Ein Interview mit der russischen Fotografin Victoria IVLEVA

Das Interview wurde am 28. Oktober 2009 von Justine GINTER und Zhanna TELEGINA, Studierende an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften) per E-Mail geführt


Biografisches:

Frau Ivleva-York, erzählen Sie uns bitte einige wichtige Stationen aus ihrem Leben! Sprich, wo wurden Sie geboren, aufgewachsen, welche Schulen haben Sie besucht und was haben Sie studiert?

Ich bin in Leningrad (St. Petersburg) geboren. In der Schule wurde Englisch seit der zweiten Klasse praktiziert bzw. unterrichtet und dies hat eine bedeutende Rolle gespielt. Nach der Schulzeit habe ich 5 Jahre lang meinen Weg gesucht und letztlich eine Ausbildung zur Fotografin absolviert. Dann habe ich mich an der Staatlichen Universität in Moskau (MGU) für den Studiengang Journalistik beworben (1978). Diese Universität habe ich im Jahre 1983 abgeschlossen bzw. absolviert.

Welche Lebensabschnitte haben Sie am meisten geprägt bzw. wann ist in Ihnen erstmalig die Idee ihrer späteren Berufung gereift?

Als ich das Institut abgebrochen hatte, habe ich plötzlich beschlossen, mich mit der Fotografie zu beschäftigen, zu der ich zuvor gar keinen Bezug hatte. Je mehr ich mich damals aber mit der Fotografie beschäftigte, desto mehr interessierte mich der Journalismus.

Journalistische / publizistische Tätigkeiten:

Wann und wo haben Sie den ersten Stein für ihre journalistische Laufbahn gelegt? Wie hat sich dies fortgesetzt und weiter entwickelt?

Wie alle Studenten, hatte auch ich während der vorlesungsfreien Zeit ein Praktikum bei verschiedenen Zeitungen durchgeführt. So habe ich einen Monat lang in Kaliningrad ein Praktikum gemacht, später in Tallin, danach einen ganzen Monat lang in Sahalin (größte Insel Russlands). All diese Praktika-Reisen wurden von der Universität finanziert. Als ich die Uni absolviert habe, existierte damals noch ein System in Russland, bei dem die Universitäten den Studenten vorgeschrieben haben, welche Arbeitsplätze an welche Studenten vergeben werden. So mussten die Studierenden 3 Jahre lang an dem zugeteilten Arbeitsplatz arbeiten und hatten erst dann die Chance eigenständig zu entscheiden, wie man weiter fortfahren möchte. Es gab aber auch die Möglichkeit einen Nachweis von irgendeiner Organisation vorzuzeigen, die dich zur Arbeit aufnimmt. Viele haben dies so gemacht, um dieser Verteilung zu entgehen.

So habe ich das auch gemacht, da ich aus Moskau nicht wieder nach Leningrad zurückzukehren wollte. Den Nachweis hatte mir natürlich meine Mutter gemacht und ich musste deswegen nirgends wegfahren. So bin ich in Moskau geblieben, quasi absolut „im freien Flug“. Ich habe angefangen bei verschiedenen Zeitungen mitzuarbeiten, mich mit jeder Arbeit durchzuschlagen. Gleichfalls mit Übersetzungen aus dem Englischen ins Russische. So schuf ich mir langsam Beziehungen in den Verlagen, sowohl in der Sowjet Union als auch im Ausland. Nach 3 Jahren kam Michail S. Gorbatschow an die Macht und alles fing an sich zu verändern. Die Angst ist verschwunden, es kamen neue Möglichkeiten hinzu, einen wahren Journalismus zu betreiben.

Übrigens, muss ich anmerken, dass ich nie die Lust / das Streben danach hatte zu schreiben, es sogar nicht versucht bzw. ausprobiert habe. Ich dachte, wenn du ein Fotograf im Journalismus bist, gibt es weniger Möglichkeiten zu lügen. Derjenige, der nur schreibt, war in diesem Sinne früher viel mehr eingeschränkt und hatte weniger Möglichkeiten nicht zu lügen.

