Zeitungen in den russischen Regionen

Zeitungen redaktionell zu gestalten, ist das eine. Das andere ist in Russland weitaus schwieriger: eine Druckerei zu finden, die tatsächlich druckt. Und ein Verteilsystem zu organisieren, über das die Zeitungen abgesetzt, in der Regel verkauft werden können.

Für Letzteres gibt es in Deutschland einen allgemeinen Konsens. Das Grossosystem und das Postabo stellen sicher, dass jede Zeitung und jedes mediale Produkt zu seinem Abnehmer gelangen kann.

Anders in Russland, das kein Zeitungsland ist. Das hängt auch mit der (unendlichen) Größe und der teilweise extrem geringen Bevölkerungsdichte in vielen Regionen zusammen. Russland ist in Quadratmetern bemessen knapp 50 Mal so groß wie die Bundesrepublik.

So kommt selbst das größte Boulevardblatt, die Komsomolskaja Prawda, auf nur 800.000 Exemplare landesweit. Das ist ein Drittel der deutschen BILD-Zeitung. Russland hat aber mehr Einwohner als Deutschland: 140 Millionen gegenüber 80 Millionen Einwohnern.

Zeitungsmacher müssen daher nicht nur die technisch-logistischen Probleme überwinden. Sie sehen sich meist auch staatlich-behördlicher Konkurrenz ausgesetzt. Viele lokale Blätter werden von der staatlichen Obrigkeit unterstützt - z.B. mit Anzeigen. Teilweise werden Lokalzeitungen sogar direkt oder indirekt von kommunalen Behörden herausgegeben. Und produziert, beispielsweise in der dann oft einzigen (staatlichen) Druckerei. Die druckt dann nur ungern oder garnicht das, was kritische Zeitungsmacher den Menschen mitteilen möchten. 

So muss sich jede Redaktion in ihrer individuellen Umgebung einen eigenen Weg bahnen. Das setzt Findigkeit und großes Engagement voraus. Und das bei einer - in der Regel - geringen Entlohnung. In staatlich administrierten Medien gibt es erheblich mehr zu verdienen. So ist es kein Wunder, dass sich unabhängige Zeitungen oft im Besitz der Zeitungsmacher, sprich den Journalisten befinden.

Wir portraitieren einige solcher Beispiele journalistischen Engagements. Und machen eine kleine Reise von West nach Ost, vom europäischen Teil Russlands in den asiatischen Raum.


Pskowskaja Gubernija aus Pskow (Псковская Губерния / Pskovskaya Guberniya): an der Grenze zu Estland

Die Zeitung, die im Jahr 2000 gegründet als GmbH namens "Freies Wort" (Swobodnoje slowo / Свободное слово) gegründet wurde, verdankt ihre Aufmerksamkeit und ihr Renomee v.a. dem maßgeblichen Kopf, der von Anfang an dabei war: dem Publizisten, Journalisten und Politiker Lew SCHLOSBERG.

SCHLOSBERG, Jahrgang 1963, ist auch als Menschenrechtsaktivist bekannt und seit 1994 Mitglied der Partei Jabloko. In Pskow ist er Vorsitzender seiner Partei und war von 2011 bis September 2015 Mitglied in der Regionalen Abgeordnetenversammlung. Ganz offenbar aufgrund seiner politischen Ansichten hatten ihm seine Abgeordnetenkollegen in einer gemeinsamen Aktion das Mandat entzogen.

Lew SCHLOSBERG hatte sozusagen Vaterlandsverrat begangen. In der Ausgabe vom 25. August 2015 veröffentlichte die Pskowskaja Gubernija Fotos von frischen Gräbern auf einem Friedhof nahe Pskow: von zwei jungen Soldaten. Und berichtete, dass die beiden beim Vormarsch in die Ukraine gefallen waren. Das lief der offiziellen Darstellung zuwider. In der hieß es, dass sie an einem Infarkt bzw. einer Gasexplosion zu Tode gekommen seien.

Der Bericht widersprach auch der politischen Linie: PUTIN hatte erst kurz zuvor die 2. Brigade der Spezialkräfte und die 76. Gardedivision der Luftlandetruppen, die beide in Pskwo stationiert sind, für ihren Mut und ihr nationales Pflichtbewusstein offiziell gelobt. Pskow liegt unmittelbar an der Grenze zu Estland, das Mitglied der NATO ist.

