurch kannten wir das gesamte Repertoire der Stücke, jeweils ab dem zweiten oder dritten Akt“ (Alexander POLITKOVSKIJ).

1994 dann Annas Wechsel zur Wochenzeitung Obschtschaja Gazeta. Damals eines der Vorzeigeblätter demokratischer Berichterstattung Russlands. Sie wird Kommentatorin, stellvertretende Chefredakteurin und besetzt die leitende Position der Abteilung „Außerordentliche Vorfälle“. Annas Vorliebe für Investigation und Reportage führt sie weiter zur oppositionellen Zeitung Novaja Gazeta. Sie recherchiert und berichtet über Themen, vor denen die Mehrzahl der Journalisten in Russland bis heute zurückschreckt. Fokus ihrer Berichterstattung sind Korruption, menschenunwürdige Politik, Gewaltherrschaft sowie Unterdrückung der Meinungsfreiheit. 1999 erhält sie von ihrem Chefredakteur Dmitri MURATOV das Angebot, den Job als Sonderkorrespondentin im zweiten Tschetschenienkrieg zu übernehmen. Sie nimmt an.

Anna POLITKOVSKAJAS besonderes Interesse gilt den militärischen Interventionen gegen die Zivilbevölkerung. Ihre Artikel und Reportagen stehen im Widerspruch zur Darstellung des Kremls, der den Krieg im Nord-Kaukasus offiziell bereits als beendet erklärt hat. Sie schreibt über Verbrechen der russischen Armee und der mit ihnen verbündeten paramilitärischen tschetschenischen Gruppen als auch über brutale Übergriffe tschetschenischer Rebellen auf russische Soldaten. Vor allem verweist sie auf die Willkür und den Sadismus innerhalb des Krieges, um auf die humanitäre Katastrophe im Krisengebiet aufmerksam zu machen.

„Ein Krieg lässt sich sehr leicht beginnen, unvergleichlich schwerer ist es, danach all der Ungeheuer Herr zu werden, die er hervorgebracht hat“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA bezieht ihre Kenntnisse stets aus erster Hand. Sie knüpft Kontakte zu tschetschenischen Untergrundkämpfern, Zivilisten, Flüchtlingen sowie zu russischen Soldaten. Folter, Mord, Vergewaltigung, Korruption, Diebstahl, Erpressung und Menschenhandel scheinen für alle Beteiligten in Tschetschenien zum grausamen Alltag in Tschetschenien zu gehören. Auf über 50 Reisen durch die Region spricht sie mit Opfern über ihre Schicksale, erforscht sie die Hintergründe von Entführungen und den so genannten „Säuberungsaktionen“, sieht sie verstümmelte Leichen – auch verstümmelte Lebende – und bringt diese Erfahrungen wieder mit nach Moskau, um sie über die Novaja Gazeta der Öffentlichkeit mitzuteilen. Dabei belässt sie es nicht nur bei der Berichterstattung, sondern setzt sich darüber hinaus auch aktiv in Gerichtsverfahren für die Familien sowohl der tschetschenischen Zivilbevölkerung wie auch der ermordeter russischer Soldaten ein.
Alexander POLITKOVSKIJ beginnt sich zu dieser Zeit für den Alkohol zu interessieren. Mit seiner Arbeit läuft es nicht mehr gut. Nach der Ermordung eines Journalistenkollegen erreicht er seinen psychischen Tiefpunkt. Die Beziehung zu Anna zerbricht nach 21 Jahren Ehe unter der Schwere seiner persönlichen Probleme.

Im Februar 2001 bekommt Anna POLITKOVSKAJA am eigenen Leib zu spüren, worüber die Menschen in Tschetschenien ihr so oft berichtet haben. Sie wird im tschetschenischen Vedeno von russischen Soldaten verhaftet und stundenlang verhört. Für drei Tage hält man sie in einem Bunker fest, droht ihr Vergewaltigung und die Misshandlung ihrer Kinder an, beschimpft sie und wirft ihr vor, zum Netzwerk des tschetschenischen Rebellenführers BASSAJEV zu gehören. BASSAJEV gilt als einer der brutalsten Protagonisten im Tschetschenien-Konflikt. Der Oberstleutnant lässt sie frei mit den Worten: ‚Wäre es nach mir gegangen, hätte ich dich erschossen’. Trotz dieser Erfahrung versucht sie stets Neutralität zwischen dem russischen Militär und den tschetschenischen Widerstandskämpfern zu gewahren, spart es aber nicht aus, die Täter beim Namen zu nennen. Insbesondere äußert sie Kritik an der von Moskau unterstützten Führung in Tschetschenien. Konkret am damaligen tschetschenischen Premier und heutigen Präsidenten Ramzan KADYROV, der ihrer Meinung nach das ganze Land terrorisiere. Dem russischen Präsidenten Vladimir PUTIN wirft sie in diesem Zusammenhang vor, jenes nicht nur zu dulden, sondern bewusst zu steuern. Nachdem PUTIN KADYROV seine eigene Mördermiliz, die so genannte „Kadyrovqi“, gewährt, verbietet der Chefredakteur der Novaja Gazeta Anna POLITKOVSKAJA weiterhin in die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu fliegen.