Eine meiner ersten Publikationen im Ausland war im Jahre 1987 im „STERN“ veröffentlicht worden. Es handelte sich dabei um einen Artikel über den sowjetischen “Underground“, der in der Zeitschrift 2-3Artikelspalten eingenommen hat. Aufgrund dessen, dass ich mit vielen Leuten aus dem „Stern“ befreundet war, wurden auch einige von mir gemachten Fotos veröffentlicht. Von dem verdienten Geld der westlichen Verlage konnte man früher ziemlich gut leben. Im Jahre 1987 wurde ich zufällig einem französischen Journalist Claude-Marie Vadro bekannt gemacht bzw. vorgestellt. Der hat mir vorgeschlagen, zusammen mit ihm, ein Album über die Sowjet Union zu erstellen. Das fertige Album erschien in Frankreich, später wurde auch eine Ausgabe in den USA veröffentlicht. Heute beurteile ich dieses Album als mittelmäßig, aber damals wurde alles, was aus der Sowjet Union kam, sofort als „heißes Brot“ verkauft.

Dank dieses Albums bin ich ins Ausland gefahren. Genauer gesagt nicht nur dank dieses Albums, sondern Dank des „Perestrojka“ (Reform des Staats- und Wirtschaftssystems der UdSSR). Nach einigen Monaten hat es sich ergeben, dass ich vor meiner zweiten Reise nach Frankreich, nach Stepanakert, Hauptstadt Karabahas gefahren bin, wo diese Stadt zu dieser Zeit gerade von Truppen besetzt wurde. Ich war damals die einzige Journalistin vor Ort gewesen, die dort quasi hineingeraten ist. Die gemachten Fotos waren bereits nach wenigen Tagen weltweit ausverkauft. Diese waren bedeutsam aufgrund der Situationsperspektive. So hat sich meine Karriere stufenweise entwickelt, falls ich es als „Karriere“ bezeichnen kann. Ich habe angefangen mit der Hamburger Fotoagentur „Fokus“ zusammenzuarbeiten, mit der Agenturleiterin, die für mich unglaublich viel gemacht hat. In der Sowjet Union und später in Russland war ich weiterhin als „free lancer“ tätig, was eigentlich damals nicht üblich war besonders nicht für Frauen. Genauso unüblich wie der Beruf Fotojournalist.

Im Jahre 1991 habe ich die Bilder innen im Chernobyl Reaktor gemacht, die mir sowohl kein schlechtes Geld eingebracht haben, als auch eine Weltpopularität für fünf Minuten. Für diese Serienfotos erhielt ich den Preis „Gold Eye“ auf dem World Press Photo. 1994 bin ich in die Nachkriegszeit von Ruanda hinein geraten und dort wurde teilweise immer noch geschossen. Ich war dort also die einzige russische Journalistin. Nach der Zeit in Ruanda bin ich für längere Zeit aus dem Beruf ausgestiegen. Ich wollte keinen niederträchtigen Beruf mehr ausüben, in dem die Fotografen Bilder von menschlichen Schicksalen und Tragödien machen und sich damit ihr Geld verdienen. Das Verhalten vieler meiner Kollegen in Ruanda machte mich besonders traurig.