SCHLOSBERG ließ nicht locker und erstattete Anzeige bei der Militärstaatsanwaltschaft, um den Tod auch weiterer Soldaten aufzuklären. Zwei Monate später die Antwort: die Todesumstände aller inzwischen 12 Toten fielen unter das Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen.

Die Berichte sorgten für große Aufmerksamkeit, wurden von anderen Journalisten aufgegriffen. SCHLOSBERG selbst wurde überfallen, zusammengeschlagen und erheblich verletzt, musste tagelang im Krankenhaus bleiben.

SCHLOSBERG, der im Westen hohes Ansehen genießt und bereits viele Ehrungen und Preise erhalten hat, hat sich nun als Kandidat für die russlandweiten DUMA-Wahlen am 18. September 2016 für Jabloko aufstellen lassen. Das Amt des Chefredakteurs der Zeitung, das er von Anfang an ausübte, hatte er bereits 2013 aufgegeben.

Chefredakteur seit 2014 ist nun Denis Nikolajewitsch KAMALJAGIN. Er kennt die Zeitung bereits aus seiner Zeit von 2011 bis 2012 als Redakteur.

Zum publizistischen Konzept hat uns KAMALJAGIN das mitgeteilt:

"Die Leitlinie ist gesellschaftlich-politisch. Besonders ausführlich schreiben wir darüber, was im politischen, kulturellen, städtebaulichen Regionsleben, in der Wirtschaft und in der Sozialsphäre passiert, um zu versuchen, die Ursachen und die Folgen dieser Ereignisse zu analysieren. Was die journalistischen Prinzipien betrifft, so orientieren wir uns hier vor allem darauf, dass das zu schreiben, was wirklich passiert, und nicht darauf, was die Politiker in ihren offiziellen Reden erzählen.

Die Zeitung hat ihre eigene redaktionelle Politik, ihre Meinung kann subjektiv sein, aber das hängt dann mit der Position der Autoren zusammen, die  versuchen, den Lesern die Situation so zu erklären, wie sie sie sehen - natürlich mit der größtmöglichen Objektivität."

Pskowskaja Gubernija erscheint wöchentlich, hat eine Auflage von 5.500 Exemplaren in der 200.000-Seelenstadt, Tendenz rückläufig. Dafür steigen die Userzahlen der Onlineseite an: http://gubernia.pskovregion.org

5% der gedruckten Auflage geht an feste Abonnenten. Der Rest wird über ein eigenes Zustellsystem an die Verkaufsstellen verteilt.

Im Sommer 2016 besteht die Redaktion aus 6 Journalisten inkl. des Chefredakteurs KAMALJAGIN. Der wirtschaftliche Gründer und Gesellschafter der GmbH, Dmitrij PERMAJKOW, tritt selbst nicht in Erscheinung und mischt sich in keinster Weise in das Redaktionsgeschehen ein. 

2016 wurde die Zeitung mit dem "Free Media Award" ausgezeichnet, den die Fritt Ord Foundation und die ZEIT-Stiftung Ebelein und Gerd Bucerius ausloben.

Viborgskije Vedomosti (Выборгские ведомостиaus / Vyborgskie Vedomosti) aus Vyborg (St. Petersburg-Gebiet)

Doppelt so hoch wie bei der Pskowskaja Gubernija ist die Auflage der Viborgskije Vedomosti: rund 11.000 Exemplare für die 80.000-Einwohnerstadt Vyborg.

Sie erscheint 2 Mal die Woche, versteht sich als unabhängig, will eine "Große Zeitung für eine kleine Stadt" machen.

Gegründet wurde sie 1990 Seit 1996 ist sie im Besitz der Redaktion, konkret: dem "Kreativen Team der Redaktion". Chefredakteurin seit dieser Zeit: Irina LEONTIEWA. Sie kennt die Zeitung von Anfang an, war zuvor Korrespondentin.

2006 wurde die Redaktion mit dem Ebelin und Gerd Bucerius-Preis "Freie Presse Osteuropa" der ZEIT-Stiftung ausgezeichnet.

Vormals Sovetskaja Kalmykja Segodnja, heute: Sovremennaja Kalmykia (Современная Калмыкия) - eine Zeitung aus Elista in der russischen Republik Kalmückien

Kalmykien ist eine der autonomen Republiken innerhalb der russischen Föderation. Sie grenzt an das nordwestliche Kaspische Meer, liegt südlich der Region Rostov. Die Bewohner sind mongolischen Ursprungs, weshalb der Buddhismus die vorherrschende Religion ist. Aus der Hauptstadt Elista mit ihren 100.000 Einwohnern werden die restlichen 200.000 Menschen regiert: zu fast 60% Kalmücken, ansonsten Russen.

