Wie die Berichte entstanden - ein ausführliches Making-of der Recherchen
Von Daniel DREPPER und Niklas SCHENCK
Wir haben 14 Monate vor Beginn der Olympischen Spiele in London begonnen, zur deutschen Sportförderung zu recherchieren. Der Plan: Wir wollten pünktlich zu den Spielen wissen, wer im deutschen Sport wirklich darüber entscheidet, wie 132 Millionen Euro Steuergeld auf Verbände und Stützpunkte verteilt werden – das Bundesinnenministerium (BMI) oder der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB).
Und wir wollten wissen, wie und nach welchen Kriterien in diesem Sportsystem Förderentscheidungen getroffen werden. Vor allem interessierte uns, welche Rolle dabei ein System des Belohnens von Loyalität gegenüber dem DOSB spielt. Wir fingen bei Null an und verbanden klassische Quellenrecherche, Recherche im Netz und die journalistischen Aufkunftsrechte (am Ende mittels einer Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin), damit unser langfristiger Plan aufgeht.
Wir fragten zunächst Sportpolitiker und Verbandsfunktionäre, das Bundesinnenministeriun sowie DOSB-Vertreter und stießen auf ewig gleiche Worthülsen. Also entschieden wir, uns systematisch Einblick zu verschaffen, um trotzdem fundiert über Sportpolitik berichten zu können: Wir erschlossen uns Quellen bei Verbänden, die angeeckt waren im Fördersystem, und nutzten zugleich das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) und die Landespressegesetze, um Akteneinsicht zu beantragen.
Außerdem nutzten wir soziale Medien und den Blog des WAZ-Rechercheressorts (später auch den des stern-Investigativteams), um unsere Recherche transparent zu machen und um das Vertrauen möglicher Informanten zu werben – was sich regelmäßig auszahlte, wenn Dokumente und Hinweise in den anonymen Briefkästen landeten. Wir kämpften also auf allen Kanälen darum, dass die seit Jahren geheim gehaltenen Medaillenvorgaben des deutschen Sports für die Olympischen Sommerspiele in London (“Zielvereinbarungen”) öffentlich gemacht werden.
Das hat am Ende geklappt, zwei Tage vor Ende der Spiele – trotz erheblicher Widerstände und einer 448 Tage dauernden Blockadepolitik des BMI und des DOSB. Wir haben gelernt, dass Journalisten manchmal einen sehr langen Atem brauchen, um einen Missstand aufdecken zu können. Und wir haben gelernt, dass Journalisten manchmal einen Anwalt brauchen und juristisches Geschick.
Das Ergebnis:
Die Vorgaben für deutsche Sportverbände, an denen sich zumindest teilweise die staatliche Millionenförderung ausrichtet, sind völlig überzogen. Sie sind das Symbol für ein medaillenfixiertes, intransparentes System der Sportförderung, in dem Willkür die Regel ist und die Belohnung von Loyalität über sachliche Kriterien gestellt wird.
Fast eine Milliarde Euro bekommt der deutsche Sport in einem vierjährigen Olympiazyklus vom Bund. Wer warum wie viel bekommt ist zu großen Teilen unklar. Die Zielvereinbarungen und unsere ausführliche Recherche zur Vergabe von Steuergeld im deutschen Sport legten ein System offen, das anhand von Medaillenvorgaben Steuermittel vergibt, als müsse sich Deutschland noch immer im Kalten Krieg mit den Ländern Osteuropas messen. Zugleich legten wir mithilfe klassischer Recherchemethoden offen, wie das Innenministerium den Rugbyverband an den Rand der Insolvenz trieb – und wie es sich nach den Spielen bei der Verteilung von Steuergeld für erfolgreiche Trainer verhedderte.
Detaillierter Rechercheverlauf
Unsere Recherche beginnt im Mai 2011. Wir hatten zuvor hin und wieder mit der deutschen Sportförderung zu tun, hatten hinter vorgehaltener Hand gehört, wie intransparent die Verteilung von Steuergeld im Sport abläuft. Bei Recherchen zum Behindertensport erfahren wir, das trotz insgesamt steigender Fördersummen immer weniger Geld bei den Teamsportarten ankommt. Denn mit demselben Geld lassen sich viel effizienter Einzelsportler fördern – und die können sogar mehrere Medaillen gewinnen.
Regelmäßig hatten Journalisten und Sportpolitiker seit 2009 vor allem die Zielvereinbarungen kritisiert, in denen Ministerium, DOSB und Sportverbände die Medaillenziele für die Olympischen Spiele in London festgelegt hatten. Die Vereinbarungen sind Grundlage für die Vergabe von Steuergeld, blieben aber selbst vor den Abgeordneten des Bundestags-Sportausschusses geheim. Bei unserer Recherche über Behindertensport beißen wir auf Granit, weil der Behindertensportbund DBS keine öffentliche Behörde ist und damit nicht zur Auskunft verpflichtet. Also entscheiden wir, das Thema systematisch anzugehen.
Noch 451 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Am 19. Mai 2011 stellen wir gemeinsam einen Antrag nach dem seit 2006 existierenden Informationsfreiheitsgesetz (IFG). Jeder Bürger kann nach dem IFG Einsicht in Behördenvorgänge nehmen, die Bearbeitungsfrist beträgt offiziell vier Wochen. Ideal für unser Vorhaben, die Sportförderung und im Speziellen die Zielvereinbarungen kritisch zu betrachten. In unserem Antrag bitten wir um Einsicht in alle Akten zur deutschen Sportförderung seit 2004.