Während meines restlichen 10-tägigen Aufenthalts dort habe ich mich damit beschäftigt, dass ich durch die Gegend gefahren bin und kranke Leuten eingesammelt und in die Krankenhäuser gebracht habe. Im Unterschied zu den vielen anderen Journalisten, die in den schwarzen, leidenden Leuten nur ein Foto-Objekt und eine Informationsquelle gesehen haben. Übrigens, immer wenn ich versucht hatte zu analysieren, warum ich dies damals gemacht hatte, gelange ich immer zu dem gleichen Schluss, dass mich die russische Literatur beeinflusst hat, mit der ich aufgewachsen bin. Das sind Tolstoy, Chekhov und Fjodor Michailowitsch Dostojewski. In Ruanda ist mir erst absolut klar geworden, dass das menschliche Leben viel mehr wert ist als Ruhm/ Popularität und der Vertrieb von Information. Seit dieser Zeit folge ich dieser Erkenntnis immerzu. Genauer gesagt ist dies der Fall, wenn ich mich in einer kritischen Situation befinde bzw. es dem Menschen neben mir schlecht geht und dieser Hilfe braucht. Ich nehme mir eine Minute für ein Gespräch Zeit und dann bin ich die Frau für alle Fälle. Das Leben ist mehr wert als die Ausübung des Journalismus! Und so wird es auch immer bleiben!

Was ist die Triebfeder/Motivation Ihres persönlichen Schaffens?

Vor allem Neugier. Ich glaube, die Neugier ist Grundlage meines Berufes. Auch die Möglichkeit, den Menschen zu helfen. Manchmal klappt dies auch. Ebenso die Möglichkeit das Leben anderer Menschen zu sehen. Da spielt aber wiederum die Neugier mit rein.

Erzählen Sie uns bitte über die aktuellen Projekten, mit denen Sie sich gerade beschäftigen. 

Ich habe gerade das Fotoprojekt beendet, das auf die letzte Seite der „Novaya Gazeta“ gedruckt wurde. Das Fotoprojekt hieß „Das Foto, das heute gemacht wurde“. Das war immer ein großes Foto in der Seitenmitte der Zeitschrift, das morgens vor der Erscheinung der Zeitschrift gemacht wurde. Zu dem Foto wurden noch die technischen Informationen, sprich die Aufnahmezeit-/Ort veröffentlicht. Als ich dieses Projekt geplant hatte, war es so, dass am Ende des Projektes alle 10 Bildaufnahmen auf 2 Seiten in die Zeitung passten.

Als Resultat entstanden hieraus lebensnahe Bilder. Leider wollten die Redaktionsleiter dies nicht umsetzen und ich möchte nicht deren Meinung diskutieren.

Mein letztes Projekt war meine letzte Reise mit drei Teenagern (darunter ihre 2 Söhne) mit dem Zug von Moskau bis Vladivostok. Wir haben 23 Tage während der Reise zusammen verbracht, haben uns Russland angeschaut und mit verschiedenen Menschen geredet.

Erzählen Sie uns bitte, wie Sie zu Ihrer journalistischen Tätigkeit, speziell als Sonderkorrespondentin und als Fotoreporterin in Konfliktzonen bzw. Krisengebieten gekommen sind! 

Ich habe das schon ansatzweise angesprochen. Ich kann dazu nur sagen, dass das Interesse bezüglich der Brennpunkte aus der Neugier heraus resultiert. In so einem Land wie Russland, wo alles sich bewegt und sich verändert, musste ich mich mit meiner Neugier einmischen. So hat alles angefangen. Nach meinem Besuch in Ruanda habe ich den Journalismus für nahezu 10 Jahre verlassen, wie ich schon erwähnt habe. Dabei habe ich mir damals gedacht, dass ich mich mit etwas Anderem beschäftigen werde. Es hat sich aber herausgestellt, dass ich nichts Anderes machen kann. Ich bin zurückgekehrt, in die Redaktion „Novaya Gazeta“ gegangen. Dies ist die einzige Redaktion im Land, die meiner Überzeugung und meinem Verständnis bezüglich anständigen Journalismus entspricht. Bei der Novaya Gazeta fing ich an, plötzlich zu schreiben. So klappt es immer noch nicht mit dem Schreiben aufzuhören.

Welche Motivation liegt bei Ihnen zugrunde, engagiert den Blick hinter die Kulissen zu wagen bzw. sich für die Geschichten von Einzelschicksalen in Krisengebieten einzusetzen?