Siebzehn Jahre lang, von 1993 bis 2010 war Kirsan ILJUMSCHINOW Oberhaupt der Republik - ein Oligarch der ersten Stunde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. ILJUMSCHINOW waltete aber noch eines anderen Amtes in dieser Zeit: Präsident des Weltschachverbandes FIDE.

Versuche, ihn in dieser Funktion abzuwählen, scheiterten. Auch gegen den ehemaligen Weltschachmeister Garri KASPAROW, der gegen ihn antrat, konnte er sich durchsetzen. Korruptionsvorwürfe, die er mit dem Hinweise konterte, er habe während seiner Amtszeit 80 Millionen US-Dollar aus seinem Privatvermögen zur Förderung des Schachs ausgegeben, prallten regelmäßig an ihm ab. Aufgeben musste dann doch: Die US-Regierung verhängte im Jahr 2015 Sanktionen gegen ihn und seine von ihm geleitete Bank Russian Financial Alliance Bank (RFA Bank), über die er Öl des IS an Syrien verkaufte. Eines seiner weiteren Geschäftfelder: ILJUMSCHINOW hält sich eine Wochenzeitung: die Nowy Wsgljad (Новый Взгляд), zu deutsch: Neue Sicht

1998 scheint die Wochenzeitung Neue Sicht eine Konkurrentin weniger zu haben. Die Chefredakteurin und Mitgründerin der kritischen Zeitung namens Sovetskaja Kalmykya Segodnya (SKH) wird auf brutale Weise ermordet: Larissa JUDINA. Sie hatte die ganzen Jahre kritische Fragen an die Behörden gestellt, Rechtsstaatlichkeit angemahnt, die Willkür der Behörden immer wieder angeprangert.

Die Mörder von Larissa JUDINA werden gefunden: Es sind zwei Asssistenten des amtierenden Präsidenten ILJUMSCHINOW. Die Mörder werden auch verurteilt. Aber den oder die Auftraggeber kann (oder will) die Polizei nicht ermitteln.

Die Zeitung Sovetskaja Kalmykya Segodnya, die 1991 von Larissa und Genadij JUDIN gegründet wurde und seit 1995 von der Russischen Journalistenunion finanziell mitgetragen wird, gibt nicht auf. 2007 wird Valerj BADMAJEW Chefredakteur. Er ist seit 1994 dabei, führt das Konzept von Larissa JUDINA weiter. Jetzt unterstützt auch Jabloko die Zeitung.

Sehr zum Missfallen der Behörden und der Politik. 2010 dann eine Art Putsch. Vertreter der Kommnistischen Partei nutzen die Situation und versuchen den ehemaligen Ehemann von Larissa, Genadij JUDIN, zu ködern, das Konzept der Zeitung inhaltlich zu (ver)drehen. Darauf steigt die Russische Journalistenunion als Mitbegründerin aus - die Zeitung ist am Ende. Die letzte Onlineausgabe vom 30. September 2010 ist noch online erhalten: http://sovkalm.narod.ru.

Diesesmal ist es Valery BADMAJEW, der nicht aufgibt. Er übernimmt das Logo der alten Zeitung, gründet eine neue: Sovremennaja Kalmykia - Modernes Kalmykien. Weil es keine Finanzierung gibt und einige journalistische Mitstreiter ohne Honorar arbeiten, kann auch die Nachfolgerin kostenlos verteilt werden: zwischen 3.000 und 5.000 Exemplare werden 5 bis 6 Mal im Jahr abgesetzt.

Zum Konzept teilt uns BADMAJEW dies mit:

"Wir schreiben über das, was wir wissen, bringen die Informationen an unseren Leser, die die Behörden verstecken. Wir demaskieren Beamte, Polizisten und Ermittler. Wir veröffentlichen kritische Artikel über die Vertreter der Behörden (Kalmykisch und Russisch) - unabhängig von ihrer Position. Wir veröffentlichen Texte über die Lage der ethnischen Kalmücken, die Gleichgültigkeit und Untätigkeit der republikanischen Regierung in dieser Hinsicht."

Die Arbeit gestaltet sich schwierig. Doch hin und wieder gibt es auch 'politisch-juristische' Erfolge. 2014 wurde die erste Ausgabe neuen Zeitung von der Polizei beschlagnahmt. Grund: Ein Artikel eines ukrainischen Hochschullehrers aus Kiew, der die russische Invasion auf der Krim verfurteilt hatte. BADMAJEW zog vor Gericht. Und gewann. Das kalmykische Innenministerium musste die Kosten der beschlagnahmten Auflage ersetzen.

