Die 5 Berichte der Frankfurter Rundschau aus 2002, 13.05.2002

von Florian HASSEL

Das Mädchen mit der Bombe

Es gibt in Tschetschenien nicht viele Menschen, die den Tag überleben, an dem sie mit einer Tasche voller Sprengstoff in ein Polizeirevier marschieren. Noch seltener ist, dass diejenigen, die in die Luft gejagt werden sollten, den Attentäter anschließend adoptieren. Aber die Geschichte der Sarema Inarkajewa ist ja auch keine gewöhnliche Geschichte.

Wer Sarema trifft, kommt kaum auf die Idee, dass sie einen mörderischen Anschlag verüben sollte. Ein hübscher Teenager von 15 Jahren, etwas schüchtern, mit einem rundlichen Gesicht, großen, strahlend grünen Augen und schulterlangen, schwarzen Haaren. Saremas Familie ist weder wohlhabend noch intakt. Der Vater ist Bauarbeiter und hat sich vor Jahren von seiner Frau und den vier Kindern getrennt. Die Mutter bringt ihren Sohn und die drei Töchter als Serviererin in einem Café in Gudermes, der zweitgrößten Stadt Tschetscheniens, durch. Meistens ist Sarema sich selbst überlassen.

Hübsche Mädchen werden in Tschetschenien schon mal von denjenigen entführt, die ein Auge auf sie geworfen haben. Ist eine junge Frau erst in der Gewalt einer anderen Familie, bleibt ihren Eltern meist nichts anderes übrig, als einer Hochzeit zähneknirschend zuzustimmen und so eine Entehrung ihrer Familie zu verhindern. Manche Mullahs schließen die Ehe auch ohne Zustimmung der Eltern.

Mit dreizehn Jahren, erzählt Sarema, wird sie von einem einige Jahre älteren Nachbarjungen entführt. Doch mit den Anforderungen einer Ehe ist das Mädchen genauso überfordert wie der Junge. Einige Monate später kehrt sie nach Hause zurück. Das ist mal das Haus des Vaters im Dorf Tolstoj-Jurt, mal die Wohnung der Mutter in Gudermes. Einen geregelten Schulbetrieb gibt es nicht in Tschetschenien, in dem der Krieg nur offiziell beendet ist.

Beim Teetrinken freundet sie sich mit der älteren Asjat Itajewa an. Komm mit nach Grosny, sagt die neue Freundin am Nachmittag des 5. Januar, ich muss dort ein paar Sachen abholen. Dort treffen sie Schamil, mit dem Asjat eine lose Beziehung verbindet. Der junge Mann überredet Sarema, den Abend mit ihnen zu verbringen und erst am nächsten Tag nach Gudermes zurückzufahren.

Doch Schamil lässt die Fünfzehnjährige nicht wieder gehen. Späteren Ermittlungen der Polizei zufolge gießt Schamil dem jungen Mädchen eine willenlos machende Droge in den Tee und fährt mit ihr nach Gudermes. Dort holt Sarema ihre Sachen aus der Wohnung und schreibt ihrer Mutter auf Schamils Anweisung einen Zettel: "Liebe Mutter, mach dir keine Sorgen, ich fahre nach Tolstoj-Jurt und bleibe eine Weile bei Papa." Dann kehren Schamil und Sarema in die Wohnung nach Grosny zurück. Sarema kann sich, so sagt sie, an diesen Tag nicht erinnern.

Ihr Gedächtnis setzt erst wieder ein, als ein weiterer junger Mann namens Aslan in die Wohnung in Grosny kommt. Asjat erzählt Sarema, dass ihr Freund Schamil und Aslan Wahhabiten und Rebellen gegen die russische Herrschaft seien. Angeblich haben die Rebellen selbst die Polizei unterwandert. Einmal kommt ein Mann zum Abendessen, der Sarema als Chef der Polizeistation des Sawodskij-Stadtteils vorgestellt wird.

Sonst ist die Wohnungstür für Sarema verschlossen. "Wenn du zu fliehen versuchst", schärfen die Rebellen dem Mädchen ein, "bringen wir erst dich und dann deine Mutter und Schwestern um." Sarema kocht für die Rebellen und wäscht das Geschirr ab. Aslan will mit ihr schlafen. Als sie sich weigert, drückt er drei Zigaretten auf ihrem Unterarm aus. Da gibt sie nach.

Ende Januar trifft der Anführer der Rebellen ein: "Emir Rustam". In Wahrheit heißt der 27-Jährige Timur Gaerbekow und ist nach Angaben der Polizei ein berüchtigter Rebellenführer, der nicht nur in Grosny, sondern auch in den Städten Schali und Urus-Martan Kommandos führt. Seine Ausrüstung lässt nichts zu wünschen übrig, erinnert sich Sarema. "Er kam mit drei Reisetaschen voller Waffen: automatische Pistolen, Handgranaten, zwei Maschinenpistolen, Funkgeräte. Und viele Dollar."

