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"Es ist kein Flächenbrand"

Süddeutsche Zeitung , 08.11.2012 
von Christina BENDT

An den Universitätskliniken in Göttingen und Regensburg sind im vergangenen Sommer Manipulationen bei Organtransplantationen in einem Ausmaß bekannt geworden, wie es kaum jemand in Deutschland erwartet hätte. Kurz darauf beschlossen die bei der Bundesärztekammer (BÄK) ansässigen Prüfungs- und Überwachungskommissionen, in allen deutschen Transplantationszentren regelmäßig spontane Kontrollbesuche vorzunehmen. Der Strafrechtler Hans Lilie von der Universität Halle ist einer der Klinikkontrolleure. Im Gespräch mit der SZ berichtet er von seinen Erfahrungen mit spontanen Inspektionen in Kliniken und den Möglichkeiten, auf diese Weise kriminellen Machenschaften auf die Spur zu kommen.

SZ: Oft hieß es, die Kontrollinstanzen in der deutschen Transplantationsmedizin gingen zu milde mit Regelverstößen um. Neuerdings überprüfen Sie Transplantationszentren fast schon mit Razzien. Ist das nötig geworden?
Lilie: Die Vorgänge in Göttingen haben uns zumindest Anlass zu dieser Überzeugung gegeben. Als die Verantwortlichen dort unsere Fragen, die wir ihnen im Zuge unserer Ermittlungen gestellt haben, nicht plausibel beantworten konnten, haben wir im Juni 2012 beschlossen: Wir machen jetzt etwas Unkonventionelles. Wir gehen ohne große formelle Anmeldung mit einem Tag Vorlauf in das Zentrum hinein.

Waren Sie dazu legitimiert?

Zu dieser Zeit war das neue Transplantationsgesetz zwar noch nicht in Kraft getreten, aber schon verabschiedet. Das haben wir genutzt. Bis dahin hatten wir aufgrund der bestehenden Rechtslage tatsächlich Probleme, als Prüfungs- und Überwachungskommission in die Zentren zu gehen. Das neue Gesetz aber hat uns eine Rechtsgrundlage gegeben.

War diese schon länger vorgesehene Gesetzesänderung Zufall oder gab es bereits Bedarf an mehr Kontrolle?


Das ist sicherlich kein Zufall gewesen. Vor einigen Jahren gab es schon einmal zahlreiche Klagen und Gerüchte über die Transplantation von Herzen.

Ärzte beklagten damals, an manchen Kliniken bekämen Patienten ein Herz, die gar nicht – wie es die Richtlinien zur Organtransplantation verlangen – so krank waren, dass sie dauerhaft im Krankenhaus liegen mussten.
Wegen dieser Art Vorwürfe haben wir uns entschlossen, eine große Anzahl von Herzzentren zu überprüfen. Das war sehr kompliziert, weil wir rechtlich keinen Anspruch auf Akteneinsicht hatten und die Zentren uns auch nicht ins Haus lassen mussten.

Hat sich denn jemand gewehrt?


Nein. Alle haben zugestimmt. Wir haben uns damals zur Sicherheit auch von allen Patienten die Einwilligung holen lassen. So etwas verzögert natürlich ungemein. Wir haben dann einige Verstöße gegen die Richtlinien festgestellt. Es hatte aus unserer Sicht aber keiner die Bedeutung, dass wir ihn zur Anzeige bringen mussten. Wir haben es bei Verwarnungen belassen. In Göttingen wurde zum ersten Mal klar: Hier handelt es sich um vorsätzliche Verstöße.

Seit Neuestem führen Sie Ihre Kontrollen regelmäßig durch. Vermuteten Sie an weiteren Zentren Manipulationen?


Wir haben gar nichts vermutet, weil wir keine konkreten Anhaltspunkte für Gesetzesverstöße hatten. Bisher war es meist so, dass die Organvermittlungsstelle Eurotransplant uns über Auffälligkeiten informiert hat. Zum Teil haben uns auch die Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation auf mögliche Unregelmäßigkeiten aufmerksam gemacht. Um Vorwürfe aktiver Manipulationen ging es da aber nicht.

Wie oft gibt es anonyme Hinweise?


Die sind eine extreme Seltenheit. Aber immerhin war es ein anonymer Anruf, der auf die Vorgänge in Göttingen hingewiesen hat. Deshalb haben wir soeben eine offizielle Stelle geschaffen, die „Vertrauensstelle Transplantationsmedizin“, an die man sich auch anonym wenden kann. Sie wird von Ruth Rissing-van Saan geleitet, einer pensionierten Vorsitzenden Richterin am Bundesgerichtshof.

Was können Sie bei Ihren Inspektionen überhaupt aufdecken? Wer manipuliert, wird das ja nicht in die Akten schreiben.


Ich möchte unser Prüfschema nicht im Detail erläutern, damit sich die Zentren nicht darauf vorbereiten können. Aber damit wir nicht blind herumstochern, haben wir es von einem Statistiker testen lassen. Nach den Methoden der empirischen Sozialforschung ist es zuverlässig. Auch lassen wir uns vor jeder Prüfung von Eurotransplant Zuarbeiten machen.