2004 wurde die Zeitung mit dem Ebelin und Gerd Bucerius-Preis "Freie Presse Osteuropa" der ZEIT-Stiftung ausgezeichnet.

Swesda (Звезда / Zwezda) - eine Zeitung in Perm

Direkt vor dem Ural gelegen ist die Stadt Perm mit 1 Million Einwohnern die östlichste Millionenstadt Europas. Im Norden grenzt sie an die Republik Komi. In der gesamten gleichnamigen Region, die halb so groß ist wie die Bundesrepublik, leben außerhalb der Hauptstadt 1,6 Millionen Menschen.

Lukoil, Russlands größte Erdölunternehmen, hat hier seinen Sitz und bestimmt auch maßgeblich das wirtschaftliche Leben. Bekannter als Lukoil ist heute immer noch das ehemalige GULAG-Lager "Perm 36", in dem unter STALIN über 12.000 Menschen eingekerkert waren bzw. Arbeitsdienste verrichten mussten. STALIN starb 1953. Geschlossen wurde das Lager 1988.

Weil viele ehemalige politische Häftlinge in den nachfolgenden Jahren, sprich sowjetische Dissidenten nach ihrer Haftentlassung in der Region geblieben waren, gibt sich die Region liberaler und demokratischer als anderswo. Dies wirkt sich auch auf die Mediensituation aus, wie schon eine Fallstudie von "Reporter ohne Grenzen" aus dem Jahr2009  konstatiert hatte: Helden und Handlanger (S. 30 ff): In Perm ist die Pressefreiheit vergleichsweise groß.

Davon profitiert auch die Zeitung Swesda (Звезда / Zwezda). Sie gibt es bereeits seit 1917. 1991 - gerade noch zu GORBATSCHOW's Zeiten - hatte der Regionalrat der Volksdeputierten von Perm entschieden, die Zeitung der KPdSU wegzunehmen und sich selbst sowie das Kollektiv der Journalisten zu neuen Eigentümern zu erklären. Zwei Jahre später schied das politische Gremium aus, die Zeitung wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, deren Eigentümer nunmehr ausschließlich die Journalisten sind: Gaseta Swesda wurde unabhängig.

Inzwischen ist die Zeitung etabliert. Mit einer Auflagenhöhe zwischen 20 und 30.000 Exemplaren und Einnahmen aus Werbung und Anzeigen steht die Redaktion vergleichsweise gut da. Auch wenn es Mainstream-Konkurrenz gibt. So kann Lukoil über seine Kontrolle der Finanzgruppe PFPG Einfluss auf das Verlagshaus Kompanjon nehmen, das u.a. das monatliche Kompanjon Magazin ( Politik, Wirstchaft, Kultur. Lifestyle) sowie das Wochenblatt Nowi Kompagnjon, das sich auf Wirtschaftshemen sepzialisiert hat. An diesem Verlag ist auch der ehemalige Gouverneur beteiligt.

Kenner sagen, in der Stadt Perm gebe es für jede Meinung ein eigenes Medium. In der Provinz ist das anders: Dort befinden sich die Kleinstzeitungen in der Regel im Besitz oder indirekter Einflussnahme der lokalen Behörden.

Swesda hält seinen eigenen Kurs, berichtet und thematisiert v.a. ungelöste Probleme. Die Vielfalt der Meinungen hat dabei einen hohen Stellenwert.

Beispiel: ein Artikel vom 19. Juli 2013. Swesda hatte sich dafür eine Warnung der staatlichen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor eingefangen. Hintergrund: In der Stadt Pugatschow in der Region Saratow (nicht Perm!) war es zu Unruhen gekommen, nachdem ein 16jähriger Tschetschene einen 20jährigen Russen erstochen hatte. Russische Bürger demonstrierten daraufhin im tschetschenischen Bezirk der Stadt, wo es zu Handgreiflichkeiten kam. Um ihrem Unmut Luft zu verschaffen, forderten die russischstämmigen Bürger, die Tschetschenen auszusieden. Und sie blockierten eine Fernstrasse.

Der freie Autor Roman JUSCHKOW berichtete über diese Vorkommnisse. Und vertrat dabei die Meinung, die Tschetschenen wären Okkupanten. Und man solle deshalb ihre Häuser in Brand stecken. Der Bericht ist im Online-Format hat eine Länge von 1 1/2 Seiten. Die Reaktionen und Kommentare der Leser/User über 8 Seiten gelistet.

