Im Zweifel gegen den Angeklagten?

Oder: ein Vorverurteilter auf der Anklagebank?

Alle wissen wir, was das ist: Gerichtsprozesse. Der Ort, an dem die so genannte Judikative in unserem Rechtsstaat agiert und urteilt. Und zwar nicht einfach so. Sondern "Im Namen des Volkes!"

Das Gericht: Ein Ort, in dem auch Wächter anderer Staatsgewalten sich bei Missachtung der Gesetze zu verantworten haben, und uns somit die Gleichstellung vor dem Gesetz gesichert bleibt.

Genau um einen solchen Fall handelte es sich bei einem Gerichtsprozess im Jahre 2004 vor dem Amtsgericht in der Stadt Dortmund. Dort mussten sich die beiden Polizeioberkommissare RG und D wegen Körperverletzung im Dienst verantworten. Körperverletzung, in der das Opfer ein Herr MM gewesen sein soll. In der fraglichen Tatnacht wurde er in der Dienststelle und unter der amtlichen Obhut der Beamten RG und D zur Ausnüchterung eingewiesen. Dabei soll er mehrfach misshandelt worden sein.

Die Merkwürdigkeiten der Rollenverteilung in diesem Strafprozess

Die Anzeige, die die Staatsanwältin zur Anklageschrift ausgebaut und den Richter dazu brachte, auch einen Strafprozess zu eröffnen, erstattete allerdings nicht das Opfer, sondern zwei Kollegen der Angeklagten: die Polizeikommissarin B und Polizeioberkommissar S, die ebenfalls während der Tatzeit am 'Tatort’ waren und die Tat mitverfolgt haben, wie sie sagen. Allerdings mit unterschiedlicher Wahrnehmung, wie wir unter Die ungeklärten Widersprüche detailliert dokumentieren.

Die beiden anwesenden KollegenInnen, Polizeikommissarin B und Polizeioberkommissar S, die das (angebliche) Opfer in die Wache von RG gebracht hatten, behaupteten in ihrer Aussage, dass die beiden wachhabenden Kollegen vor Ort das Opfer bei der Verbringung in die Ausnüchterungszelle ohne Grund mit Fäusten blutig geschlagen hätten. Drei Faustschläge in das Gesicht des Betrunkenen sollen es – laut Aussage von Polizeioberkommissar B - gewesen sein. Herr MM hingegen behauptete – später sogar vor Gericht – , sich an keine Faustschläge erinnern zu können und auch nicht am nächsten Tag Blutungen und/oder Schmerzen in seinem Gesicht verspürt zu haben – also keine Anzeichen, die für Faustschläge gesprochen hätten. Er wäre auch garnicht auf die Idee gekommen, eine Anzeige zu erstatten, warum auch?

Übrigens wären auch die beiden anzeigenden KollegInnen nicht auf die Idee gekommen, eine Anzeige zu erstatten. Auf die Frage des Richters, ob S das auch gemacht hätte, wenn er nicht von seinem Vorgesetzten dazu aufgefordert worden wäre, lautete die Antwort „Nein!“

Eine gewisse körperliche Auseinandersetzung’ zwischen den diensthabenden Beamten RG und D auf der einen Seite und dem Opfer MM auf der anderen Seite hat es tatsächlich gegeben – wie auch die Angeklagten selber bezeugten. Doch nur durch einen so genannten „Schockschlag“: durch einen Schlag mit der flachen Handfläche, der zur Ruhigstellung z.B. eines in Rage kommenden Häftlings angewandt wird (siehe dazu Was es mit dem Schockschlag auf sich hat).

Die 2 Kollegen der beiden Angeklagten dagegen wollten allerdings auch bei einer weiteren Aussage vor Gericht an den Faustschlägen festhalten und daran, dass das Opfer bereits während der Tat blutete. Jedoch mit einem Unterschied: Vor Gericht spricht die Polizeikommissarin B plötzlich nicht mehr von 3 Faustschlägen, sondern nur noch von 2, die RG ausgeteilt haben soll - eine Abweichung von der ursprünglichen Aussage, die auch den erfolgreichen Anwälten der Angeklagten auffiel und das Gericht darauf aufmerksam machten.