Zur Terrortaktik der Rebellen gehört, Polizisten und andere Beamte der von Moskau eingesetzten tschetschenischen Verwaltung zu ermorden. An einem Nachmittag Ende Januar machen sich "Emir Rustam", Schamil und Aslan auf, um einen tschetschenischen Polizisten zu ermorden. Da der Beamte nicht zu Hause ist, schießen sie seine Frau nieder. Tags darauf fahren die Rebellen mit Asjat weg. Sarema ist traurig. Zwar hat sie begriffen, dass Asjat sie als Lockvogel in die Gewalt der Rebellen gebracht hat. Andererseits war sie in all den Wochen der faktischen Geiselhaft ihre einzige Ansprechpartnerin.

Zwei Tage später bringen die Rebellen Sarema in eine andere konspirative Wohnung. Am nächsten Morgen wird sie früh geweckt. Es ist der 5. Februar. "Du musst uns nur noch heute einen Gefallen tun", sagt Schamil, "dann kannst du wieder nach Hause." Am Nachmittag fahren die Rebellen mit ihr in den Sawodskij-Stadtteil im Westen Grosnys. Ein paar hundert Meter vor dem Polizeirevier hält ihr Wagen an. Schamil drückt Sarema eine Sporttasche in die Hand. "Du erinnerst dich doch an den Polizeichef, der bei uns war. Er hat seine Tasche bei uns vergessen. Bring sie ihm schnell vorbei. Dann fahren wir dich nach Hause."

Sarema wundert sich zwar über das Gewicht der Tasche, denkt sich aber nichts dabei. Am Eingang des Polizeireviers beginnen die Beamten sofort, mit dem hübschen Mädchen zu flirten. Als sie nach dem Revierchef fragt, lassen die Beamten Sarema ohne Kontrolle zum Eingang. Dann drücken die Rebellen auf die Fernsteuerung.

Doch nur der Zünder explodiert, nicht aber die sieben Kilo Sprengstoff, die unter den Sportsachen am Boden der Tasche verborgen sind. "Wäre dieser Sprengsatz explodiert, wären Sarema und Dutzende von Polizisten mit dem ganzen Revier in Stücke gerissen worden", sagt Oberst Sultan Satujew, der stellvertretende Polizeichef von Grosny. "Die Verbrecher haben Saremas Weg zum Revier auf Video aufgenommen. Wäre alles nach ihrem Plan verlaufen, hätte ihre Propaganda das Mädchen als Heldin präsentiert, die für den Kampf gegen Moskau freiwillig in den Tod gegangen ist."

Der explodierende Zünder verletzt Sarema nur am Bein. Die aufgebrachten Polizisten schlagen die mutmaßliche Kamikaze-Attentäterin. Dann übernimmt Oberst Satujew, ein Polizist mit mehreren Jahrzehnten Erfahrung, das Verhör. "Dieses Mädchen ist keine Terroristin, sondern ausgenutzt worden", erkennt Satujew. Es ist nicht der einzige Fall, in dem Rebellen Unwissende als lebende Bombe missbrauchen wollten.

Allein im vergangenen Jahr haben die Rebellen Satujew zufolge 92 tschetschenische Polizisten getötet. Und die Mordserie geht weiter. Am Morgen des 18. April sprengen Rebellen in der Nähe des Polizeihauptquartiers in Grosny zwei Mannschaftswagen mit ferngesteuerten Minen in die Luft. 21 Männer sterben. Zwei Stunden später hält Präsident Wladimir Putin im Kreml seinen Jahresbericht zur Lage der Nation. "Das militärische Stadium des Konflikts kann man für beendet halten", sagt der Präsident zu Tschetschenien.

Sarema Inarkajewa hat das festungsähnliche Polizeihauptquartier seit dem fehlgeschlagenen Attentat nicht verlassen. Nach ihren Aussagen hat die Polizei einige Rebellen verhaftet. Die Polizisten haben Sarema eine gefütterte, olivgrüne Uniformjacke geschenkt und sie als "nascha djewuschka", unser Mädchen, adoptiert. Doch was aus Sarema werden soll, weiß auch Oberst Satujew nicht. "Wenn wir Sarema freilassen, bringen die Rebellen sie um." Ende Februar fanden Satujews Männer die Leiche Asjat Itajewas, der Freundin des Rebellen Schamil. "Sie haben Asjat gefoltert, erschossen und die Leiche angezündet", sagt Satujew. Ob die Rebellen eine Zeugin beseitigen wollten oder ob Asjat sich weigerte, ebenfalls zur lebenden Bombe zu werden, wissen die Ermittler nicht. Rebellenführer Gaerbekow ist weiterhin auf freiem Fuß. "Es gibt viele solcher Gruppen", sagt der Oberst. "Und sie sind immer in Bewegung."

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003