Reaktion der Staatsanwaltschaft: Sie leitete wegen "Extremismus" ein Verfahren gegen den Redakteur ein, Roskomnadsor sprach eine Warnung gegenüber der Zeitung aus.

Daraufhin verteidigte der Chefredakteur Sergej TRUSCHNIKOW den Journalisten, ohne dessen Meinung zu billigen, pochte aber auf das Primat der Meinungsfreiheit. 2004 wurde die Zeitung mit dem Ebelin- und Gerd-Bucerius-Preis "Freie Presse Osteuropa" der ZEIT-Stiftung geehrt.

Swobodny Kurs (Свободный курс / Svobodny Kurs) in Barnaul (Region Altai) 

Die Bedeutung und das unabhängige Agieren der Zeitung Swobodny Kurs ("Freie Stimme") in der Verwaltungsregion Altai mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern lässt sich sehr gut zeigen an der sogenannten Affäre Altaigate, die dokumentiert ist unter www.ansTageslicht.de/Altaigate.

2009 war im Altaigebirge und zwar auf dem Territorium der Republik Altai (nicht identisch mit der Region Altai) ein Hubschrauber abgestürzt, der hochrangig besetzt war. Darunter der Verbindungsmann des russischen Staatspräsidenten MEDWEDEW in der Staatsduma; der Vizegouverneur der Republik Altai, der Oligarch und Medienmogul Anatolj BANNYCH; weitere Vertreter des Staatsapparates und einige Geschäftsleute. Die meisten überlebten den Absturz nicht.

Offiziell wurde das Unglück mit einer technischen Panne begründet. Kurz darauf eröffnete die Zeitung Swobodny Kurs eine andere Berichterstattung. Der Helikopterabsturz war die Folge einer illegalen Jagdpartie - auch nach russischem Recht. Die Insassen hatten mit Maschinengewehren aus dem fliegenden Hubscharuber auf Argali-Schafe geschossen, die auf der roten Liste der IUCN stehen. Beim Hochhieven eines der erlegten Tiere aus dem rotierenden Helikopter stürzte dieser ab. Die Bergungsmannschaften kamen für einige Überlebende zu spät - sie erforen in der kalten Januarnacht. Die Hubschrauberbesatzung hatte bewusst eine falsche Flugroute angegeben. 

Swesda konnte sich auf offiziell unveröffentlichte Fotos stützen. Aus denen ging der eigentliche Zweck des Fluges eindeutig hervor.

Daraufhin alarmierten Greenpeace, der WWF, der Direktor des Sibirischen Ökologischen Zentrums, aber auch Vertreter der Kommune Kosh Agach, in deren Gebiet der Helikopter abgestürzt war, nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch Staatspräsident MEDWEDEW und Ministerpräsident PUTIN. Die Angelegenheit wurde - auch durch die Berichterstattung weiterer Medien - russlandöffentlich. Es kam zu Demonstrationen in Altai. Und in Moskau. 

Die Mühlen der Justiz mahlten währenddessen - wie man das auch in unseren Regionen kennt - langsam. Ein doch noch erzwungenes Gerichtsverfahren kam - wegen Verjährung - zu einem Freispruch. Swobodny Kurs war regelmäßig am Veröffentlichen.

Nachdem ein Teil der Schuld auf die toten Hubschrauberpiloten abgeladen werden konnte, meldeten sich die Verwandten öffentlich zu Wort, die inzwischen eine eine eigene Untersuchung durchgeführt hatten. Sie taten dies nicht bei den sich gegenseitig bekriegenden TV-Stationen, von denen eine dem Gouverneur der Region Altai gehört, die andere dem ehemaligen Vizepräsidenten und Ologarchen BANNYCH, der an der illegalen Jagdgesellschaft teilgenommen hatte, sondern bei der Redaktion der Swobodny Kurs. Sie hält diese Affäre bis heute durch die kontinuierliche Berichterstattung im öffentlichen Gedächtnis.

Die Zeitung kann sich das leisten. Es gibt vermutlich wenige Blätter, die ein derart journalistisches und wirtschaftliches Standing haben wie die Swobodny Kurs, die in einem inzwischen größeren Verlag erscheint: Altapress. Der Verlag, in dem die wöchentlich erscheinende Swobodny Kurs ("Freie Stimme") in einer Auflagenhöhe von rd. 20.000 Exemplaren herausgegeben wird, sind weitere Medien beheimatet: über 10 kleinere Zeitungen und Zeitschriften (Wirtschaft, Jugendzeitschrift, Anzeigenblatt, TV- und Hörfunkprogramm, Medizinfachblatt). Außerdem gehört eine eigene Radiostation dazu. Die Medien finanzieren sich aus dem Verkauf und aus Anzeigen & Werbung.