Wir benennen die Akten detailliert und beantragen Einsicht in:
- alle Förderanträge der genannten Verbände; alle Finanzierungspläne inklusive der aufgegliederten Berechnung der Ausgaben;
- alle Zuwendungsbescheide; alle Zwischen- und Verwendungsnachweise inklusive der Sachberichte und einem zahlenmäßigen Nachweis mit Belegliste;
- alle Prüfungsvermerke der kursorischen Prüfung und der stichprobenartigen vertieften Prüfung;
- alle Prüfberichte; alle Unterlagen zur Erfolgskontrolle mit Zielerreichungs-, Wirkungs- und Wirtschaftlichkeitskontrolle; alle Strukturpläne für die jeweiligen Olympiazyklen (die so genannten "Zielvereinbarungen");
- die Zuweisungsbescheide für die einzelnen
- Olympiastützpunkte und die Zuweisungskriterien für die Ermittlung des Finanzierungsanteils des BMI am Haushalt der einzelnen Olympiastützpunkte; alle Prüfberichte und Unterlagen zu den Olympiastützpunkten.
Die Sportabteilung des Innenministeriums hat bis zu unserer Anfrage noch niemals einen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten, wie uns das Bundesinnenministerium später bestätigt. Entsprechend wenig Interesse hat das Ministerium im Frühjahr 2011 an einer Zusammenarbeit. Bei uns entsteht der Eindruck, das Ministerium tut in der Folge alles, um eine Veröffentlichung zu verhindern.
Für eine erste Reaktion benötigt das Ministerium vier Wochen. Am 15. Juni 2011 bekommen wir Post aus Berlin. Der Brief hat es in sich. Im Ministerium greift man zu Tricks, um uns mit horrenden Gebührenforderungen abzuschrecken. Die Beamten schreiben uns, es handele sich “bei der Bearbeitung des Antrages nicht um eine einzige Amtshandlung”, sondern um “eine Vielzahl von Vorgängen und Themengebieten, so dass die Kostenfolge sich für jedes Themengebiet ergibt.
”Am 5. Juli 2011 konkretisiert die juristische Abteilung von Innenminister Hans-Peter Friedrich: Für die Bearbeitung fallen Stundensätze zwischen 30 und 60 Euro an. Das Ministerium droht uns mit hohen Kosten, wir halten unseren Antrag aufrecht.
Noch 389 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Ministerialdirektor Gerhard Böhm leitet die Sportabteilung des Innenministeriums. Am 20. Juli 2011 lädt uns Böhm zum Gespräch ins Ministerium nach Bonn. Von 16 bis 18 Uhr sitzen wir mit Böhm und seinem Ressortleiter für die Sportförderung im elften Stock zusammen. Die beiden Beamten erklären uns wortreich, wie sehr unser Antrag die Arbeit des Ministeriums behindern werde. Böhm unterbreitet uns ein Angebot: Wir sollen unseren Antrag auf Akteneinsicht fallen lassen, dann werde er gerne “mehrere Mitarbeiter für mehrere Tage” abstellen, damit sie uns mühsam eine Liste zusammenstellen – aus dieser Liste sollte hervorgehen, wie viel Geld die einzelnen deutschen Sportverbände vom Bund beziehen.
Um sein Versprechen zu untermalen, legt Böhm uns eine Liste vor, in der zwei von 33 Zeilen bereits ausgefüllt waren, eine für jeden olympischen Sportverband. “Das allein hat schon mehrere Tage gedauert”, behauptet er. Die Liste auszufüllen werde seinen Leuten viel Arbeit machen, betont er nochmals, aber das sei immer noch besser, als unseren Antrag auf Akteneinsicht in vollem Umfang bearbeiten zu müssen. Denn dann würden durch unsere Anfrage “mehrere Sportverbände in die Insolvenz getrieben”.
Böhm stellt sich auf den Standpunkt, seine Mitarbeiter wären dann nicht in der Lage, die Förderanträge der Verbände rechtzeitig zu bearbeiten. “Sie würden hier die gesamte Abteilung für sechs Monate lahmlegen.” Was würden wir denn auch mit den eigentlichen Akten wollen? Die Jahresplanungen der Verbände, Prüfberichte, die Zielvereinbarungen zwischen dem Dachverband und einzelnen Sportverbänden – damit könnten wir doch ohnehin nichts anfangen, so der Abteilungsleiter. Wir bitten um Bedenkzeit.
Im selben Moment betritt die Assistentin des Abteilungsleiters den Raum und erinnert ihren Chef daran, dass er bis zum nächsten Morgen “noch diese Anfrage bearbeiten” müsse. Wir verabschieden uns höflich und fahren heim.
Einige Tage später verstehen wir, wovon die Assistentin gesprochen hatte: Unser Treffen war am Abend des 20. Juli 2011. 36 Stunden später, am 22. Juli, geht bei dem SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Gerster die Antwort auf eine kleine Anfrage ein, die er der Bundesregierung gestellt hatte. Ihn treiben ähnliche Fragen um wie uns. Unter anderem hatte er gefragt, wie sich die Fördermittel des BMI auf deutsche Sportverbände verteilen.
In der Antwort, erarbeitet von der Sportabteilung, überbracht von Staatssekretär Christoph Bergner, ist auch die komplett ausgefüllte Liste der Mittelverteilung auf alle Verbände enthalten – genau die, von der Böhm uns angeboten hatte, sie in wochenlanger Kleinarbeit zusammentragen zu lassen. Da sie vor der Weiterleitung an das Parlament noch über den Schreibtisch des BMI-Staatssekretärs Bergner ging, dürfte sie bereits am Morgen nach unserem Gespräch beim BMI fertig gewesen sein. Wir fühlen uns belogen.Auf der anderen Seite gewinnt das Thema dadurch für uns an Gewicht – aus einer Routineanfrage, mit der wir Hintergründe ausleuchten wollten, wird jetzt eine Geschichte mit Spannungsbogen.
