Nr. 8: "Underreporting" und Sicherheit im Luftverkehr
50.000 Fälle = ca. 100.000 Wählerstimmen, jedes Jahr: 8 Schreiben an die MdB’s
Wir haben uns in Nr. 4 bis 7 auf das Problem Gutachter fokussiert und immer wieder das Wort „Fälschung“ dokumentiert: aus offiziellem Munde. Da ging es um amtlich anerkannte Berufskrankheiten, bei denen in 75% aller Fälle Anträge von Betroffenen abgelehnt werden – mit Hilfe von Gutachtern.
Jetzt richten wir den Blick auf Gesundheitsschäden, für die es bisher kein amtlich anerkanntes Krankheits-bild und keine „BK-Nummer“ gibt. Es betrifft Piloten, Flugbegleiter, aber auch Vielflieger.
Es geht um das Problem der potenziell kontaminierten Kabinenluft in Flugzeugen: nicht oft, aber regelmäßig durch sog. Fume Events kontaminiert. Und das geschieht so:
Die Schaufeln einer Turbine drehen sich in 1 Minute etwa 16.000 Male. Da wird es heiß – bis zu 450 Grad Celsius und naturbelassenes Turbinenöl würde sofort verdampfen. Daher synthetische Öle, die mit diversen Additiven versetzt sind: Organophosphate (z.B. Trikresylphosphat) u.a.m. Das meiste davon toxisch. Solange die Dichtungen im Triebwerk funktionieren, gelangt die über die Turbine abgezapfte Frischluft ohne Schadstoffe in die Kabine und ins Cockpit. Lecken die Dichtungen – wegen längst überfälliger Wartung oder ist der Gegenluftstrom bei Labyrinthdichtungen zu schwach – dann tritt Öl aus und verbrennt. Bei dieser Pyrolyse entstehen weitere Substanzen, die ins Flugzeug gelangen. Die EASA hat 127 gemessen: z.B. Tributyhlphosphate oder sog. VOCs, ebenfalls giftig. Andere Wissenschaftler haben rund 300 entdeckt.
Egal wie: Ein solcher Vorfall kann vergleichsweise ‚mild‘, aber auch drastisch ausfallen. Es gab bisher mehrere Situationen, in denen es fast zum Desaster gekommen wäre, wenn – im schlechtesten Fall – beide Piloten auf der Stelle „incapacitated“ werden, so der Fachbegriff: lahmgelegt, handlungsunfähig. Wollen Sie in einer solchen Maschine sitzen? Schauen Sie mal rein in www.anstageslicht.de/Germanwings!
Die langfristigen Gesundheitsschäden beim Personal, für die das Flugzeug der Arbeitsplatz ist, sind mehr oder weniger gleich: Schädigungen des Nervensystems, der Gehirn- und Gedächtnisleistung sowie Lunge und Herz. Die meisten werden dadurch fluguntüchtig. Konkret: arbeitsunfähig. Für den Rest des Lebens.
Die zuständige Berufsgenossenschaft Verkehr (BGV) erkennt das nur als „Arbeitsunfall“ an, zahlt für eine begrenzte Zeit und dann ist Schluss. Für die BGV. Aber vor allem für die Betroffenen: Absturz ins Ungewisse.
Fliegen gilt als sicher. Ist es auch. In den allermeisten Fällen und Ausnahmen bestätigen die Regel, selbst wenn gleich 2 Male hintereinander eine Boeing 737 „Max 8“ vom Himmel stürzt. Aber die Sicherheit ist entstanden, weil man das Prinzip ‚Lernen aus Fehlern und Pannen‘ praktiziert. Für „Fume Events“ gilt das nicht, und die Bezeichnung ist wenig treffend, denn die toxischen Substanzen sieht man nicht.
Es gibt unterschiedliche Zahlen zur Häufigkeit. Das British Committee on Toxicity hat 1 Vorfall auf 2.000 Flüge ermittelt. Eine Zahl, die auch die Lufthansa konzediert. Bei der BGV gingen 2019 – vor Corona – 524 Meldungen über Fume Events bzw. „Arbeitsunfälle“ ein. Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) hat nur 133 in ihrer Statistik. Das Luftfahrt-Bundesamt 66. Und die EASA Null. „Fälschungen“ der Statistik? Oder einfach nur „underreporting“, wie das im Medizinischen heißt? Um das Problem für das fliegende Personal oder die Vielflieger klein zu reden oder klein zu rechnen? Und das potenzielle Problem für die Sicherheit im Luftverkehr außen vor zu halten? „Underreporting“ und Flugsicherheit – ein Sicherheitsparadox?
Umgerechnet allein auf die Lufthansa-Flüge 2019 wären es 588 Vorfälle gewesen (ohne TUI und Condor). Ein Teil davon hätte in einer Katastrophe enden können.
Diesen Text können Sie auch online aufrufen unter www.anstageslicht.de/fumeevent. Den Text auf 1 DIN A 4-Seite gibt es hier als PDF. Ausführlich haben wir alles rekonstruiert und dokumentiert unter www.anstageslicht.de/underreporting. Die ganze Serie findet sich unter www.anstageslicht.de/MdB.
Was beim Fliegen in 10 Km Höhe alles anders ist, haben wir beschrieben unter www.ansTageslicht.de/ueberdenwolken.
(JL)
Online am: 23.07.2021
Aktualisiert am: 19.09.2021
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Die Aktion Bundestagswahl 2021 + das unendliche Problem Berufskrankheiten
ist beschrieben unter www.ansTageslicht.de/MdB. Jede Woche stellen wir den Abgeordneten der relevanten Ausschüsse entweder ein Schicksal eines Betroffenen und/oder einen ungelösten Aspekt dieses Problems vor. Bisher sind online gegangen:
- Nr. 1: das erste Schreiben
- Nr. 2: TUIfly-Pilot, der nicht mehr fliegen kann
- Nr. 3: Arbeitsunfall bei VW
- Nr. 4: Harnblasenkrebs und Prof. DREXLER
- Nr. 5: Prof. LETZEL: Gefälligkeitsgutachten?
- Nr. 6: Prof. TRIEBIG - "Fälscher" vom Dienst?
- Nr. 7: System TRIEBIG: Arbeitsministerium und Justiz als Rückgrat
- Nr. 8: "underreporting" - "Fälschung" der Statistiken?
- Nr. 9: Die "Lehrmeinung" der Berufsgenossenschaft zu "Fume Event": "Gerüche"
- Nr. 10: Fume Event vor Gutachter Prof. DREXLER und Nürnberger Justiz
- Nr. 11: "Parität" - eine Schimäre
- Nr. 12: Arbeitsministerium + § 200: Irreführung?
- Nr. 13: Arbeitsschutz, der dem Sozialgeheimnis unterliegt
- Nr. 14: Berufsgenossenschaft und Sozialgericht Dortmund
- Nr. 15: "Gesundheit ist wichtiger als Umsatz": Bernd HIMMELREICH versus VW
- Nr. 16: letztes Schreiben an die MdB vor der Bundestagswahl
Die "Reform", über die die Große Koalition im Mai 2020 abgestimmt hat, ändert so gut wie nichts an dem Problem. Das liegt auch daran, dass sich die MdB's nicht die Mühe gemacht haben, Betroffene oder unabhängige Wissenschaftler anzuhören.