Eine Besonderheit besteht darin, dass Altapress über zwei eigene Druckereien verfügt sowie über dien eigenes Verkaufsnetz: 100 Kioske, die der Verlag aus einer Insolvenz übernommen hat. Damit sind die sonst bekannten technisch-logistischen Probleme in diesem Fall nachhaltig gelöst.

10 Journalisten arbeiten bei der Wochenzeitig, 10 in der online-Redaktion. Weitere zwanzig für die anderen Blätter und die Radiostation.

Über die sonstige Medienlandschaft in dieser Region und der Hauptstadt Bernaul gibt die von Reporter ohne Grenzen 2009 herausgegebene Fallstudie "Helden und Handlanger: Die Arbeit von Journalisten und Medien in den russischen Regionen" Auskunft (S. 70-78). 2003 wurde der REdaktion der Ebelin- und Gerd Bucerius-Förderpreis "Freie Presse Osteuropa" der ZEIT-Stiftung zuerkannt.

Jakutsk Wetschernij (Якутск вечерний, Yakutsk Vetsherny) in der Republik Sacha (Jakutien)

Die (Verwaltungs)Region Sacha, auch als Jakutien bezeichnet, ist flächenmäßig das grösste Einzelterritorium Russlands. Auf einer Fläche fast so groß wie die EU-Staaten (ohne UK und Skandinavien) leben knapp 1 Million Menschen. Davon 270.000 in der Hauptstadt Jakutsk. Sie ist die kälteste Großstadt der Welt: minus 40 Grad im Winter. Im Sommer allerdings bis zu über 20 Grad Celsius.

Jakutien ist riesig, aber strecktenweise menschenleer. Eine Zeitung zu verbreiten daher enorm schwierig

Trotzdem: die im Jahr 1994 gegründete Zeitung ist die größte der Region, setzt im Durchschnitt 55.000 Exemplare ab, 90% davon in Jakutsk. Ein kleiner Teil wird mit einem kleinen Flugzeug in kleinere Städte bzw. Dörfer ausgeliefert.

Trotz der vorhandenen Konkurrenz in der Hauptstadt: Jakutsk Wetschernij ist die populärste Zeitung. Sie gehört den drei Gründern: der Chefredakteurin Marija IWANOWA, Direktor (CEO) Wjatscheslaw LEWIN und Leonid LEWIN bzw. der "Redaktionsgruppe Jakutsk Wetschernij". Im Handelsregister ist offiziell als Eigentümer eingetragen: "Die russischen Bürger". Das kommt dem Selbstverständnis der Zeitung nahe, das sie so beschreibt:

"Schreiben über alles aus der Sicht der Vernunft. Täglich das Interesse der normalen Leute bewahren. Den unversöhnlichen Kampf gegen Korruption, die Willkür des Staatsbeamtenapparats sowie gegen die  Unterschlagung von Staatseigentum führen. Und dabei immer die Prinzipien der demokratischen Erungenschaften im Staat, der Meinungsfreiheit und die Menschenwürde vertreten."

Der Zeitung geht es - schon aufgrund ihrer Größe und ihres eingefahrenen Standings - wirtschaftlich gut. Fast 50 Mitarbeiter sind im Einsatz, darunter allein 15 Journalisten. Weiter: Designer und Fotografen, Vertriebsleute, aber auch 2 Juristen. Freie Journalisten arbeiten v.a. im Sommer mit: im Rahmen von studentischen Praktika.

2005 hat die Jakutsk Wetschernij eine Serie gestartet: "Verlorene Dörfer". Die Reporter zogen durch das weite Land, erkundeten Menschen und Siedlungen, teilweise auch Dörfer, die überhaupt nicht auf der Landkarte eingezeichnet sind, schrieben über das Leben und die Nöte dieser Menschen, versuchten die Behörden auf diese"Geister" aufmerksam zu machen.

Ein Jahr später nahm sich die Redaktion die kommunalen Gebühren vor - auch dafür gibt es in Russland festgelegte Regeln. Ergebnis: Viele Angaben waren überhöht. Diese Serie nannte sich "Kommunalkrieg". Jakutsk Wetschernij inittierte Gerichtsverfahren gegen die Stadtverwaltung wegen der zu hohen Gebühren. Und gewann die Verfahren. Die Abgaben wurden um 15% reduziert.