Noch 352 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Gerhard Böhm hatte uns bei unserem Gespräch in Bonn versprochen, er werde sich beim DOSB dafür einsetzen, dass wir zumindest die begehrten Zielvereinbarungen einschließlich der Medaillenvorgaben bekommen. Da diese Dokumente über Jahre mit allen Mitteln selbst vor dem Parlament geheim gehalten wurden, ahnen wir, wie groß die Angst ist, die Böhm vor unserem Antrag nach dem IFG haben muss.
Das bestärkt uns darin, den Antrag aufrecht zu erhalten. Dennoch treffen wir uns am 26. August 2011 mit Michael Vesper, dem Generaldirektor des DOSB, mit seinem damaligen Leistungssportdirektor Ulf Tippelt sowie Pressesprecher Michael Schirp im Frankfurter Büro von Vesper.
Der DOSB-Generaldirektor hat seinen kleinen Sohn mitgebracht, der während des Gesprächs im Büro malt und immer wieder die Aufmerksamkeit des Vaters fordert. Taktik? Leute, die Vesper kennen, trauen ihm das zu. Vesper spielt seine Routine als Politiker aus, versucht es auf die verständnisvolle und freundliche Art, wird persönlich und schiebt letztlich drei von 33 Zielvereinbarungen über den Tisch; ohne konkrete Inhalte, komplett anonymisiert, Schemata.
Für uns ist das inakzeptabel, wir halten an unserem Antrag auf Akteneinsicht nach dem IFG fest. Auf ein eigentlich geplantes Stück über Vesper und die Zielvereinbarungen im Deutschlandfunk verzichten wir. Wir wollen unsere Rolle als unwissende, ungefährliche Studenten noch ein wenig ausreizen. Wir schreiben eine Mail an Vesper, Tippelt, Schirp und Pressesprecher Christian Klaue: “Ich wollte Ihnen nur kurz Bescheid geben, dass aus unserem Gespräch am Freitag leider vorerst kein Beitrag für den Deutschlandfunk entstehen wird. Ich kann Ihr Ansinnen nachvollziehen, dass die Gespräche vertraulich sein sollen und werde eine Berichterstattung vorerst zurückstellen. [...] Danke nochmal, dass Sie sich am Freitag die Zeit genommen haben, um mir die Zusammenhänge und Strukturen zu erläutern.”
Noch 283 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Um den Aufwand für uns und das Ministerium einzugrenzen, haben wir am 2. August 2011 einen bis dato nicht existierenden Aktenplan der Sportabteilung beantragt. Allein für diese Auskunft, die als Grundlage einer zielgenauen Aktenabfrage dienen und den bürokratischen Aufwand minimieren soll, hält uns das Ministerium drei Monate lang hin – drei Mal so lang wie die gesetzliche Frist.
Erst am 3. November 2011, fast ein halbes Jahr nach unserem Antrag, können wir mit der Auswahl der spannendsten Akten zur Sportförderung beginnen. Am 21. November 2011 beantragen wir eine erste Auswahl von Dokumenten. Darunter die Zuwendungen an die Olympiastützpunkte, Akten zu den korruptionsverdächtigen oder anderweitig auffälligen Verbänden im Radsport, Triathlon, Turnen, Volleyball, dazu die großen Verbände Leichtathletik und Schwimmen sowie ein paar Einzelakten zu in Deutschland ausgerichteten Großveranstaltungen wie der Ski- oder der Triathlon-WM.
Noch 173 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Im Dezember 2011 und Januar 2012 folgen Briefwechsel und zahllose Telefonate mit der Rechts- und der Presseabteilung des Ministeriums. Immer wieder achten wir darauf, die vierwöchige Frist für die Bearbeitung von Anträgen nach dem Informationsfreiheitsgesetz einzuhalten, das Ministerium schickt uns regelmäßig Zwischenbescheide, in denen es uns immer weiter vertröstet. IFG-Experten erklären uns, dass die Rechtsprechung zu den Fristen und Kosten beim IFG noch nicht ausgereift ist, so dass wir kaum etwas gegen die Verzögerung tun können.
Am 21. Februar 2012 bekommen wir erste Aktenbescheide des Ministeriums – und die erste große Rechnung. Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz dürfen maximal 500 Euro plus Auslagen kosten. Das Ministerium hat unseren Antrag aber auf insgesamt 68 Bescheide aufgeteilt. Für die ersten elf dieser 68 Anträge stellt uns das Ministerium am 21. Februar 4689,50 Euro in Rechnung.
Das Recherchestipendium, das wir im Herbst 2011 von der Otto-Brenner-Stiftung bekommen hatten, ist damit bereits aufgebraucht. Wir teilen dem Ministerium mit, dass wir gegen die hohen Kosten juristisch vorgehen werden. Der DJV unterstützt uns: Er übernimmt die Kosten für den Anwalt Wilhelm Mecklenburg, der auf das IFG spezialisiert ist. Der Journalistenverband sieht eine Chance, Rechtsklarheit für weitere Anträge anderer Journalisten zu erreichen.
Wir schreiben dem Ministerium: “Die von Ihnen erhobenen Gebühren sind nach unserer Auffassung nicht rechtens. In dieser Auffassung wurden wir durch Diskussionen mit unseren Rechtsbeiständen bestärkt. Auch die betroffenen Gewerkschaften stehen in dieser Sache hinter uns und haben uns ihre volle Unterstützung zugesichert.
