Die "Themenkarriere": Wie der Fall Gustl MOLLATH ans Tageslicht kam

Über engagierte Menschen, traditionelle Medien und anonyme Whistleblower 

Der nachfolgende Beitrag von Johannes LUDWIG stammt aus dem inzwischen vergriffenen Buch "Staatsversagen auf höchster Ebene. Was sich nach dem Fall Mollath ändern muss", herausgegeben von Sascha POMMRENKE und Marcus B. KLÖCKNER. Erschienen 2013 im Westend-Verlag, Frankfurt. Dort finden sich weitere Beiträge über andere Aspekte dieses Falles.

Der hiesige Beitrag konzentriert sich darauf, 

  • in welcher Reihenfolge
  • welches Medium
  • und welche Whistleblower

agiert hatten bzw. agieren mussten, um das Problem in die Öffentlichkeit zu bringen. Und damit letztlich die Freilassung von Gustl MOLLATH bewirkten. So gesehen handelt es sich um einer Kurzfassung der ausführlichen Chronologie mit dem Fokus auf die "Themenkarriere" dieses Falles:


Der Fall Gustl Mollath ist ein typisches Beispiel für mehrere Erkenntnisse:

  1. Was hierzulande so alles geschehen kann. Konkret: Wie einfach es ist und wie schnell es manchmal gehen kann, dass jemand weggesperrt wird.
  2. Wie unzureichend die Justiz funktioniert, immerhin die dritte Gewalt im Staate. Konkret: Wenn auf Lebenszeit verbeamtete Richter sich nicht mehr bemüßigt fühlen (müssen), den Dingen auf den Grund zu gehen. Oder wenn Staatsanwälte Anzeigen, die ihrem Ordnungssinn nicht entsprechen, achtlos zu den Akten legen
  3. Wie selbstgefällig und oberflächlich, letztlich ausgesprochen schlampig gerichtlich vereidigte »Gutachter« arbeiten. Und damit Geld verdienen (können)
  4. Wie selbstgefällig und ignorant die Finanzverwaltung teilweise funktioniert. Sie soll ja – eigentlich – unsere Gemeinschaftskasse (Steuern) verwalten
  5. Dass vorrangig bzw. ausschließlich auf Gewinnerzielung (um jeden Preis) fokussierte Banken so gut wie alles mitmachen, was diesem Ziel dienlich ist (Beihilfe zur Steuerhinterziehung, illegale Geldtransfers, toxische Geschäfte und so weiter), weiß man nicht erst seit der Finanzkrise. Die Praktiken der Hypovereinsbank sind – so gesehen – nichts Neues.
  6. Aber am Fall Mollath wird deutlich, was alles passieren muss, um a) einen solchen Fall und b) das dahinter stehende Staatsversagen ans Tageslicht zu bringen, die Öffentlichkeit zu alarmieren und darüber letztlich eine Korrektur herbeizuführen. Das Beispiel zeigt konkret, wie wichtig die Rolle der Medien ist, der vierten Gewalt in einem demokratischen Staat. Und wie unverzichtbar Informanten bzw. (anonyme) Whistleblower sind. Ohne das bewusste »Leaken« des fraglichen Sonderuntersuchungsberichts der Hypovereinsbank, die intern wusste, dass die Vorwürfe, die Mollath erhoben hatte, zutreffend waren, wäre dieser Fall vermutlich nicht wirklich vorangegangen.

Im folgenden soll chronologisch rekonstruiert werden, wie die »Themenkarriere« dieses Falles funktioniert hat. Diesen Begriff benutzen Kommunikationswissenschaftler, wenn sie darstellen wollen, in welcher Reihenfolge wer über was und wie berichtet hatte und wie sich dann ein bestimmtes Thema allmählich karrieremäßig ganz nach oben schrauben kann, bis jeder weiß, dass es dieses Thema gibt. Dass der Fall Mollath so funktionieren konnte, ist zunächst mehreren engagierten Menschen der Zivilgesellschaft zu verdanken. Sie haben dafür gesorgt, dass unser politisch etabliertes und gleichermaßen vielfach eingerostetes Staatssystem auf Trab gebracht wurde.