Sie fragen also vorher bei Eurotransplant an: Welchen Fällen sollen wir zum Beispiel in Hamburg nachgehen?


Wir untersuchen vor allem die Patienten, bei denen Eurotransplant eine mögliche Auffälligkeit sieht, ja.

Ihre Prüfungen haben in Hamburg, Berlin, Heidelberg und Essen nichts ergeben. Nur am Münchner Klinikum rechts der Isar fanden Sie Unregelmäßigkeiten. Dort waren Sie aber durch die Prüfung seitens des Klinikums im Grunde schon mit der Nase auf die kritischen Fälle gestoßen worden. Ist es Zufall, dass Sie überall dort nichts gefunden haben, wo Sie selber suchen mussten?


Wir haben in München auch Fälle entdeckt, die das Klinikum nicht selbst gemeldet hatte. In den Krankenhäusern, wo es keine Auffälligkeiten gab, haben wir eine perfekte Datenlage vorgefunden.

Sie nehmen aber nur Stichproben?


Ja. Der Arbeitsumfang muss für die ehrenamtlich tätigen Prüfer zu bewältigen sein. Wenn das vierköpfige Team aus zwei Ärzten und zwei Nicht-Medizinern aber Ungereimtheiten findet, bleibt es nicht bei der Stichprobe. Dann kommt es zu einer umfassenden Prüfung aller Transplantationen durch einen Arzt und einen Juristen.

Inzwischen werden ohnehin alle Kliniken ihre Akten auf Vordermann gebracht haben.

Ja, im Grunde ist unsere kurzfristige Anmeldung jetzt überflüssig. Alle Leberzentren rechnen mit einer Überprüfung. Wir gehen auch davon aus, dass sie ihre Akten, sagen wir mal, geordnet haben. Das heißt aber nicht, dass hier manipuliert wurde. Klinikakten sind nun einmal nicht immer optimal geführt; das ist im hektischen Klinikalltag menschlich und nachvollziehbar.

Haben Sie denn nicht die Sorge, dass Ihnen nun die Manipulationen, die es noch gegeben haben mag, entgehen?


Wir versuchen zu verhindern, ausgetrickst zu werden. Das kann ich Ihnen versichern.

Der Verdacht ist also da, dass es noch andere Betrügereien gegeben hat?

Das ist nicht der richtige Ausdruck. Es ist vielmehr so: Wir möchten die Transparenz der deutschen Transplantationsmedizin deutlich machen, indem wir vorbehaltlos und ohne Rücksichtnahme auf Einzelne möglichst umfassend kontrollieren.

Wie geht es jetzt in München weiter, wo nun immerhin vier Fälle vorsätzlicher Manipulation offenliegen? Wie steht es um die Suche nach dem Verantwortlichen?


Das ist leider eines der größten Probleme, das wir haben: im Einzelfall den Verantwortlichen festzustellen. Der Hinweis, wer was gemacht und wer welche Entscheidung getroffen hat, fehlt oft in Akten, die nicht elektronisch geführt sind. Derzeit prüfen wir die Fälle von München detailliert. Das wird noch einige Wochen in Anspruch nehmen.

Wie bewerten Sie derzeit die Vorgänge in München im Vergleich zu Göttingen und Regensburg?


Nach bisherigem Kenntnisstand sind sie keinesfalls vergleichbar.

Da hat BÄK-Präsident Frank Ulrich Montgomery aber nach Bekanntwerden der Münchner Ungereimtheiten ganz andere Worte benutzt. Er sprach von Göttinger Dimensionen.

München war schon ein Fall, der stark irritiert.

Die Reaktion Montgomerys hat auch irritiert, weil er sich mitten im Verfahren geäußerthat. Können Sie jetzt noch unvoreingenommen weiterprüfen, wo Ihr Präsident schon sein Urteil gefällt hat?


Wir arbeiten unabhängig und sind nicht weisungsgebunden. Auch erhält nicht nur der BÄK-Präsident, sondern jeder Auftraggeber der Prüfungs- und Überwachungskommission von uns Akteneinsicht – also auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der GKV-Spitzenverband.

Was ist Ihr persönliches Fazit nach den ersten Klinikrazzien? Wie sauber ist die deutsche Transplantationsmedizin?

Nach unserem bisherigen Eindruck ist sie viel sauberer, als vielfach angenommen wird. Bislang sind es nur einige wenige Fälle, wo Ärzte sich über die Richtlinien hinweggesetzt haben. Es ist kein Flächenbrand. Ich muss aber auch betonen: Wir haben bislang nur die Jahre 2010 und 2011 geprüft. Wir wissen schlicht nicht, was vorher war.




Der Jurist Hans Lilie , 63, leitet das Interdisziplinäre Wissenschaftliche Zentrum Medizin-Ethik-Recht an der Universität Halle-Wittenberg und ist Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

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