Was mich motiviert ist wahrscheinlich das Selbe, was auch meinen lieben Literaten z. B. wie Nikolai Wassiljewitsch Gogol motiviert hat. Liebe und Mitleid zu denjenigen, die man “kleiner Mensch“ nennt. Lesen Sie hierzu „Der Mantel“ (russ. „Schanel“). In keinem Fall versuche ich mich auf die gleiche Ebene mit Genies zu stellen, aber Motivation haben wir wahrscheinlich gemein.

Welche speziellen Gründe motivieren Sie dazu, z. B. über den ersten Konflikt und die Kriege in den ehemaligen USSR Republiken zu berichten? 

Es gibt hierfür keine speziellen Gründe. Allein die Neugier treibt mich voran. In der Jugendzeit wollte ich die Erste sein, um jemandem etwas zu beweisen. Der damalige Wunsch hat sich in den Wusch umgewandelt, die Erste bezüglich von Qualitätsjournalismus zu sein.

Was waren die Folgen für Sie, nachdem Sie in den Brennpunkten waren? Hat Ihre Lebenseinstellung/ Lebenssicht sich geändert? Wenn ja, in welche Richtung?

Ich weiß nicht, ob die Brennpunkte auf mich eingewirkt haben oder die Tatsache, dass ich schon die Hälfte meines Lebens hinter mir habe. Auf jeden Fall habe ich schon viele Erfahrungen gesammelt. Das, was ich für mich persönlich zur Kenntnis genommen habe, ist, dass man aus solchen Orten nicht wegfahren darf ohne genau zu wissen, ob es in einem anderen Ort besser ist. Es kann sich alles verändern und es kann einem alles so vorkommen, dass die Farben schwarz und weiß auch viele Schattierungen haben. Zusätzlich habe ich für mich festgestellt, dass ich immer auf der Seite der Schwachen bzw. Opfer bin, immer dann, wenn Hilfe benötigt wird. Alles andere ist für mich nicht wichtig. Fast so wie für einen guten Arzt.

Wahrnehmung und Aufmerksamkeit im Westen:

Hat jemand aus dem Westen bereits vor ihrer Preisanerkennung über Ihre Arbeit berichtet? 

Ich habe keine Kenntnis darüber, aber ich träume davon es herauszufinden, wie überhaupt dieser Preis vergeben wird. Wofür? Es ist für mich überhaupt nicht klar. Ich hätte gerne gewusst, wer noch mit mir zusammen nominiert war. Aus dem einfachen Grunde, um einschätzen zu können, ob die Nominierten für wenig bekannte Zeitungen arbeiten. Denn wenn dies der Fall ist, empfindet man den Förderpreis anders, als wenn jemand nominiert ist, der für angesehene Zeitungen arbeitet wie z. B. ehrwürdige Kollegen der Zentralpresse.

Mich würde die Meinung der Experten und der Leute aus der Jury interessieren.
Meine Texte brauchen keine ungefähren Nacherzählungen, sondern eine präzise Übersetzung. Ich war ziemlich überrascht, als ich den Preis erhalten habe, da ich mich mit keinen schutzrechtlichen Aktivitäten beschäftige. Ich schreibe und fotografiere das Leben so wie ich es um mich herum miterlebe.

Ich würde nämlich sehr gerne wissen, was Leute, die meine Materialien empfohlen haben oder diejenigen, die in der Jury saßen, über meine Arbeiten gedacht haben. Mir wurde aber gesagt, dass es nicht möglich ist den Grund für ihre Preisauszeichnung zu erfahren. Nach der Preisauszeichnung hat mir einer der russischen Experten (ich kenne übrigens nicht alle, die meine Artikel gelesen haben) gesagt, dass drei meiner Artikel über die baltischen Republiken eine sehr wichtige Rolle bei der Bewertung meiner Arbeiten gespielt haben. Dies waren 3 von 14 Ländern der Serie „USSR- das Produkt nach dem Zerfall“. Das waren keine politischen Artikel, sondern lediglich Erzählungen darüber, wie die Menschen in den neuen, sich nach dem Zerfall der Sowjet Union gebildeten Republiken, leben. Ich habe das geschrieben, was ich gesehen hatte. Das ist den Experten ungewöhnlich vorgekommen, dass russische Journalisten über z. B. baltische Republiken einfach so schreiben, ohne etwas zu verheimlichen oder zu beschönigen. Ich war davon sehr enttäuscht.