Im Februar 2010 wartete die Zeitung mit der Überschrift "Miliz hörte das Telefon der JW gesetzeswidrig ab". Hintergrund: Im Zusammenhang mit sensiblen Recherchen über korrupte Zahlungen eines Spielhallenbetreibers an einen Verwaltungsbeamten, der sich das Geld mit einem stellvertretenden Minister teilte. Der Redaktion wurden Informationen gesteckt, dass die Redaktionstelefone sowie die privaten Verbindungen abgehört würden. Daraufhin ging die recherchierende Journalistin zum Innenministerium, um sich zu beschweren. Zunächst sahen die Vertreter der politischen Macht keine Verletzung ihrer Rechte. Dann aber hatte man doch ein Einsehen und gestand sogar schriftlich ein, die Rechte der Journalistin verletzt zu haben.

Die Zeitung lässt bei ihren Recherchen und Veröffentlichungen wenig aus, egal ob es um den Palast des regierenden Präsidenten der Republik geht (RU), um zu Zeiten der Sowjetunion verheimlichte und bis heute geheim gehaltene Atomtests (RU) oder andere Missstände. Auch wenn sie politischer Art sind. Über die Demonstrationen und Vorfälle auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz nach den DUMA-Wahlen im Dezember 2011 und der anstehenden Wahl von PUTIN zum Staatspräsidenten hat Jakutsk Wetschernij ebenfalls kritisch berichtet: durch eigens dorthin abgesandte Redakteure. So über die Demonstration am 4. Februar. Titel: "Russland wartet auf Veränderungen". Untertitel: "Sonderbericht auf den Seiten 2 bis 3" (siehe aktives Bild).

2013 wurde die Redaktion mit dem Ebelin- und Gerd Bucerius-Preis "Freie Presse Osteuropa" der ZEIT-Stiftung ausgezeichnet.

Von den vielen Prozessen gegen die Zeitung, die sie teilweise aber auch selbst angestrengt hat, hat die Redaktion bisher fast alle für sich entscheiden können. Das ist selten in Russland. Aber Jakutien ist weit weg von Moskau: mehr als 5.000 Kilometer. Bzw. wegen der Größe des Territoriums beträgt die geografische und manchmal auch politische Distanz zwischen 6 und 8 Zeitzonen. 

Arsenjevskije Vesti (Арсеньевские вести) aus Arsenjev (Region Primorje bzw. Wladiwostok)

Ebenfalls weit weg vom politischen Machtzentrum in Moskau befindet sich die (Verwaltungs)Region Primorje: halb so groß wie Deutschland. Aber nur mit 2 Millionen Einwohnern besiedelt. Davon leben in der Hauptstadt Wladiwostok 660.000 Menschen.

Die Hafenstadt Wladiwostok am Pazifik hat eine besondere Stellung: Über sie läuft ein Großteil des russischen Imports. Vor allem Waren aus Japan, Südkorea oder China. Egal, ob es klassische Importgüter sind oder Schmuggelware - Wladiwostok gilt als das Einfallstor für Schmuggel und Korruption. Und führt weitgehend ein politisches und juristisches Eigenleben. Das zeigt das folgende Beispiel, das unter www.ansTageslicht.de/EB ausführlich rekonstruiert ist:

2006 fand in St. Petersburg der G 8-Gipfel statt. Ministerpräsident Wladimir PUTIN hatte zugesagt, die Korruption zu bekämpfen. Um das zu demonstrieren, wurden in verschiedene Großregionen neue Staatsanwälte oder Behördenleiter der Finanzbehörde geschickt. Für den gesamten Fernen Osten, zu dem auch die Region Primorje gehört, wurde ein neuer oberster Zollchef beordert. Er sollte dem eingefahrenen Schmuggelwesen Einhalt gebieten: Ernest BAKSCHETSIAN (EB).

Dies geschah auch: BAKSCHETSIAN begann, Recht und Gesetz durchzuseten, erhöhte die Zolleinnahmen, legte sich mit den örtlichen Polit- und Wirtschaftsgrößen an. Die hielten die maßgeblichen politischen Funktionen inne und kontrollierten gleichzeitig das Importgeschehen.