Die Geschehnisse von Anfang an im Einzelnen sind detailliert gelistet und mit vielen Dokumenten unterlegt auf der Website www.gustl-for-help.de. Die Karriere des Themas und die unterschiedlichen Anteile der Medien dabei, um die es in diesem Buchbeitrag gehen wird, finden sich unter www.ansTageslicht.de/Mollath.

Phase eins: Freunde und Bekannte bilden einen Unterstützerkreis

Was es bedeutet, zwangsweise »psychiatrisiert« zu werden, um danach mit einem Gefälligkeitsgutachten aus dem Beamtendienst entlassen zu werden, weiß der hessische Steuerfahnder Rudolf Schmenger seit 2006. Er war einer von mehreren, die sich bereits vier Jahr zuvor einer Amtsverfügung widersetzt hatten, die ihnen vorschrieb, nicht mehr so genau hinzuschauen. Schmenger gehörte bei der Frankfurter Steuerfahndung jener internen Arbeitsgruppe an, die 1996 die Commerzbank wegen des Verdachts auf Beihilfe zur Steuerhinterziehung durchsucht hatten. Daraus ergaben sich – man lese und staune – rund 60 000 Steuerstrafverfahren gegen Kunden dieser Bank. Die Commerzbank selbst musste eine Viertelmilliarde Euro an Steuern und Verzugszinsen nachzahlen.

Als 1999 die Hessen-CDU unter Roland Koch die Wahl gewann, hatte sie auf der Stelle ein Problem. Die Medien hatten nicht nur gerade enthüllt, dass sich die Hessen-CDU mit einer dubiosen Stiftung namens »Zaunkönig« mit Sitz in Liechtenstein finanzierte , sondern es gerieten auch die Schwarzgeldspenden der Bundes-CDU in die Schlagzeilen. Der Steuer- und Finanzberater, der dies alles und auch die Bargeldübergabe in Koffern auf Schweizer Boden organisierte, war Hesse. So wie einer seiner Kollegen, der bereits in den 70er Jahren Parteispenden für die CDU über ein Kloster laufen ließ, um schwarz kassieren zu können. Jetzt wollte Roland Koch seine Ruhe und für sein Klientel angenehme Rahmenbedingungen. Die Frankfurter Steuerfahnder sollten daher ebenfalls Ruhe einkehren lassen.

Das aber hätte dem Amtseid der Finanzbeamten widersprochen. Dem Gesetz ohnehin. So begann auch Schmenger sich zu wehren. Die Folge: Er wurde zum Amtsarzt geschickt, der sich als Psychiater zu erkennen gab und ihm eine »paranoid-querulatorische Entwicklung« mit sich daraus ergebender »chronisch verfestigter psychischer Erkrankung«, sprich: Berufsunfähigkeit bescheinigte. Die Illustrierte Stern machte am 11. Dezember 2008 eine große Geschichte daraus (»Eiskalt abserviert«), die auch der psychiatrisierte Gustl Mollath zu lesen bekam. Der saß zu dieser Zeit in der geschlossenen Psychiatrie Straubing ein. Mollath schrieb einen Brief an Schmenger.

Zeitgleich versuchten gute Bekannte von Mollath, Medien für diese Geschichte zu interessieren. Doch die Mischung aus Rosenkrieg, Beschuldigungen der Steuerhinterziehung auf der einen Seite, die Anwendung körperlicher Gewalt auf der anderen und einer anschließenden – angeblich ungerechtfertigten – Einweisung in die Psychiatrie verfing beispielsweise bei der Frankfurter Rundschau nicht – zu dünn waren für sie die Belege. Und auch der Stern, der den hessischen Steuerfahndern breiten Raum im Heft gewährt hatte, konnte keinen Fall Mollath erkennen. »Wir sind keine Anhänger von Verschwörungstheorien: In diesem Falle konstruieren Sie ja wohl eine Verschwörung der Psychiatrie und der Justiz mit der Bankenwelt, um unschuldige Menschen, die Ihnen auf die Schliche gekommen sind, mundtot zu machen«, schrieb die Redaktion zurück.