”Das Ministerium versucht uns über die Kosten mürbe zu machen. Als freie Journalisten ist diese Situation für uns existenzbedrohend. Zudem hat das Ministerium sorgfältig ausgewählt, welche Unterlagen uns zuerst (und oft lückenhaft) zur Verfügung gestellt werden. Zuerst bekommen wir Akten, die kaum Bezug zu den näher rückenden Olympischen Spielen in London haben. Verbände, in denen es in den vergangenen Jahren offensichtliche Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen gegeben hat, werden zurückgestellt. Eine erste Veröffentlichung aus den Akten ist noch immer nicht abzusehen. Zugleich wird klar, dass wir bei diesem Tempo die Zielvereinbarungen und die Medaillenvorgaben vor Olympia nicht mehr erhalten werden.
Noch 164 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Wir stellen am 29. Februar 2012 einen weiteren Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG), um die Zielvereinbarungen einzusehen. Da wir nicht davon ausgegangen waren, dass das Ministerium so lange für die Akten benötigt, hatten wir diese im ersten Antrag nicht erwähnt. Wir schreiben dem Bundesinnenministerium (BMI): “Wir möchten Sie mit allererster Priorität bitten, uns Einsicht in alle 36 Zielvereinbarungen zu gewähren.” In den Zielvereinbarungen haben DOSB und BMI bereits Anfang 2008 die Medaillenvorgaben für die Olympischen Spiele in London festgelegt. In den Dokumenten steht auch, welche Projekte helfen sollen, die Medaillen zu gewinnen, wie viele Trainer dafür angestellt werden, welche Trainingslager die Athleten besuchen sollen.
Parallel recherchieren wir klassisch: Wir arbeiten die Archive auf, lesen Fachliteratur zum Thema, treffen Verbandsfunktionäre, Referenten, ehemalige Mitarbeiter des Deutschen Olympischen Sportbundes, Sportpolitiker, Sportsoziologen, -ökonomen und -philosophen. Wir gelangen über Umwege an erste Medaillenvorgaben, bereiten eine Veröffentlichung vor. Mit dem Ministerium stehen wir weiter in Mail- und Telefonkontakt. Weitere Akten lassen auf sich warten.
Noch 73 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Das Ministerium schickt uns drei weitere Bescheide. Kosten für uns: 856,95 Euro. Bislang haben wir noch nichts veröffentlicht. Bislang haben wir nur Ausgaben, aber keine Einnahmen. Unter den nun freigegebenen Akten sind erneut keine Zielvereinbarungen; es sind Akten zum Tagesgeschäft der Verbände, zum Teil Jahre alt, unter anderem zum Eisschnelllauf.
Unsere klassische Recherche läuft weiter. Wir entwirren ein System des Plansports, in dem Verbände unter Druck gesetzt werden, unrealistisch hohe Medaillenvorgaben zu akzeptieren, um an Fördergeld zu kommen. Das Bild des Deutschen Olympischen Sportbund wird schärfer: Er nutzt seine Mittlerposition zwischen Ministerium und Verbänden aus, um die eigene Macht zu vergrößern. Unsere Anfrage ist bereits Thema im Sportausschuss, Sportpolitiker wenden sich an uns und wollen Informationen zu unserem Vorgehen. Über unsere Quellen erfahren wir auch, dass der DOSB die Verbände in Frankfurt versammelt hat, um ihnen den Mund zu verbieten. Es gebe da zwei Journalisten, die an die Zielvereinbarungen rankommen wollten. Denen dürfe man nicht helfen.
Noch 53 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Bis zum Beginn der Olympischen Spiele sind es nur noch gut fünf Wochen und wir sind uns mittlerweile sicher, dass unser IFG-Antrag wertlos ist, dass wir die Zielvereinbarungen vor den Spielen nicht mehr bekommen werden, zumal das Ministerium immer noch an den Akten zur normalen Verbandsarbeit arbeitet. Mit den Zielvereinbarung haben die Beamten unseres Wissens nach noch nicht einmal angefangen.
Rechtlich gibt es keine Möglichkeit, die Bearbeitung nach dem Informationsfreiheitsgesetz zu beschleunigen, wir können zum Beispiel keine einstweilige Anordnung beantragen, kein Eilverfahren. Genau das geht aber im Presserecht. Wir beschließen deshalb, parallel ein zweites Pferd zu satteln: Das Landespressegesetz Berlin soll uns helfen, an die wichtigsten Informationen zu kommen. Wir wollen wenigstens einen symbolischen Erfolg: Wenn wir schon keinen Einblick in die Zielvereinbarungs-Dokumente bekommen, dann wollen wir zumindest die konkreten Zahlen, die Medaillenvorgaben, die in diesen Zielvereinbarungen stehen.
Wir wissen aus unseren Recherchen, dass die Vorgaben an die Verbände überhöht sind. Da man mit dem Presserecht nur konkrete Tatsachen abfragen kann, fragen wir für jeden Verband einzeln ab, wie viele Goldmedaillen der Verband gewinnen muss, wie viele Silbermedaillen, wie viele Bronzemedaillen – es ist eine monotone Liste aus 120 immer gleichen Fragen. Das Ministerium antwortet nicht. Wir bohren nach, setzen Fristen und wappnen uns zugleich für eine eventuelle Klage vor dem Verwaltungsgericht.
Noch 37 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Wir verklagen das Bundesministerium des Innern. Das Ministerium hatte auf unsere Fragen nicht geantwortet, alle Fristen immer wieder verstreichen lassen. Als der zuständige Pressesprecher am 6. Juli 2012 schreibt, das Ministerium halte endgültig daran fest, uns keine Informationen zu übermitteln, faxen wir unsere vorbereitete Klage umgehend an das Verwaltungsgericht Berlin: “Hiermit beantragt der Antragsteller auf Grundlage des Landespressegesetzes Berlin, die Antragsgegnerin im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, folgende Informationen aus den beim BMI vorliegenden Zielvereinbarungen mit den einzelnen Sportverbänden mitzuteilen.”