Ist es wirklich so, habe ich mir gedacht, dass die Kollegen aus dem Westen den Journalismus in Russland alle SO sehen und wirklich glauben, dass alle Journalisten in Russland die Welt so sehen, wie die russische Regierung das will. Den Preis aber lediglich dafür zu geben, dass man die Welt nicht mit Kreml-Augen sieht, ist der Trend meiner Meinung nach. Es ist nicht richtig, nur einen Punkt zu berücksichtigen und zwar ob man für die Regierung schreibt bzw. deren politische Meinung vertritt oder gegen die Regierung schreibt. Die Preise müssen für guten Journalismus vergeben werden. Das ist meine Meinung, obwohl ich eventuell einfach nur falsche Informationen über den Verlauf der Preisauswahl hatte.

Haben Sie selbst schon mal im Westen etwas veröffentlichen können? Wenn ja, wo?

Die von mir gemachten Fotos wurden vielfach in unterschiedlichen Ländern veröffentlicht, aber keiner meiner Artikel wurde auf andere Sprachen übersetzt. Keiner der Journalisten aus dem Ausland, die in Moskau wohnten, hat sich für meine Arbeiten interessiert. Entweder sind meine Artikel so schlecht oder die Interessen der Journalisten liegen in der Sensationspresse und in der Politik.

Und nach der Preisverleihung?

Nach der Preisverleihung ist vor der Preisverleihung!
Welchen Effekt hatte ihre Preisträgerschaft im Jahre 2008 auf die westliche Presselandschaft?
Ich habe nicht die geringste Kenntnis darüber, glaube aber, dass es so gut wie keinen Effekt auf die westliche Presselandschaft hatte. Warum soll es eigentlich einen Effekt haben?

Wissen Sie, ob im Westen weiter über Ihre Arbeit berichtet wurde bzw. wie wurde ihr Einsatz von der Presse aufgenommen /Pressereaktion? Wenn ja, wer hatte sie darüber interviewt und danach darüber berichtet?

Ich habe keine Kenntnis darüber. Ich weiß sogar nicht, ob etwas über das Thema in der Zeit-Stiftung geschrieben wurde.

Wurde die Presse auf Sie aufmerksam in Form von Berichterstattungen, Einladungen zu Interviews, internationalen Konferenzen oder Tagungen (journalistische, wissenschaftliche; NGO-Treffen usw.)?
Ich kann nicht sagen, dass sich mit der Preisauszeichnung etwas geändert hat. Ich bin hin und wieder auf einigen journalistischen Versammlungen. Dies ist größtenteils dem russischen Journalistenverband zu verdanken.

Wurden Ihnen Stipendien bzw. Gastaufenthalte im Westen angeboten?

Nie.

Hätten Stipendien etc. gleichfalls eine Art ‚Schutzfunktion’ dargestellt? Oder würden Stipendien bzw. hohe mediale Aufmerksamkeit eher das Gegenteil bewirken? Wie beurteilen Sie dies?

Ich glaube, dass die Stipendien von sich aus nicht an eine Schutzfunktion gebunden sind. Ich bemerke kein besonderes Interesse an meiner Person. Besonders deswegen, da ich keiner journalistischen oder politischen Gruppe angehöre. Wenn ich z. B eine Million erhalten würde, dann könnte dies Neid hervorrufen. Einige Journalisten erhalten manchmal Geldpreise und arbeiten diese dann durch. Keinen Neid seitens der Kollegen habe ich nicht gesehen, obwohl es mich auch vielleicht einfach nicht interessiert.