Das insgesamt 39-seitige Anschreiben, darunter die erste Strafanzeige von Mollath vom 9.12.2003 wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und anderem mehr, die konkrete Namen enthielt, landete aber auch beim Whistleblower-Netzwerk (www.whistleblower-net.de), einer Vereinigung, die zum Beispiel Informanten, Enthüller und Skandalaufdecker unterstützt. Dort ist auch Rudolf Schmenger Mitglied und ebenso Wilhelm Schlötterer, ehemaliger Ministerialrat im Bayerischen Finanzministerium. Letzterer hatte sich bereits in den 70er Jahren mit sogenannten Großkopferten angelegt, die nicht willens waren, ihren Steuerpflichten nachzukommen: »Kaiser Franz« oder den ehemaligen Wienerwald-Besitzer Friedrich Jahn und einige andere. Wer so etwas in Bayern macht, geriet und gerät schnell mit der Regierung des Freistaats aneinander. Deren Chef war damals Franz Josef Strauß. Folge: Schlötterer wurde (nur) demontiert. Nicht psychiatrisiert und entlassen.

Beide, Schmenger aus Hessen und Schlötterer aus Bayern, nehmen sich des Falls an – sie wollen sich darum kümmern. Doch die ersten Schritte sind mühsam, denn es gibt so gut wie keine amtlichen Unterlagen, die man in Bayern als einfacher Bürger bekommen könnte. Da ist die Obrigkeit davor. Und Informationsfreiheitsgesetze gab es damals in allen CDU-regierten Bundesländern nicht. In Bayern erst recht nicht. Und mit dem Informationsfreiheitsgesetz auf Bundesebene, das seit 2006 existiert, konnte man im Freistaat wiederum nichts anfangen.

So kommt eine erste Initialzündung (erst) zustande, als Schlötterer zu einem Vortrag nach Nürnberg in das Bürgerzentrum Villa Leon eingeladen wird. Dort spricht er im März 2011 über sein Buch Macht und Mißbrauch. Franz Josef Strauß und seine Nachfolger, aber auch über den Stand seiner bisherigen Recherchen im Fall Mollath. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits auch erste konkrete Unterlagen auftreiben können. Mollath selbst ist im Besitz von praktisch nichts mehr – er hat ja keine Wohnung mehr. Und die Unterlagen, die er dem Gericht und der Staatsanwaltschaft überlassen hat, wollen die nicht mehr herausrücken.

Die Zuhörer reagieren entsetzt, wollen nicht glauben, was sich in ihrer Stadt abgespielt hat. Es kommt spontan zur Gründung eines Unterstützerkreises. Motto: Wenn sich die etablierten Medien nicht für diesen Vorgang interessieren, dann will man die Öffentlichkeit wenigstens über eine eigene Internetseite informieren. So etwas lässt sich inzwischen einfach machen, und so stellt der digitale Umbruch der Mediengesellschaft eine erste Voraussetzung für das Gelingen der Themenkarriere dar: Gegenöffentlichkeit zu dem, was die traditionellen Medien nicht thematisieren. So kommt es zum ersten Internetauftritt von www.gustl-for-help.de – fünf Jahre nach Mollaths Internierung. Der Unterstützerkreis um Reiner Hofmann, einen Künstler, wird größer.

Phase zwei: die ersten Berichte auch in den traditionellen Medien

Rudolf Schmenger, der um die Bedeutung der Medienberichterstattung weiß, hat längst einen Journalisten vom Südwestrundfunk aus Mainz angespitzt. Der braucht jetzt Hilfe bzw. Informationen vor Ort, und bei seiner Recherche, wer ihm da wohl kurzfristig mal aushelfen könne, stößt er auf den Namen Michael Kasperowitsch von den Nürnberger Nachrichten. Mit dem hat er vor 30 Jahren die Schulbank gedrückt: bei der Deutschen Journalistenschule in München. Langzeitvernetzung ist im Medienbereich ebenfalls ein bedeutender Faktor, um Themen und Geschichten voranzubringen: Wenn mehrere an einer Geschichte arbeiten, einzeln oder im Verbund, erhöht sich die publizistische Schlagkraft.