„Wenn ich nicht mehr schreibe, haben meine Feinde ihr Ziel erreicht“ (A. P.).

Anna POLITKOVSKAJA weiß um die Gefahr. Dessen ungeachtet nimmt die Regierungs- kritikerin kein Blatt vor den Mund. Morddrohungen und Verhaftungen zum Trotz kritisiert sie PUTIN für seine rassistische Staatsführung, für die Kriege in Tschetschenien, für Folter und Drangsal in der russischen Armee und die konsequente Hetzjagd auf kremluntreue Journalisten. Ihrer Ansicht nach ist die „Wahrheit […] durch die Propaganda […] und durch eine um den Verstand gebrachte Medienlandschaft [ersetzt worden]. Das alles zu Gunsten einer Macht, die davon ausgeht, dass sie Russland sei und aus diesem Grund am besten wisse, was Russland brauche“ (Anna POLITKOVSKAJA). Ihre Kritik an der Kreml-Politik verschafft Anna POLITKOVSKAJA Feinde in hohen Regierungsämtern.
Insbesondere in Kreisen westlicher Menschenrechtsorganisationen wird ihr Name durch ihre Publikationen zum Tschtschenienkrieg ein Begriff. Anna POLITKOVSKAJAS lebensgefährliches Engagement und ihre persönliche Courage werden – als reiche der Mut nicht für mehr – mit diversen journalistischen Auszeichnungen versehen. Die daraus resultierende Popularität erscheint ihr fälschlicherweise als ein Schutzschild. Gleichwohl übt sie Kritik an der westlichen Welt. Sie wirft ihr vor, sich nicht für Russland und seine Menschen, sondern nur für das Gas und das Öl zu interessieren. Immer wieder beklagt sie Deutschlands enge Freundschaft zu PUTIN.


"Auf meiner Suche nach Unterstützung ziehen sie an meinen Augen vorüber, die Hauptstädte der Welt. Im Frühjahr war ich in Amsterdam, Paris, Genf, Manila, Bonn, Hamburg ... Überall die Bitte, 'eine Rede zu halten über die Situation in Tschetschenien' - und das Resultat gleich Null. Nur höflicher 'westlicher' Beifall als Reaktion auf die Mahnung: 'Vergessen Sie nicht, dass in Tschetschenien weiterhin jeden Tag Menschen umkommen. Auch heute’“ (A. P.).


Anna POLITKOVSKAJA verfolgt die „Mission“, die Wahrheit über die Verhältnisse in Tschetschenien und die Zustände in Russland ans Licht zu bringen. Ihr Pflichtbewusstsein für ihre Arbeit und die Annahme der Rolle als Stimme für die Menschen, die unter dem Krieg in Tschetschenien leiden, sind stärker als ihre Angst. „Sie ist ein sehr harter Mensch und genauso anspruchsvoll ist sie gegenüber ihrer Umwelt. Diese Härte fiel einem sehr schwer auszuhalten. Aber wir haben uns gegenseitig stets normal und mit Respekt behandelt“ (Alexander POLITKOVSKIJ). Ihr Arbeitspensum überbietet dass eines Top-Managers. Sie nimmt sich vor, was kaum zu schaffen ist.


„Ich bin überzeugt von dem, was ich tue. Damit bin ich im Einklang mit mir selbst“ (A. P.).

Ihre ursprünglichen Ambitionen, Souveränität und Kompromisslosigkeit, bewahrt sie sich. Ihr Prinzip: alles veröffentlichen, ohne die Folgen für sich zu bedenken. So verlässt sie beispielsweise Moskau 2001 als Reaktion auf Morddrohungen, nachdem sie einen Artikel veröffentlicht hat, in dem sie das russische Militär in Tschetschenien belastet. Die ihr angeblich sehr ähnlich sehende Nachbarin wird einen Tag nach ihrer Abreise ermordet aufgefunden. Anna POLIT- KOVSKAJA lebt für einige Monate in Wien, kehrt jedoch bald nach Moskau zurück. 2002 besetzen maskierte und bewaffnete Personen – den Medien zufolge tschetschenische Rebellen – das Dubrovka-Theater in Moskau und bringen knapp 800 Gäste in ihre Gewalt. Anna POLITKOVSKAJA bietet sich zur Vermittlung als Geisel an. Sie wird als Unterhändlerin für die Verhandlungen akzeptiert und versorgt die Festgehaltenen mit Wasser. Den Sturm der russischen Spezialeinheiten und damit den Tod von über 100 Menschen kann sie jedoch nicht verhindern. Unmittelbar danach äußert sie Kritik an der Vorgehensweise der Polizeieinheiten. Anna POLITKOVSKAJA recherchiert das Vorgehen der russischen Behörden während des Sturms auf das Theater auch dann noch, als viele die Hoffnung auf Klärung bereits aufgegeben haben.