Öffentlichkeit als Schutz(funktion) im Osten?

Was geschah nach der Preisverleihung? bzw. wie ist es Ihnen seitdem ergangen? War die Aufmerksamkeit von der Presse/ Öffentlichkeit seit der Preisverleihung größer für Sie?

Gar nichts ist geschehen. Ich glaube, Redaktionsleiter haben das schon längst wieder vergessen. Das Material über meine Preisauszeichnung wollten sie erst nicht so gerne veröffentlichen aufgrund persönlicher Missgunst mir gegenüber. Dann haben sie dies aber später doch gemacht. In den russischen Massenmedien habe ich nur die Nachrichten im Internet gesehen, nicht über mich persönlich, sondern über alle Preisträger. Ehrlich gesagt, habe ich das speziell auch nicht überprüft.

Wurde in der Novaya Gazeta, bei der Sie als Sonderkorrespondentin fest angestellt sind, über ihren Förderpreis Freie Presse Osteuropa berichtet? 

Ich habe schon geantwortet.

Wie reagierte die Öffentlichkeit auf diesen besonderen Pressepreis? Wie reagierte die politische Verwaltung? Und wer genau dort reagierte wie?

Wen meinen Sie denn? Politisch kann mir keiner was befehlen. Ich habe schon lange meine eigenen politischen Vorstellungen.

War es nach ihrer Auszeichnung problemloser, Ihre bisherige journalistische Arbeit fortzuführen? 

Nichts hat sich geändert. Sich mit dem Journalismus zu beschäftigen, somit das machen, was man möchte und sich frei zu fühlen, ist mein berufliches Glück. Es ist nicht von dem Preis abhängig.

Wie würden Sie das einschätzen: War die Auszeichnung mit dem Förderpreis „Freie Presse Osteuropa“ eine Art Schutz? Oder hatte es eher negative Folgen für Sie und für ihre Berichterstattung, sodass auch keine Schutzfunktion vorhanden war?

Das ist kein Schutz im direkten Sinne des Wortes. So wie ich es mir denke, ist das eine Art Hilfe. Wenn jemand z.B. zu mir sagt, dass ich ein schlechter Journalist bin, dann kann ich darauf widersprechen. Da ich diesen Förderpreis erhalten habe kann ich kein schlechter Journalist sein. So was hat mir aber keiner gesagt. Als ich den Preis World Press Photo erhalten habe, gab es auch keinen Aufruhr. Jemand hat mir gratuliert, jemand hat mich beneidet. Es war aber nicht so, dass ich danach viele journalistische Aufträge wegen des Preises erhalten hätte. Der Gerd Bucerius-Förderpreis, wie ich denke, ist wenig bekannt. Besonders deswegen, da der Kreis der Personen, die diesen Preis erhalten, klein ist. Die Tatsache dass man bei der Zeitung, wie „Novaya Gazeta“, arbeitet, ist in den Augen der Regierung schlimmer als der Erhalt des Preises. Ich habe keine zusätzlichen Verfolgungen erlebt, falls Sie das interessiert. Die Aufmerksamkeit im Westen bedeutet weitere Hilfe aus dem Westen für den Osten, im Falle von dort größer werdenden Problemen.

Wenn dies der Fall war, was genau waren die Gründe? Oder was genau hatte man Ihnen vorgeworfen?
Keine Antwort.

Wünsche und Erwartungen:

Stellen Sie sich bitte rein theoretisch Folgendes vor:

Wenn Sie als ‚Regierungschef’ die Möglichkeit hätten, die Arbeitsbedingungen für die Medien zu verändern, was wäre dies genau? Was würden Sie als Erstes machen bzw. als Wichtigstes ansehen, um positive Veränderungen bezüglich der Medienlage in osteuropäischen Staaten herbei zu führen?

Sofort würde ich das Fernsehen befreien. Dafür würde ich obligatorisch die Programme ins Fernsehnetz einführen, die Livesendungen betreiben. Zurzeit werden nur Nachrichten und Sport live übertragen.