Ohne Erfolg: Der Richter sah die Widersprüche - wegen der Unerfahrenheit der jungen Beamtin, der Polizeikommissarin B. - als absolut natürlich an. Zitat des Amtsgerichts in D: „Das gesamte Aussageverhalten der Zeugin B. im Verlaufe des Strafverfahrens und auch in der Berufungshauptverhandlung zeigte, dass die Zeugin einen für sie unfassbaren Vorgang beobachtet hatte, mit dessen Verarbeitung die Zeugin sich äußerst schwer tat. Diese Unsicherheiten der Zeugin hatten sich auch in dem Inhalt ihrer verschiedenen Aussagen niedergeschlagen“.

Mit diesem Hinweis stießen die Anwälte der beiden angeklagten Polizeibeamten nicht das erste Mal auf Granit, sondern immer wieder – wie der Angeklagte RG uns gegenüber schilderte - „eine Farce“ – wie seine Anwälte sagen.

Ablehnen von Beweisanträgen: Wahrheitsfindung versus Effizienz der Justiz - zu Lasten des Angeklagten?

Auch alle anderen Versuche die Angeklagten zu entlasten, wurden seitens des Richters abgelehnt.

Beispiel: der Antrag auf Besichtigung des Tatorts, in der - von der konkreten Raumkonstellation her gesehen - viele Aussagefaktoren zu Gunsten der Angeklagten hätten sprechen können. Der Richter lehnte diesen Antrag – laut Aussage von RG – mit folgender Begründung ab: „darauf könnte verzichtet werden, denn die Örtlichkeiten des Polizeigewahrsams wären hinsichtlich bekannt“.

"Hinlänglich bekannt" ganz sicher. Aber ob man damit zweifelsfrei rekonstruieren kann, ob die Belastungszeugen an ihren Standorten überhaupt das alles sehen konnten, was sie angeblich gesehen hatten, bleibt zumindest zweifelhaft.

Was das 'Hohe Gericht’ sich weigerte zu machen, nämlich Wahrheitsfindung vor Ort zu betreiben, haben wir für Sie gemacht: in Form einer fotografischen Besichtigung des Tatorts.

Potenzielle Entlastungsbeweise aus Gründen der Zeiteffizienz abzulehnen, halten wir für hochproblematisch. Im Zweifel geht dies zu Lasten des Angeklagten.

Die 'Unvoreingenommenheit' eines Richters: Erklärungsansätze seitens der Psychologie

Menschen handeln sehr oft asymmetrisch. Eine (ur)alte Erkenntnis der Psychologie. Von Leon FESTINGER stammt die Theorie der kognitiven Dissonanz. Sie stammt aus dem Jahre 1957 und ist allgemein anerkannt.

Danach streben Menschen ein 'Gleichgewicht' in ihrem kognitiven System, d.h. bei ihrem bewussten und unbewussten Denken, sprich bei ihren Meinungen und Einstellungen an.

Beispiel: Die Kognition "ich rauche" verhält sich dissonant zur allgemeinen Erkenntnis "Rauchen verursacht Krebs". Die Lösung(en), um ins (konsonante) Gleichgewicht zu gelangen:

  • entweder Verdrängen und Vergessen (Subtraktion einer Kognition)
  • oder Addition weiterer konsonanter Kognitionen, z.B. "Mein Opa hat ebenfalls geraucht und ist 95 Jahre alte geworden".


Anderes Beispiel: Wer sich ein teures Auto gekauft hat und hinterher merkt, dass es ein Fehlkauf war, wird das verdrängen (wollen) und sich gleichzeitig alles 'schönreden', was (doch) so gut an dem neuen Auto ist.

