Inge HANNEMANN - eine Whistleblowerin aus Hamburg, die gegen Hartz IV-Saktionen ist

Das Problem

Wenn die Bundesregierung ein Gesetz durchbringen möchte, dessen Annahme nicht gesichert ist, dann verpackt sie es in ein größeres Paket mit anderen Gesetzen. So entstand auch das 1. und 2. „Gesetz für moderne Dienstleistungen“. Alles sollte ganz schnell gehen. Und am 23. Dezember 2002, einen Tag vor „Heiligabend“, wurde es unterzeichnet: vom Minister, Bundeskanzler, Bundespräsidenten. Alles an einem Tag. Am 1.1. 2003 trat es in Kraft. „Omnibus-Verfahren“ nennt man das. Im Paket: „Die Agenda 2010“. Und ganz konkret betraf es die Vorbereitungen für das, was später „Hartz IV“ werden sollte.

Die Rot-Grüne Bundesregierung war unter Druck geraten, weil der Bundesrechnungshof Anfang 2002 festgestellt hatte, dass die Arbeitsämter bei ihren jährlich veröffentlichten Erfolgszahlen zur Stellenvermittlung flächendeckend manipuliert hatten: 70% (in Worten: siebzig Prozent!) aller Zahlen waren gefälscht. Darauf hatte bereits Jahre zuvor ein anderer Whistleblower immer wieder aufmerksam gemacht: Erwin Bixler, Revisor beim Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz. Intern wurde er immer wieder abgebügelt – bis hoch zur Behördenspitze, die heute „BA“ heißt: Bundesagentur für Arbeit. Deren Präsident musste danach abtreten. Erwin Bixler auch. Er galt in seiner Behörde fortan als "Nestbeschmutzer" und wurde gemobbt.

Wer Gesetze auf die Schnelle durchzieht, dem geht es nicht unbedingt um Qualität. Über 60 Änderungen waren bisher fällig. Nicht zuletzt auf Grund der vielen Prozesse vor Gericht, bei denen Arbeitslose oder Hartz IV-Empfänger in den meisten Fällen obsiegen. Zu inkonsistent, zu wenig durchdacht, zu ungerecht sind viele Regelungen, wie die Richter immer wieder konstatieren.

Inge HANNEMANN's Geschichte

Inge Hannemann merkte dies schnell, als sie 2006 nach Hamburg kam: zum Jobcenter team.arbeit.hamburg, konkret zum „Jobcenter für Menschen mit Schwerbehinderung“ in Hamburg-Hamm. Es war das Jahr, als die Bundestagsabgeordneten direkt vor der Sommerpause noch schnell das „Fortentwicklungsgesetz“ durchwinkten – sie wollten rechtzeitig in den Urlaub. Das Gesetz enthielt nicht nur einen dramatischen Fehler, es sollte vor allem die bisherige Sanktionspraxis verschärfen. Jeder Antrag auf Hartz IV sollte auf potenziellen Leistungsmissbrauch hin überprüft werden.  

Hannemann war bisher in Freiburg anderes gewohnt. Dort hatte der Teamleiter die Philosophie ausgegeben, dass der Mensch, der „Kunde“ und dessen Interessen im Mittelpunkt der Arbeit in den Arbeitsagenturen zu stehen haben. Nicht die Zahlen und nicht das Geld. Allerdings: Der Teamleiter wechselt zurück in das Grundsicherungsamt.

Jetzt soll Inge Hannemann in Hamburg anderes praktizieren: verschärfte Sanktionen durchsetzen.  Z.B. beim Versäumen eines Meldetermins. Oder beim Nichtbewerben auf eine vorgeschlagene Arbeitsstelle.

Bis zu 100% darf bzw. soll jetzt sanktioniert werden, d.h. Streichung bis zu 100 % der Leistungen. Weil viele ihrer „Kunden“ krank sind oder depressiv oder einfach nur desillusioniert und sich nicht mehr aus der Wohnung getrauen, kommt Hannemann zu ihnen, macht Meldetermine vor Ort.

Gleichzeitig stellt sie intern Fragen. Z.B. warum Schwerbehinderte anders behandelt werden sollen wie Nichtschwerbehinderte. Antworten erhält sie nicht.

Ob der Unstimmigkeiten und Widersprüche, der intern vorgegebenen Sanktionsquote, die jeder Mitarbeiter erfüllen soll, erleidet Hannemann einen Burnout. Sie nimmt eine Auszeit, schaut sich Arbeitsämter in London an, jobbt in Nizza, verdient ihren Unterhalt mit Minijobs in sog. prekären Arbeitsverhältnissen. Und lernt die andere Seite kennen, die ihrer „Kunden“.

Als sie im Mai 2011 wieder in Hamburg ihre Arbeit aufnehmen will, versucht man das zu verhindern – mit einem Gutachten wegen „psychischer Instabilität“. Die Gutachterin indes kann dies nicht diagnostizieren. Hannemann muss sich wie eine Externe auf freie Stellen bewerben und jobbt nebenbei als freie Dozentin und freie Journalistin, da ihr kein Gehalt gezahlt wird. Mit Hilfe von ver.di Hamburg besteht sie auf eine Beschäftigung und wird fünf Monate später beim „Jobcenter für Menschen ohne festen Wohnsitz“, dort in der Abteilung „Arbeitgeberservice HoGa“ eingesetzt. Nachdem diese Abteilung aufgelöst wird, muss Hannemann erneut auf Beschäftigung bestehen und wird ins Jobcenter Hamburg-Altona als Arbeitsvermittlerin versetzt, jedoch in Funktion zur Unterstützung Fallmanagement. Dort ist sie für die besonders schwer zu vermittelnden jungen Menschen bis 25 Jahre zuständig.