Kasperowitsch, der in seinem Zeitungsarchiv schnell ganz normale Presseberichte über den Strafprozess von 2006 vorfindet und von seinem SWR-Kollegen zusätzlich mit Informationen versorgt worden ist, fährt in seiner Freizeit und auf eigene Kosten erst einmal zu Wilhelm Schlötterer nach München, um dessen Unterlagen zu studieren. Ein weiterer Besuch bei Mollath selbst, ebenfalls in seiner Freizeit, überzeugt ihn von der Merkwürdigkeit, dass dieser Mensch quasi inhaftiert ist. Doch erst zwei weitere Indizien müssen her, bevor es zu einem allerersten Bericht in den Nürnberger Nachrichten kommt: Zum ersten die gutachterliche Stellungnahme des Mediziners Friedrich Weinberger, der auch im Vorstand einer Gesellschaft für Ethik in der Psychiatrie sitzt, und der die bisherigen Fachgutachten seiner Psychiaterkollegen als »grobe Falschbegutachtung« bewertet, die einer »Irreführung des Gerichts Vorschub leisten« würde. Und zum zweiten die Eidesstattliche Versicherung eines Bekannten der Familie Mollath, nach der dessen Exfrau gedroht habe, dass sie ihren ehemaligen Mann »fertig machen würde«: »Dann zeige ich ihn auch an, das kannst du ihm sagen. Der ist doch irre, den lasse ich auf seinen Geisteszustand überprüfen, dann hänge ich ihm was an, ich weiß auch, wie.«

So kommt es am 7. Oktober 2011 zu einem allerersten größeren Bericht in den Nürnberger Nachrichten: »Ein gar nicht so fernes Unrecht?«. Darin ist die Geschichte in ihren Grundzügen bereits beschrieben:

  • Wie Mollath Namen und Adressen von Kunden und Mitarbeitern der Hypovereinsbank nennen kann – mit Angaben über Schwarzgeldkonten in der Schweiz,
  • dass er bei einigen dieser »Kurierfahrten« seine Frau begleitet habe, die in der HVB gearbeitet hat,
  • dass er dem Amtsgericht damals Unterlagen darüber übergeben
  • und mehrere Briefe an die Staatsanwaltschaften geschrieben habe,
  • der diese Angaben allerdings zu »pauschal« und zu »unkonkret« waren.
  • Einen Monat später kann Kasperowitsch nachlegen: »Die Bank nahm die Vorwürfe ernster als die Justiz«. Der Redakteur hatte der HVB einen Fragenkatalog zugeschickt, weil er einige Dinge wissen wollte. Und die HVB hatte auch geantwortet:
  • »Diverse Schreiben hatten damals zu einer internen Untersuchung geführt.«
  • Danach hätten sich Mitarbeiter der Bank »im Zusammenhang mit Schweizer Bankgeschäften, unter anderem mit der AKB-Bank, einer Tochter der damaligen Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank AG, weisungswidrig verhalten«.
  • Dies habe auch zu »personellen Konsequenzen« geführt. Mehrere Mitarbeiter seien »entlassen« worden.
  • Auch Petra Mollath, die Exfrau von Gustl Mollath.

Nochmals einen Monat später, am 13. Dezember 2011, geht die gleiche Geschichte beim SWR-Magazin Report Mainz über den Bildschirm. Ein Tageszeitungsredakteur kann jeden Tag veröffentlichen, die Fernsehkollegen Monika Anthes und Eric Beres müssen auf ihren Sendetermin warten: einmal alle fünf Wochen im Durchschnitt. Dafür hat die Regionalzeitung eine räumlich begrenzte Reichweite, was Leser und Aufmerksamkeit anbelangt. Ein öffentlich-rechtliches TV-Magazin erreicht immerhin knapp zwei Millionen Zuschauer.