Unsere Begründung: “In drei Wochen, am 25. Juli 2012, beginnen die Olympischen Spiele. Dort müssen die Verbände unter Beweis stellen, ob sie die Zielvereinbarungen erfüllen und damit, ob sie die gut 46 Millionen Euro tatsächlich effektiv eingesetzt haben. Für eine wahrheitsgetreue Berichterstattung zur deutschen Spitzensportförderung im Sinne der journalistischen Sorgfaltspflicht und um die deutsche Spitzensportförderung nach Landespressegesetz Berlin überprüfen zu können, ist es vor den Olympischen Spielen nötig, die Zahl der von den einzelnen Verbänden erwarteten Medaillen zu kennen. Nur so lässt sich die Fördersumme und die Effektivität der Förderung vollständig bewerten. Die Presse hat den durch das Grundgesetz garantierten Auftrag über die Verwendung von Steuermitteln zu recherchieren und darüber zu berichten.
”Klagen an Verwaltungsgerichten dauern häufige mehrere Monate. Wir begründen deshalb unsere Klage und die Eilbedürftigkeit auf insgesamt zwölf Seiten detailliert. Das Innenministerium und der Deutsche Olympische Sportbund hatten im Vorfeld immer wieder auf angebliche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse verwiesen. Wir begründen, warum dieser Ausnahmegrund hier nicht greift – und schicken die Aktenpläne des Ministeriums sowie die wichtigsten Zahlen zur Verbandsförderung mit, außerdem den Mailverkehr mit der Pressestelle des BMI. Das Fax hat mehr als 50 Seiten.
Am nächsten Tag telefonieren wir mit dem Richter. Der ist von der Eilbedürftigkeit zunächst nicht überzeugt und gibt dem Innenministerium eine ganze Woche Zeit, um einen Schriftsatz einzureichen. Das Innenministerium nimmt am 12. Juli 2012 Stellung: Es könne die Medaillenvorgaben nicht herausgeben, weil es nicht daran beteiligt sei. Die Vereinbarungen bestünden zwischen den Fachverbänden und dem DOSB als Dachorganisation. Auch seien Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse betroffen und überhaupt sei eine Eilbedürftigkeit nicht gegeben, wir könnten auch nach den Olympischen Spielen noch über die Medaillenvorgaben berichten.
Wir reagieren, faxen noch am selben Tag eine dreiseitige Zusatz-Begründung an den zuständigen Richter. Wir erklären, dass das Ministerium auf Grundlage der Vorgaben Steuergeld in Millionenhöhe verteilt und warum es so wichtig ist, dass eine Diskussion über die deutsche Sportförderung während der Olympischen Spiele stattfinden kann – und nicht im Herbst oder Winter, wenn sie niemanden mehr interessiert. Einen Tag später beschließt das Gericht, auch den Deutschen Olympischen Sportbund beizuladen und gibt diesem wiederum eine Woche Zeit, um Stellung nehmen.
Wir haben die Hoffnung aufgegeben, noch vor den Spielen durch die Anträge auf Akteneinsicht von den Vorgaben zu erfahren, werfen unsere Pläne für datenjournalistische Animationen und das Konzept für eine eigene Medaillenzähler-Webseite über Bord und beginnen, unsere klassisch recherchierte Geschichte aufzuschreiben.
Noch 19 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Wir veröffentlichen in den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe unsere Geschichte zur Sportförderung in Deutschland: “Das System Plansport – Millionen für Medaillen”. Online hat die Story fast 20.000 Zeichen. Wir können anhand des klassisch recherchierten Materials eine “verborgene Wirklichkeit der deutschen Sportförderung zur Produktion von Medaillen im Vier-Jahres-Takt” beschreiben, die an die Zeit des Kalten Krieges erinnert.
“Deutsche Funktionäre und Beamte versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Details dieser Planwirtschaft aufgeklärt werden. Zahlen und Daten werden unter Verschluss genommen, Auskünfte selbst vor Gericht verweigert. Diese Recherchen offenbaren die wahre Dimension des Medaillenwahns in der öffentlichen Sportförderung.”
Immer noch haben wir keine Dokumente. Im Rechercheblog der WAZ erklären wir am selben Tag, warum wir das Ministerium verklagen. Die drei Tage später stattfindende Eröffnungsfeier der Spiele scheint die Ziellinie des Ministeriums zu sein, über die es sich retten will.
Zugleich setzen wir weitere Schriftsätze für das Gericht auf. Auch der DOSB hat inzwischen begründet, warum er die Medaillenvorgaben nicht veröffentlichen möchte. Seine Begründung ist fast wortgleich mit der des Ministeriums. Hauptargument sind die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Warum aus der reinen Bekanntgabe der erwarteten Medaillen wirtschaftliche Nachteile für die gemeinnützigen Sportverbände entstehen sollen, leuchtet uns nicht ein. Wir schreiben erneut eine Erwiderung.
Noch 16 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
In den Blogs der Investigativteams von WAZ und stern enthüllen wir die Medaillenvorgaben, die allein der deutsche Leichtathletikverband aufgebürdet bekam. Die Messlatte für die deutschen Leichtathleten liegt hoch: Acht Medaillen sollen sie gewinnen, davon zwei goldene, viertbeste Leichtathletik-Nation sollen sie werden.
Noch 15 Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Die Spiele beginnen mit der großen Eröffnungsfeier, die Medaillenvorgaben für die 392 deutschen Sportler sind nicht öffentlich. Noch zwölf Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele.Die Spiele laufen seit vier Tagen. Das Verwaltungsgericht Berlin entscheidet für uns.