Diese Theorie findet ihre Konkretisierung im so genannten Inertia-Effekt. Der besagt ganz allgemein:

  • Einmal getroffene Entscheidungen bleiben gegenüber neuen Informationen immun. Die Folge:
  • Der Wert von Informationen, die der (einmal) getroffenen Entscheidung oder Meinung entsprechen, werden regelmäßig überschätzt, der Wert entgegengerichteter Informationen hingegen regelmäßig unterschätzt.

 

Der Inertia-Effekt im Strafprozess: zu Lasten des Angeklagten?

Ein Richter, der eine Anklage(schrift) des Staatsanwalts zur Hauptverhandlung, also zu Anklage zugelassen hat, hat eine erste Entscheidung getroffen: nach Aktenlage ist der Beschuldigte schuldig. Bzw. könnte es sein. Denn sonst würde ein Richter nicht einen Prozess anordnen.

Nach § 261 der Strafprozessordnung (StPO) muss das Gericht nach seiner „freien, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften Überzeugung“ entscheiden. Es zählt also - so gesehen - nur das, was bei der Hauptverhandlung herauskommt.

Was aber passiert, wenn das Gericht bereits im Zwischenverfahren nach dem Studieren der Akte fest von der Schuld des Angeschuldigten überzeugt ist, fragt z.B. der ehemalige und ehrenamtliche Arbeits- und Sozialrichter Axel ALM in seinem Aufsatz Der Inertia-Effekt - Wie unvoreingenommen sind deutsche Richter?. Und weiter: "Wie wird es auf neue, entlastende Beweise in der Hauptverhandlung reagieren? Wie wird es verschiedene Beweisanzeichen interpretieren – unabhängig oder eher zu Lasten des Angeklagten? Kann ein Richter überhaupt in dem Maße objektiv sein, wie es die StPO von ihm verlangt?"

Seine Antwort: "Mit der Entscheidung im Zwischenverfahren, das Hauptverfahren zu eröffnen, trifft das Gericht zwar noch keine endgültige Entscheidung darüber, wie der Prozess ausgehen wird. Diese Vorentscheidung führt aber dazu – so die Theorie –, dass Richter Informationen in der Hauptverhandlung selektiv wahrnehmen, um nicht in Widerspruch zur eigenen Hypothese zu geraten. Sprechen Beweise oder Indizien für die eigene Vorentscheidung, werden sie überschätzt, sprechen sie dagegen, werden sie unterschätzt.

Wie ist die Befürchtung, der Inertia-Effekt gefährde im Zusammenspiel mit den rechtlichen Vorgaben der StPO die Objektivität des Gerichts, aus wissenchaftlicher Sicht einzuschätzen? Empirische Studien konnten bislang keine Klarheit darüber geben, ob und wie sich der Inertia-Effekt auf Entscheidungen in Strafverfahren auswirkt. Es bleiben Zweifel, ob der Richter den hohen Anforderungen der StPO an seine Objektivität gerecht werden kann. In einem Rechtsstaat ist die Arbeit des Strafverteidigers daher um so wichtiger."


Die Arbeit des Strafverteidigers wiederum hängt auch davon ab, ob und inwieweit er Entlastungsbeweise einbringen kann. Lehnt der Richter ab, so geht dies potenziell zu Lasten des Angeklagten.

In anderen Ländern gibt es beim Strafverfahren mehrere Richter: Den Untersuchungsrichter, der über eine U-Haft entscheidet, einen Richter, der die Anklageschrift prüft und einen dritten Richter, der die Hauptverhandlung leitet und nur aufgrund der dort gewonnenen Erklenntnisse bei der Wahrheitsfindung entscheidet.

Alles in allem gesehen: In unserem dokumentierten Fall hatte der Angeklagte RG keine wirkliche Chance. Im Zweifel ging alles zu Lasten des Angeklagten. Der allbekannte Slogan "Im Zweifel für den Angeklagten" dürfte im Zweifel nicht für jeden (vorverurteilten) Angeklagten gelten.


(A.H. / JL)