Jetzt kommt ein wenig Bewegung in den Fall. Die ersten Artikel der Nürnberger Nachrichten und der Bericht des TV-Magazins lösen erste Aktivitäten auf anderen Ebenen aus. So erwacht die Nürnberger Staatsanwaltschaft aus ihrem Schlaf und schreibt – von sich aus – die HVB an; sie möchte Näheres wissen. Im Bayerischen Landtag ergreift die Fraktion der Freien Wähler die Initiative. Justizministerin Beate Merk, CSU, macht daraufhin das, was ignorante Politiker üblicherweise machen: Sie wiegelt ab: »In einem Rechtsstaat wird keiner willkürlich untergebracht, weil er Strafanzeige erstattet!« Und in einer Sitzung des Rechtsausschusses versteigt sich die Ministerin gar zu der Einschätzung, dass das, was Mollath seinerzeit dem Richter übergeben habe, ein »abstruses Sammelsurium« gewesen sei, darunter Mollaths Strafanzeige an einen Generalstaatsanwalt.

Längst hat sich auch Maria Fick, die Menschenrechtsbeauftragte der Landesärztekammer Bayern, eingeschaltet. Und hat einer von Mollaths Anwälten Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt. Derweil haben die Staatsanwälte Post erhalten: von der HVB, die ihnen – großzügigerweise – ein Exemplar eines internen Sonderuntersuchungsberichts überlässt, in der die Vorwürfe von Mollath klar belegt sind. Die Staatsanwälte – Anwälte des Staates – indes sehen keinerlei Anlass, dies nach draußen zu kommunizieren. Sie sind offenbar froh, dass längst alles verjährt ist, was Mollath da angezeigt hat, und geben sich damit zufrieden. Alles andere wäre ja mit zusätzlicher Arbeit verbunden. Das einzige, wozu sie sich aufraffen (können), ist, den Bericht an die diversen Finanzämter der darin namentlich Genannten zu schicken.

So bleibt die Wahrnehmung des Falls Mollath im Frühjahr 2012 vor allem auf lokaler und regionaler Ebene hängen. Nichts bewegt sich mehr. Auf Bundesebene gehört die Aufmerksamkeit im Sommer einem ganz anderen Fall: dem Organspendenskandal, der in Göttingen beginnt, dann weitere Kreise über München, Leipzig und Münster zieht: gestandene und professorale Mediziner, die Patientendaten fälschen, um ihren Kunden schneller zu einer Ersatzleber zu verhelfen.

Phase drei: der Fall wird zum Politikum

Irgendein beherzter Mensch gibt sich im Oktober 2012 einen Ruck. Er nimmt Kurs auf ein Internetcafé und mailt – anonym – Mollaths Rechtsanwältin eine Kopie des HVB-internen Sonderuntersuchungsberichts. Und erst jetzt entfaltet sich die eigentliche Dynamik, die den Fall, der nun bereits in siebte Jahr geht, ziemlich schnell zu einem ersten Abschluss bringen wird: der Wiederaufnahme des Verfahrens und der Freilassung von Mollath. Letzteres allerdings wird noch ein dreiviertel Jahr dauern.

Die Nürnberger Nachrichten titeln am 29. Oktober: »Steuerfahnder haben die Spur aufgenommen«. Doch Nürnberg ist aus Sicht der Bayernmetropole weit weg, so dass sich Justizministerin Merk im Parlament zu der Behauptung versteigen kann, dass »die bankinternen Untersuchungen die Vorwürfe Mollaths gerade nicht bestätigt haben«.