“ Der Antragsteller hat hier nachvollziehbar ein besonderes Interesse der Öffentlichkeit an den erstrebten Informationen zu den in Rede stehenden Zielvereinbarungen dargelegt. [...] Im Übrigen hat auch weder der Antragsgegner noch der Beigeladene [der DOSB, Anmerkung WAZ] nachvollziehbar dargelegt, wie der Beigeladene oder die genannten Verbände allein durch die Offenlegung besagter Ziele einen Wettbewerbsnachteil erleiden soll. [...] Da es dem Antragsteller hier darum geht, vor dem Hintergrund eines aktuelle Ereignisses, nämlich der gegenwärtig stattfinden Olympischen (Sommer)Spiele zu berichten, benötigt er die begehrten Auskünfte jetzt und nicht zu einem ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft.”
Innenminister Hans-Peter Friedrich hat uns die Medaillenvorgaben also so schnell wie möglich zu nennen. Denken wir. Juristisch wird es jetzt aber noch einmal kompliziert. Wir verklagen das Bundesinnenministerium ohne Anwalt, schreiben alle Schriftsätze selbst und lesen uns seit Wochen in die Gesetzestexte ein. Für den Beschluss des Verwaltungsgerichtes unterhalten wir uns mit juristisch erfahrenen Kollegen und Freunden, denn er hat seine Tücken. Zwar macht das Gericht klar, dass die Auskünfte jetzt erteilt werden müssen, es lässt jedoch gleichzeitig eine Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht zu. Wir fordern das BMI per Mail auf, uns die Informationen umgehend zu schicken.
Noch zehn Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Die Spiele sind eine Woche alt. Innenminister Hans-Peter Friedrich ist in London. Das Urteil des Verwaltungsgerichtes hat sich unter den Journalisten vor Ort herumgesprochen. Auf der Pressekonferenz des DOSB wird Friedrich gefragt, warum er die Zielvereinbarungen jetzt nicht veröffentlicht. Friedrich sagt, “es gibt eben auch Dinge in den täglichen Absprachen, die man nicht an die große Glocke hängen muss. Wir versuchen da einen vernünftigen Weg zu gehen.” Quasi zeitgleich schreibt uns das Ministerium aus Berlin, dass eine Beschwerde gegen die Entscheidung möglich sei. “Die Frist für die Einlegung der Beschwerde endet zwei Wochen nach Zustellung des Beschlusses.” Damit ist für uns klar, dass das Ministerium das Ende der Spiele aussitzen will.
Wir beginnen, öffentlichen Druck aufzubauen. Wir geben Interviews in verschiedenen Medien, Sportpolitiker, der DJV und das netzwerk recherche unterstützen uns mit Presseerklärungen. Der sportpolitische Sprecher der SPD, Martin Gerster, nennt Friedrichs Vorgehen „ein Politikverständnis des letzten Jahrhunderts“, auch Grüne und Linke äußern sich kritisch. Selbst der Sportsprecher von Regierungskoalitions-Partner FDP, Lutz Knopek, veröffentlicht eine Presseerklärung: Der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit hätten „ein Recht auf die Offenlegung der Zielvereinbarungen“. Der DJV nimmt Friedrichs Vorgehen „mit Unverständnis und Kopfschütteln zur Kenntnis“.
Gleichzeitig berichten wir inhaltlich. Immer mehr Medaillenvorgaben werden durch unsere Rercherchen und die der Kollegen öffentlich, uns erreichen Informationen über den anonymen Briefkasten des WAZ-Rechercheressorts. In dieser Phase erscheint fast jeden Tag ein Beitrag im Rechercheblog der WAZ, wir veröffentlichen auch im Deutschlandfunk (Planspiel Olympia), auf stern.de, in der FAZ, und stehen Kollegen zur Verfügung, die versuchen, sich in das Thema einzuarbeiten. Das NDR-Magazin Zapp berichtet über unseren Fall und konfrontiert einen stammelnden Minister Friedrich.
Noch acht Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele – Halbzeit bei Olympia
Wir lassen uns von einer befreundeten Juristin beraten, die Androhung eines Zwangsgeldes zu beantragen. Wir formulieren einen dreiseitigen Antrag, den wir am Nachmittag des 4. August an das Verwaltungsgericht Berlin faxen. Das Gericht soll Friedrich ein Zwangsgeld von 10.000 Euro androhen für den Fall, dass er bis zum 7. August 2012 um 12 Uhr die Fragen zu den Medaillenvorgaben nicht beantwortet.
Unsere Begründung: “Wir entnehmen Ihrem Urteil jedoch, dass zwar eine Beschwerdemöglichkeit vorgesehen ist, diese aber nichts an der Eilbedürftigkeit des Informationsanspruchs ändert, so dass letzterem unabhängig von der Wahrnehmung der Möglichkeit einer Beschwerde nachzukommen ist. Das Recht auf Beschwerde hätte demnach keine aufschiebende Wirkung in Bezug auf den Informationsanspruch.”
Noch sechs Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Am 6. August 2012 gibt Friedrich dem Tagesspiegel ein Interview, in dem er in Frage stellt, dass an den von uns angefragten Informationen ein öffentliches Interesse bestehe. Er behauptet: “Der Bund darf keine Informationen herausgeben, die Rechte und Interessen Dritter, hier des DOSB und der Verbände, beeinträchtigen. Das könnte den Steuerzahler teuer zu stehen kommen.” Wir befragen Verwaltungsrechtler dazu, die diese Aussage eine “haltlose Schutzbehauptung” nennen. Einen Tag später zitiert das ZDF Ingo Weiß, Präsidiumsmitglied des DOSB. “Das Urteil ist da und aus meiner Sicht auch umsetzbar. Und das BMI wird die Unterlagen auch zur Verfügung stellen.” Der öffentliche Druck wird größer, aber das Gericht hat sich bislang nicht gemeldet.