Sie fängt an zu bloggen (www.altonabloggt.com), veröffentlicht Dokumente und interne Berichte, die ihr zugespielt werden, setzt sich kritisch mit den vielen Ungereimtheiten auseinander, lässt Betroffene zu Wort kommen, gibt Hinweise für „Kunden“, stellt Hintergrund-informationen zur Verfügung. Sehr zum Missfallen der „BA“. Als sie merkt, dass ihr Blog auf Unverständnis stößt, fordert sie ihren Arbeitgeber auf, ihre Aktivitäten rechtlich zu überprüfen. Widerrechtliches erkennen mag man nicht – in Deutschland herrscht Meinungsfreiheit. Im Februar 2013 schreibt sie deshalb einen ‚Offenen Brief‘ an die BA, fragt, warum sie keine Antworten erhält, wo sie doch auf „Missstände“ aufmerksam machen wolle.

Dass es diese gibt, wird kurz darauf der Bundesrechnungshof (BRH) konstatieren, wenn er mehrfach von „Manipulationen“ der Statistiken spricht: Die BA würde sich auf jene „Kunden“ konzentrieren, die sowieso einen Arbeitsplatz bekämen. Alle anderen fielen unter den Tisch. „Creaming“ nennen Wissenschaftler das. „Zielführend“ sei das alles nicht, so der BRH.

Jetzt werden die Medien auf die „Hartz IV-Rebellin“ aufmerksam. Und das Thema ist in aller Öffentlichkeit. Die BA reagiert auf ihre Weise: Hannemann wird nicht gekündigt. Sie wird vom Dienst freigestellt, darf nicht mehr an ihren Arbeitsplatz. Sie klagt, schreibt an die Bundesarbeitsministerin Ursula von der LEYEN, von der sie keine Antwort bekommt, verliert den Prozess und wird dienstlich umgesetzt: ins Integrationsamt.

Jetzt wird sie richtig politisch, lässt sich bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg für die Fraktion DIE LINKE ins Parlament wählen.

Als das Sozialgericht in Gotha (Thüringen) die Sanktionen in Form von finanziellen Kürzungen einer ohnehin geringen monetären Leistung als gegen die Verfassung verstoßend deklariert (Az: S 15 AS 5157/14), fasst sie wieder Mut, gründet die Initiative www.sanktionsfrei.de. Die Idee. möglichst viele Hartz IV-Empfänger dazu bewegen, gegen ihre Entscheide zu klagen. Das Hartz IV-Regulatorium ist ohnehin so schlecht gearbeitet, dass fast die Hälfte aller Klagen immer zugunsten der Hartz IV-Empfänger ausgehen.

Die Bilanz

Folgen für die Gesellschaft:

Viele Hartz IV-Betroffene, die am Rand unserer Wohlstandsgesellschaft leben (müssen), konnten bisher durch Inge HANNEMANN's Inititativen und Aktivitäten wieder etwas Mut fassen. Wie es solchen Menschen wirklich geht, weshalb sie depressiv und/oder krank werden und jede Hoffung auf eine Perspektive verloren haben, ist für die Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag offenbar nicht nachvollziehbar - sie haben längst den Kontakt zu Menschen ganz unten verloren. Zu sehen auch an den Wahlergebnissen, von denen ausgerechnet eine Partei profitiert, die eine ganz andere Agenda verfolgt und die sich genauso wenig um die am Rande lebenden Menschen kümmert. Aber zumindest in den Sozialgerichten scheint sich mehr Sensibilität für diese Probleme durchgesetzt zu haben.

Wie wenig effizient der gesamte Jobcenter-Apparat (früher: Arbeitsämter) arbeitet, darauf macht immer wieder der Bundesrechnungshof aufmerksam. Zuletzt im August 2019: "Rüge vom Bundesrechnungshof", wie die Süddeutsche Zeitung titelt. Verbessern tut sich in diesem gigantischen Bürokratenapparat wenig.

Folgen für die Whistleblowerin:

Der stetige Einsatz für andere und der aufreibende Kampf um die eigene Existenz haben Spuren hinterlassen. Inge HANNEMANN wird krank, kann sich nicht mehr mit dem früheren Elan für andere engagieren. Aber sie bleibt für die Medien eine wichtige Informations- und Kontaktquelle und betreibt weiterhin ihre beiden Blogs:


Hinweis:

Diesen Text können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Hannemann. Die ausführliche Version ihrer Geschichte gibt es unter www.ansTageslicht.de/Inge-Hannemann.

Die damit im Zusammenhang stehende Vorgeschichte, wie es zu den Hartz IV-Gesetzen kam bzw. wie die  Arbeitsämter (heute: Job-Center) schon damals ihre Statistiken frisierten, ist in Kurzform beschrieben unter www.ansTageslicht.de/Bixler.

(JL)

 

Online am: 29.01.2019
Aktualisiert am: 24.08.2019


Inhalt:

Inge HANNEMANN - eine Whistleblowerin, die gegen Hartz IV-Sanktionen kämpft


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