Als BAKSCHETSIAN im April 2006 von einer Dienstreise nach Moskau, wo er seinem zuständigen Minister Rapport erstattet hatte und mit einer Belohnung ausgezeichnet wurde, nach Wladiwostok zurückkehrte, wurde er noch auf dem Flughafen verhaftet. Und in U-Haft genommen. Vorwurf: Verwicklung in eine größere Schmuggelaktion dreier Firmen. Deren Inhaber, der stellvertretende Gouverneur der Region und Vertreter chinesischer Exportunternehmen, hatte sich inzwischen ins Ausland abgesetzt. Er gilt seither als unauffindbar.

Der Vorwurf der aktiven Teilnahme an Schmuggelgeschäften ließ sich vor dem Wladiwostoker Frunsenskij-Gericht nicht aufrecht erhalten. BAKSCHETSIAN wurde aber wegen "Amtsmissbrauchs" verurteilt: 5 Jahre Lagerhaft.

Davon musste der ehemalige oberste Zollchef die Hälfte absitzen. Jetzt klagt er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Luxembourg. Hilfestellung seitens seines ehemaligen Dienstherrn, dem ehemaligen Minister für ökonomische Entwicklung, German GREF (heute Chef der Sber-Bank), erhielt BAKSCHETSIAN nicht: Der Minister gab sich machtlos - machtlos gegenüber den zementierten Strukturen in Wladiwostok.

Einer von BAKSCHETSIAN's internen Gegnern, der sich vom Erfolg gekrönt sah, verklagte die (kleine) Zeitung aus Arsenjev (300 km von Wladiwostok entfernt), die Arsenjevskij Vesti, die nicht nur über diesen Vorgang berichtet, sondern auch eigene Recherchen angestellt hatte. Und sie hatte Dokumente veröffentlicht. In diesem Fall unterlag der Kläger.

In einem ganz anderen Veröffentlichung konnte die Zeitung Arsenjewskij Vesti ihr Recht erst vor dem Europäischen Menschengerichtshof durchsetzen. Die Redaktion hatte über illegalen Holzabbau und Lieferungen nach China berichtet. Diesesmal war es die Regionalverwaltung, die die Zeitung wegen Verleumdung verklagte. Und Recht bekam. Arsenjevskij Vesti musste sogar Schadensersatz zahlen, gab sich damit aber nicht zufrieden. Sie zog stattdessen nach Straßbourg. Dort obsiegte sie. Jetzt musste der russische Staat Schadensersatz leisten.

Aber auch mit dem - inzwischen ehemaligen - Gouverneur, Sergej DARKIN, hatte sich die Zeitung angelegt. DARKIN, gleichzeitig Besitzer der zweitgrößten Fischverarbeitungsfabrik in Wladiwostok, wurde mehrfach von der kleinen Zeitung publizistisch ins Visier genommen. Bis sein Büro von Moskauer Spezialeinheiten gestürmt und durchsucht wurde. Die Staatanwaltschaft hatte Anklage gegen ihn und andere erhoben. Vorwurf: DARKIN habe kriminelle Bereichungsaktivitäten seines Vorgängers gedeckt. Als es zu Anklage kam, saßen auf der Anklagebank nur die "anderen". DARKIN wurde stattdessen 2011 von PUTIN erneut bzw. zum dritten Male zum Gouverneur berufen. Inzwischen ist DARKIN nun doch abesetzt - sein Amt wird kommissarisch verwaltet. Diese Geschichte ist ausführlich dargestellt unter Die couragierte Zeitung gegen den Gouverneur.

Arsenjevskije Vesti gibt es seit 1991. Nach dem politischen Umbruch versammelten sich die Menschen auf Kundgebungen, demonstrierten gegen das alte System, verlangten nach mehr Demokratie. Fünf Bürger fassten einen Entschluss: Sie wollten eine neue Zeitung gründen. Und versuchten es. Nicht ohne Schwierigkeiten, denn die Druckerei vor Ort wollte die Zeitung nicht produzieren. Die Gründer, darunter Irina GREBNEVA, die bis heute Chefredakteurin ist, gingen in das 300 km entfernte Wladiwostok und ließen dort drucken. So kam die Zeitung gleichzeitig in die Hauptstadt.

Inzwischen ist Arsenjevskije Vesti mit über 12.000 Exemplaren die drittgrößte regionale Wochenzeitung in Primorje - vor allem wegen ihrer unnachgiebig kritischen Berichterstattung. 2009 wurde ihr der Ebelin- und Gerd Bucerius Preis "Freie Presse Osteuropa" der ZEIT-Stiftung zuerkannt.

Ein ausführliches Portrait dieser Zeitung gibt es unter www.ansTageslicht.de/ArsVest.