Noch vier Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Der Innenminister holt sich juristische Verstärkung: Während wir eine befreundete Juristin um ihren Rat bitten, sichert sich Friedrich die Dienste der Promi-Kanzlei Redeker Sellner Dahs, die auch Ex-Bundespräsident Christian Wulff gegen die Medien vertreten hatte. Reder Sellner Dahs reicht am 8. August 2012 gleich mehrere Schriftsätze ein. Auf mehr als 20 Seiten beantragen die Anwälte, das Verfahren im Hauptverfahren am Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg weiterzuführen und sie beantragen, die Androhung der Zwangsvollstreckung abzuweisen. An diesem Tag scheint für uns klar: Wir werden die Vorgaben während der Spiele nicht mehr bekommen.
Noch drei Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Wir rufen das Verwaltungsgericht an und erkundigen uns nach der Androhung des Zwangsgeldes. Die Antwort: “Ach, sie wissen das noch gar nicht? Die Androhung ist beschlossen, für morgen 15 Uhr.” Wenig später ist der Beschluss da. Tatsächlich: “Der Antragsgegnerin wird für den Fall, dass sie der einstweiligen Anordnung [...] nicht spätestens bis zum 10. August 2012, 15.00 Uhr, nachkommt, die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 10.000 Euro angedroht.”
Wir veröffentlichen sofort, informieren Kollegen, machen neuen, öffentlichen Druck. Auch das ZDF-Morgenmagazin ist informiert. Es hat den Minister am Freitagmorgen im Interview und will ihn zu den Medaillenvorgaben befragen. Wir lassen den Kollegen eine Übersicht unserer Informationen zukommen und erklären, warum wir die Argumente des Ministers für juristisch falsch halten.
Noch zwei Tage bis zur Schlussfeier der Olympischen Spiele
Es ist Freitagmorgen, der letzte Werktag vor Ablauf der Spiele, und die Frist des Ministeriums läuft um 15 Uhr ab. Wenn wir die Vorgaben heute nicht bekommen, sind die Olympischen Spiele vorbei. Morgens wird Friedrich von Dunya Hajali per Schalte im Morgenmagazin befragt. Friedrich sagt, er werde gegen die Androhung des Zwangsgeldes Beschwerde einlegen. Wenig später gibt Friedrich in Berlin eine Pressekonferenz zur Terrorbekämpfung. Auch dort wird er auf die Medaillenvorgaben angesprochen. Ein Kollege berichtet uns per SMS: “Friedrich sagt, er wird auf keinen Fall die 10.000 Euro zahlen.” Erst später erfahren wir, dass die Rechtsanwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs um 9:29 Uhr per Fax Beschwerde gegen die Androhung des Zwangsgeldes eingelegt hat.
Um 12 Uhr schreiben wir im Rechercheblog noch einmal ausführlich über den aktuellen Stand. Um 13 Uhr, zwei Stunden vor Ablauf der Frist, rufen wir beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg an, und erfahren von der Beschwerde gegen das Zwangsgeld durch Redeker Sellner Dahs. Wir gehen jetzt endgültig davon aus, dass wir die Medaillenziele nicht mehr vor dem Ende der Olympischen Spiele bekommen werden, weil die Beschwerde gegen die Androhung eines Zwangsgeldes im Normalfall aufschiebende Wirkung hat. Wir schreiben im WAZ-Rechercheblog darüber: “Innenminister Hans-Peter Friedrich hat es mit Hilfe seiner Anwälte geschafft, dass die Medaillenvorgaben der deutschen Sportverbände nicht während der Olympischen Spiele veröffentlicht werden.”
14:43 Uhr. Das Ministerium schickt uns die gewünschten Zahlen, ohne Vorankündigung, 17 Minuten vor Ablauf der Frist, im Anhang einer Mail. “Die Auskünfte ergeben sich aus der beigefügten Übersicht (Anlage), die aus sich heraus verständlich sein dürfte. Falls Sie noch Nachfragen haben, können Sie sich gern an das zuständige Referat im BMI [...] wenden.”
Wir bloggen und twittern sofort, dass wir die Ziele haben, informieren die Redaktion, beginnen zu schreiben. Nur kurze Zeit später veröffentlicht das Innenministerium eine vorbereitete Presseerklärung mit Zitaten von Innenminister Hans-Peter Friedrich und DOSB-Präsident Thomas Bach. “Kurz vor Abschluss der Olympischen Sommerspiele 2012 sehen wir keine Notwendigkeit mehr, die zwischen den Sportfachverbänden und dem DOSB vereinbarten Medaillenziele vertraulich zu behandeln”, wird Bach zitiert.
Im Anhang der Erklärung: Die Medaillenziele. Das Ministerium hat uns nur wenige Minuten Vorsprung gewährt, jetzt springen alle Medien darauf an – viele von ihnen mit mehr Manpower als wir sie haben. Das Thema ist Aufmacher auf allen Nachrichtenseiten des Landes. Der Kollege einer deutschen Nachrichtenagentur meldet sich telefonisch, um Zitate einzuholen – zunächst aber schimpft er, wir hätten ihm “hier ja ein echtes Scheissthema eingebrockt”, dabei liefen doch noch so viele Sportveranstaltungen.
Am späten Freitagnachmittag veröffentlichen wir zwei Texte online, die am Samstagmorgen auch Aufmacher auf Titelseite und Seite zwei der WAZ werden. Die Veröffentlichung sorgte am Schluss-Wochenende der Spiele und in den Tagen nach den Spielen in allen deutschen Medien für Schlagzeilen – in der Tagesschau genauso wie in der Bild-Zeitung, in der FAZ und der SZ genauso wie bei stern.de oder Spiegel-Online. Es war nun offensichtlich, dass die Medaillenvorgabe niemals erreichbar waren. Damit stand auch die Grundlage der staatlichen Sportförderung in Deutschland wieder zur Diskussion: Mit welchem gesellschaftlichen Wert soll die Förderung von Sport gerechtfertigt werden, wenn Medaillen als Ziel so gestrig erscheinen?