Doch zu dieser Zeit kursiert der interne Bericht längst auch bei der Süddeutschen Zeitung. In der Nürnberger Redaktion haben die beiden SZ-Redakteure Olaf Przybilla (Bayern-Ressort) und Uwe Spitzer (Investigativ-Reporter) schon mehrmals über den Fall nachgedacht und auch mit der Chefredaktion in München gesprochen. Für sie gab es bisher keinen Anlaß, eigenständig zu recherchieren oder zu publizieren. Das hatten ja bereits andere gemacht, weshalb die Themenkarriere des Falls auf der lokal-regionalen Ebene hängen geblieben war.

Doch jetzt, seitdem ein »hartes« Dokument auf dem Tisch liegt, ist alles anders – jetzt wird für die SZ aus der bisherigen Verschwörungstheorie tatsächlich ein Fall Mollath. Die Redakteure steigen nun selbst in die Eisen, überprüfen genannte Namen und Fakten und beginnen am 31. Oktober eine ganze Serie, die in den nächsten sechs Monaten rund sechzig Artikel hervorbringen wird.

Da die SZ nicht nur eine bayernweite Tageszeitung ist, sondern in ganz Deutschland gelesen wird, steigt der Fall nun in höhere Sphären auf: in die bundesdeutsche Wahrnehmung. Spätestens am 13. November, einem Dienstag, der zum Großkampftag wird: Morgens titelt die SZ mit dem »Mann, der zuviel wusste« und nimmt kein Blatt mehr vor den Mund. Abends dann im ARD-Fernsehen ein weiterer Bericht von Report Mainz: »Justizskandal in Bayern« – ebenfalls eindeutige Worte.

Nachdem sich daraufhin der Regensburger Strafrechtsprofessor Henning Ernst Müller zu Wort meldet und scharfe Kritik am bisherigen Verfahrensablauf durch die Nürnberger Justiz übt, die Freie Wählergemeinschaft im Bayerischen Landtag den Hamburger Strafrechtler Gerhard Strate mit einem Gutachten beauftragt und zum weiteren Rechtsvertreter von Mollath bestellt und die SZ am 24. November zwei Augenzeugen und einen der Schöffen aus dem Strafprozess von 2006 zu Wort kommen lässt, die alle von einer »verheerenden« Verhandlungsführung durch den Richter Otto Brixner berichten, lässt sich für den Staatsapparat in Gestalt des bayerischen Justizministeriums und der Nürnberger Justizbehörden nichts mehr aufhalten und nichts mehr mit vordergründigen Argumenten klittern. Selbst der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sieht sich bemüßigt, Tacheles zu reden: Er respektiere selbstverständlich die Unabhängigkeit der Justiz. Sie sei aber »gut beraten, den Fall noch einmal neu zu bewerten«.

Und so geschieht es dann auch. Im siebten Jahr nach Mollaths Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Beziehungsweise nach zweieinhalb Jahren Vorarbeiten durch zwei frühere Whistleblower. Beziehungsweise nach einem ganzen Jahr medialer Berichterstattung.

Resümee

So ergibt sich die Auflösung dieses Falles als Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die die notwendige Themenkarriere – konkret: eine ausreichend breite öffentliche Wahrnehmung – generieren und darüber politischen Handlungsdruck auslösen konnten:

  • engagierte Menschen, denen das Wohlergehen anderer ein Anliegen ist und die Ungerechtigkeiten nicht einfach hinnehmen wollen,
  • eine zivilgesellschaftlich organisierte Internetplattform, die zum Pulsgeber für die notwendigen Vorarbeiten und Recherchen wird, die dann
  • traditionelle Medien aufgreifen (können), die sich aber teilweise mit selbst gesetzten Restriktionen und Eitelkeiten wieder selbst beschränken,
  • sowie ein anonymer Informant bzw. Whistleblower, eine Art deutscher Edward Snowden.

So nimmt alles letztlich eine positive Wendung. Es bleibt jedoch das Unbehagen, dass zwar der Fall Mollath fair ausgehen wird, aber vermutlich viele andere menschliche Schicksale nicht das Glück haben, von derlei vielen positiven Umständen profitieren zu können. Es sei denn, mehr Menschen engagieren sich. Zum Beispiel durch das Leaken von essentiellen Informationen.