2004 besetzen in Beslan maskierte und bewaffnete Personen – den Medien zufolge tschetschenische Rebellen – eine Schule. Bei der Befreiungsaktion durch russische Spezialeinheiten sterben einige Hundert Menschen, darunter viele Kinder. Kritische Journalisten vermuten hinter der Schulbesetzung eine geplante Aktion des russischen Geheimdienstes FSB – die Nachfolgeorganisation des KGB – zur Stabilisierung des Feindbildes „tschetschenische Terroristen“ und damit zur Rechtfertigung der Militäreinsätze im Nord-Kaukasus. Als auch Anna POLITKOVSKAJA sich nach Beslan aufmacht, wird ihr eine Tasse Tee auf dem Flug – sie nimmt in der Regel nur selbst mitgebrachte Nahrung zu sich – zur verhängnisvollen Ausnahme. Erstmalig wird Anna POLITKOVSKAJA Opfer eines Giftanschlags. Sie verliert das Bewusstsein und wird somit an der Einreise gehindert. Die Täter bleiben unbekannt.
Im Mai 2005 wird Anna POLITKOVSKAJAS parkendes Auto von unbekannten Männern demoliert. Im Oktober versuchen Unbekannte mit einem Mercedes Jeep ihren Wagen von der Straße abzudrängen. An diesem Tag fährt jedoch ihre Tochter das Fahrzeug. Es stellt sich quer, die Männer zerschlagen die Scheiben. Die Täter bleiben unbekannt.

Ein Jahr später, am 07. Oktober 2006, dem Geburtsdatum von Präsident PUTIN, wird Anna POLITKOVSKAJA im Aufzug ihres Wohnhauses mit vier Pistolenschüssen ermordet. Der fünfte, so genannte Kontrollschuss, wird gezielt auf den Kopf abgefeuert. Die Kamera am Haus filmt einen jungen Mann. Die Polizei nimmt die Fahndung auf. Gerüchten zufolge sind mehrere Personen an dem Mord beteiligt gewesen. Die Täter bleiben unbekannt. Raubmord wird ausgeschlossen. Politischer Mord? Möglich. Der stellvertretende Moskauer Staatsanwalt Vjatschislav ROSSINSKI mutmaßt, dass Anna POLITKOVSKAJAS journalistisches Engagement ihr Leben verantworte. Auch für den Oppositionsabgeordneten Vladimir RYSCHKOV ist die Tat politisch motiviert. Nach Präsident PUTIN nimmt die Reputation Russlands deutlich mehr Schaden durch den Mord an der Journalistin als durch deren Artikel. Der vom Kreml ins Amt des tschetschenischen Präsidenten gehobene Ramzan KADYROV beschuldigt den milliardenschweren Unternehmer und PUTIN-Gegner Boris BERESOVSKI – der im Exil in Großbritannien lebt – für den Mord an Anna POLITKOVSKAJA verantwortlich zu sein. Für die Redaktion der Novaja Gazeta sind die Anschuldigungen unhaltbar und dienen ihrer Ansicht nach dazu, die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. So leiten die Verantwortlichen der Zeitung eigene Ermittlungen ein und setzen ein Kopfgeld von 25 Millionen Rubel (740.000 Euro) für der Aufklärung dienliche Hinweise aus.


Der Großteil der russischen Bevölkerung steht dem Ereignis gelassen gegenüber. Der Fall beinhalte keinen Symbolcharakter und sei nur einer von vielen vergleichbaren in Russland, meldet eine Petersburger Senatorin. Die Aufmerksamkeit der westlichen Medien für den Tod Anna POLITKOVSKAJAS spiegelt darum nicht zwangsläufig die Resonanz auf den Mord in ihrer Heimat Russland wieder.
In der westlichen Welt eignet sich der Vorfall des Mordes an einer couragierten und für den Kreml unbequemen, sich für die Menschenrechte einsetzenden Reporterin als Symbol für einen Anschlag auf die Pressefreiheit und insbesondere den investigativen Journalismus. Auch wenn der Name Anna POLITKOVSKAJA in Folge von verschiedenen Ehrungen im Westen bekannter ist als der von vielen ihrer ermordeten (und noch aktiven) Mitstreiter im Kampf um Gerechtigkeit, verhilft erst der Mord an der Person POLITKOVSKAJA dieser zu Ehre und Ansehen auch innerhalb der Massenmedien. So schnell die mediale Popularität POLITKOVSKAJAS auftaucht, so schnell verschwindet sie wieder von der Agenda westlicher Medien.

Am 09. Juni 2014, knapp acht Jahre nach den Mord an der kritischen Journalistin gibt es nun endgültige Urteile gegen die fünf Angeklagten. Lom-Ali GAITUKAYEV, der den Ablauf der Tat geplant haben soll und sein Neffe, der Todesschütze Rustam MAKHMUDOV, müssen lebenslang ins Straflager. Zudem verurteilte das Gericht in Moskau drei Komplizen zu 12 bis 20 Jahren Lagerhaft. 

 

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