Würden Sie es anderen Journalisten empfehlen bzw. es befürworten, sich grenzenlos für das Recht der Pressefreiheit bzw. für eine unabhängige Berichterstattung in osteuropäischen Staaten einzusetzen, um eine unverfälschte Meinungsbildung für jedermann ermöglichen zu können, auch wenn dies eventuell mit persönlichen Risiken verbunden ist?

Ich glaube, dass ist eine Sache, die von dem Gewissen und der Erziehung jedes einzelnen Journalisten abhängt, der für den Journalismus arbeitet.

Wenn Du sklavisch arbeitest und denkst, dass Deine Arbeit der Regierung dient, dann ist das ein Weg. Falls Du aber bestimmte Prinzipien und Ideale hast, dann ist das der andere Weg. Jetzt spreche ich über das Risiko. Das Risiko- und Gefahrengefühl empfinden alle unterschiedlich. Jeder besitzt seine eigene Grenze bezüglich der Ehre und der Ehrlichkeit.

Wenn die Polizei besser arbeiten würde und seine direkten Aufgaben machen würde z. B. auf der Suche nach Verbrechern sein, würde das Risiko sich wesentlich verringern.

Was ich noch dazu sagen möchte: Ich wollte in keinem Fall mit meinen Antworten das Förderpreiskomitee oder die Zeit-Stiftung und Gerd-Bucerius beleidigen. Damit die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius nicht denkt, dass der Förderpreis für mich keine Bedeutung hat, möchte ich Folgendes dazu sagen: Wie alle wissen hat sogar der Nobelpreis von Boris Pasternak gegen dessen Verfolgungen nicht geholfen.

Es war für ihn aber sehr wichtig, diesen Preis zu erhalten.

Der Preis war für ihn quasi Ausdruck seiner Arbeit. Der Erhalt des Preises und die Reise nach Deutschland waren unglaublich erfreulich, noch erfreulicher wäre es natürlich, solche Preise zu Hause, in Russland, zu erhalten und von dem Land anerkannt zu werden. Das wird aber, wahrscheinlich nicht bald geschehen. Ich habe eine schöne Zeit in Hamburg und in Oslo verbracht, etwas Gesehen, etwas Erfahren, Kollegen aus anderen Ländern kennen gelernt, denen es scheinbar schwerer als mir geht. Der Hauptstadtjournalistin der sehr bekannten Zeitung Novaya Gazeta.

In Hamburg habe ich etwas gesehen, was mir irgendwie nicht mehr aus dem Kopf geht. Das sind die in das Straßenpflaster eingelassenen Messingplatten. Der Stein, über den man stolpern soll, ist an die getöteten Juden in den Konzentrationslager zu gedenken. Ich werde glücklich sein, wenn es in meinem Heimatland solche Symbole zum Gedenken über Menschen, Verstorbene in GULAG (Akronym für Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager) geben würde. In Hamburg habe ich gesehen, dass das möglich ist. Obgleich dies nach 60 Jahren eingeführt wurde. Also wird das irgendwann auch in Russland möglich sein.

Weiterhin möchte ich noch etwas hinzufügen: Von dem Empfang in der Zeit-Stiftung war ich sehr gerührt. Besonders von der Zeit, die uns Dr. Theo Sommer persönlich gewidmet hat. Dieses Treffen hat mir dazu noch die Möglichkeit gegeben, den Journalisten Wolfgang Büscher kennen zu lernen, den ich sehr schätze bzw. würdige und mit dem ich mich innerlich vergleiche. Nicht bezüglich seines Schreibstils, sondern aufgrund von seiner persönlichen Einstellung zum Leben und zu den Menschen. Das alles war für mich nun wichtiger als der Preis an sich und das Geld.

Das Interview wurde am 28. Oktober 2009 von Justine GINTER und Zhanna TELEGINA, Studierende an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften) per E-Mail geführt