In den folgenden Wochen haben wir unsere Berichterstattung in der WAZ und im WAZ-Rechercheblog fortgesetzt. Weitere Recherchen erschienen in der FAZ ("Dann wandern Sie doch aus", "Der Prämiensalat"), in der ZEIT, im Deutschlandfunk (Kurzer Draht in den Haushaltsausschuss) und bei sport inside ("Medaillen als Maßstab"), der investigativen Sportsendung des WDR. So deckten wir Ende August unter anderem auf, wie das Innenministerium den Rugby-Verband fast in die Insolvenz trieb und belegten dies mit zahlreichen internen Dokumenten.
Nach unserer Enthüllung gerieten DOSB und Ministerium unter Rechtfertigungsdruck. Wissenschaftler, Politiker, Medien und Funktionäre forderten Reformen der Sportförderung und mehr Transparenz. Wir konnten eine Diskussion entfachen, die auch Monate nach den Olympischen Spielen nicht vollständig verstummt ist.
Auch die Sportpolitik und der Sport selbst befassen sich bis heute mit der Frage, wie Sportförderung in Zukunft neu gestaltet werden kann. Die Diskussion könnte mittelfristig zu einer Veränderung der deutschen Sportförderung führen. Auch aufgrund unserer Enthüllungen hatte der Deutsche Olympische Sportbund zwischenzeitlich eine Arbeitsgruppe mit externen Wissenschaftlern eingerichtet, die neue Ideen für die Förderung des deutschen Nachwuchssports sammeln soll.
Verschiedene Verbände, darunter der Leichtathletik-Verband und der Tischtennis-Bund, wagten es nach unserer Veröffentlichung, sich öffentlichkeitswirksam für eine Veränderung der Sportförderung auszusprechen und Konzepte vorzuschlagen – sie fordern, dass die Verteilung der Steuergelder weniger stark auf Medaillenvorgaben fixiert sein solle. In einem halbstündigen Interview mit der ZDF Sportreportage fordert der Hockey-Bundestrainer Markus Weise noch am 9. Dezember, der deutschen Sportförderung eine neue Legitimation zu geben, indem man statt auf Medaillen auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Sports abhebt. Dazu solle man die Breitensportförderung ausbauen anstatt einer „Konzentration auf das kleine Karo Spitzensport“. Weise bedauert, dass er nirgends den so dringend notwendigen Umbau des deutschen Sports sieht, den DOSB-Präsident Thomas Bach nach den Olympischen Spielen angekündigt habe. Auch der Sportausschuss und das Plenum des Bundestages beschäftigten sich nach Olympia mehrfach mit den Ergebnissen unserer Recherche. Bis heute wird in Diskussionen über die Sportförderung auf die Ergebnisse Bezug genommen.
Journalistisch hat unsere Recherche gezeigt, dass das Informationsfreiheitsgesetz noch gestärkt werden muss. Wir hoffen, mit einer Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht in den kommenden Jahren eine Grundsatzentscheidung in der Kostenfrage zu erreichen, die auch anderen (investigativen) Journalisten und Bürgern bei der Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz hilft.
Nach den Olympischen Spielen behaupten der DOSB und das Ministerium, sie hätten die Medaillenvorgaben ohnehin veröffentlicht. Zugleich legen sie jedoch beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschwerde gegen die Veröffentlichung ein – um die Verfahrenskosten auf uns abzuwälzen und einen Präzedenzfall zu verhindern. Diesmal mit gleich zwei Anwaltskanzleien: Redeker Sellner Dahs für das Ministerium und eine Frankfurter Kanzlei für den DOSB. Doch Ende September bestätigt das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichtes. Die Medaillenvorgaben müssen öffentlich bleiben und auch die aktuell zu verhandelnden Vorgaben für die Olympischen Spiele in Rio 2016 müssen veröffentlicht werden.
Die Kosten für unseren Antrag auf Einsicht in die Originalakten nach dem Informationsfreiheitsgesetz sind derweil weiter gestiegen. Mit Hilfe des Deutschen Journalisten Verbandes versuchen wir, dagegen vorzugehen. Eine endgültige Entscheidung wird sich in dieser Auseinandersetzung wohl noch über Jahre ziehen. Insgesamt haben wir 13729,40 Euro an das BMI überwiesen, weitere Akten stehen noch aus, trotz zweier Recherchestipendien (Otto-Brenner-Stiftung, Netzwerk Recherche) und etlicher Veröffentlichungen übersteigen die Kosten unsere Einnahmen bei weitem.
Wir haben die Gebühren zu einem großen Teil aus eigener Tasche bezahlt. Dies tun wir in dem Wissen, dass es sich um ein Musterverfahren handelt. Bislang gibt es keine passende höchstrichterliche Entscheidung zur Berechnung der Kosten für Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz.
Die breite öffentliche Debatte um die Zukunft der Sportförderung findet nun auf Basis von öffentlichen Zahlen und Vorgaben statt. Derzeit werten wir die zur Verfügung gestellten Akten aus und hoffen, nach und nach Geschichten aus diesen Akten zu generieren, um diese dann auch der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Online am: 07.10.2015
Inhalt:
- Medaillenvorgaben als Symbol einer intransparenten Sportförderung
- Wie die Berichte entstanden - ein ausführliches Making-of der Recherchen
Tags:
Olympia | Qualitätskontrolle | Rinderseuche | Sport | staatliche Macht | Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ)
Auszeichnungen:
"Wächterpreis der Tagespresse" 2013