Die Erfindung der Pfandflasche. Oder: Wie Ignatz NACHER aus einer Mini-Brauerei einen Großkonzern namens Engelhardt-Brauerei macht

Dies ist die Entstehungsgeschichte der Engelhardt-Brauerei, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, und die 1933, als die Nazis und ihre Tausende von Gefolgsleuten die Macht übernahmen, "arisiert" wurde: Jener, der dieses Unternehmen in 25 Jahren zur Blüte gebracht hatte, wurde enteignet. Weil er jüdisch war und das Bier als "Judenbier" bei vielen Deutschen verhasst war.

Die Rekonstruktion des rasanten Aufstiegs der Engelhardt-Brauerei endet im Jahr 1933. Zu diesem Zeitpunkt wurde die ganze Unternehmensgruppe 'verteilt'. Das größte Stück vom 'Kuchen' bekam die Dresdner Bank, die im "Tausenjährigen Reich" zur Hausbank der SS wurde. Den Rest riss sich ein dubioses Konsortium aus München unter die Nägel mit dem SS-Mann Hans RATTENHUBER als Vorhut. Dieser Teil der Engelhardt-Brauerei-Geschichte ist im Kapitel Die brutale Enteigung des Ignatz NACHER beschrieben.

Den Text (Kapitel) hier, den Sie jetzt lesen, können Sie auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Pfandflasche.


Die Vorgeschichte

Ein gewisser Herr ENGELHARDT, dessen Vornamen wir nicht kennen, ist Eigentümer eines Hauses in der Chausseestr. 33, wo heute ein Hotelneubau steht (siehe Foto). Schräg gegenüber: die Zentrale des BND (Bundesnachrichtendienst).

Dass hier so viel neu entstanden ist, hat einen Grund: Bis 1989 war zu Zeiten der DDR der nördliche Teil der Chausseestraße totes Gelände: der riesige Grenzübergang zwischen Ost- und West-Berlin hatte ganze Häuserzeilen und mehrere Strassenzüge blockiert: für die vielen Sperren, Schlagbäume, Schießanlagen, Militärposten und Grenzkontrollhäuschen.

Nochmals (viel) früher, im 19. Jahrhundert, war die gesamte Gegend als „Berlin-Feuerland“ bekannt, weil hier die Schlote vieler kleiner Handwerksbetriebe und größerer Fabriken inmitten riesiger Mietwohnhausanlagen den ganzen Tag lang rauchten. So wie die Borsig’sche Maschinenbauanstalt zu Berlin, die einige Meter weiter südlich die Luft verpestete.

Wer mehr über jene Zeit und das Miljeu wissen will, dem sei das Buch „Berlin Feuerland: Roman eines Aufstands“ von Titus MÜLLER empfohlen oder auch eine historische Tour, die man über www.berlin-feuerland.de buchen kann.

Jedenfalls ist im 19. Jahrhundert das Braurecht an den Besitz eines Grundstücks gebunden, und so lässt Hr. ENGELHARDT, der ein"Eisen-, Oesen u. Kurzwarengeschäft" betreibt, in den 60er Jahren, als die Industrialisierung in vollem Gange war, und in akademischen Kreisen über Bücher wie das „Kapital“ von Karl MARX gestritten wurde, auf seinem Grundstück Chausseestrasse ein kleines Brauereigebäude errichten, in dem einer seiner Bekannten, ein Brauer, der auf der Suche nach geeigneten Räumen ist, hier eine kleine Mini-Brauerei einzurichten gedenkt. Von denen gibt es in Berlin weit über 100 – die Konkurrenz ist groß. Auch wenn die Berliner, insbesondere die unteren Klassen, ausgesprochene Biertrinker sind. Bier ist quasi eine Art von Lebensmittel; es enthält - neben Alkohol - Kohlehydrate, wichtige Vitamine und notwendige Elemente wie Kalium, Magnesium und Kalzium.

Indes, das Geschäft läuft schlecht, der Brauer gibt auf. Der zweite Brauer, den Hr. ENGEHLHARDT überzeugen kann, hält immerhin zehn Jahre durch, will sich aber auf einem eigenen Grundstück selbstständig machen und nimmt seine gesamte Brauausstattung mit. Der neue, dritte Betreiber, beendet seine Aktivitäten bereits kurz vor Ablauf des ersten Geschäftsjahres und Vater ENGELHARDT ist ein wenig ratlos. Bis er auf die Idee kommt, das Bierbrauen von seinem Sohn Ernst ausüben zu lassen. Der bringt der Gärungschemie als ausgebildeter Drogist Interesse entgegen, und um sich das notwendige Know-how anzueignen, schickt ihn Vater ENGELHARDT auf die Brauerschule nach München.

Doch in Bayern ticken die Uhren anders als im preußischen Berlin und so sind auch die Brauereitechniken verschieden, weshalb Vater ENGELHARDT einen ausgewiesenen Berliner Brauer engagiert, der jetzt zusammen mit seinem Sohn 1887 die neue Brauerei aufmacht: „Ernst Engelhardt & Rudolf Frömchen“.

Diesesmal läuft das Geschäft weitaus besser, die Firma muss sich 8 Wagen plus 12 Pferde anschaffen. Und weil es gut läuft, steigt Brauer FRÖMCHEN aus, weil er sich von einer Selbstständigkeit ohne Teilhaber mehr verspricht. Ernst ENGELHARDT ist nun alleine auf sich gestellt, findet aber immer weniger Befriedigung beim Bierbrauen, verliert die Lust und das macht sich schnell an der Qualität des Bieres und damit am Umsatz bemerkbar: Der Absatz sinkt.

Ernst ENGELHARDT verkauft: an Max WASSERZUG, der der Kleiderfabrikationsbranche entstammt, sich aber das Bierbrauen zutraut. Die Brauerei firmiert ab daher 1. März 1897 nun unter „Ernst Engelhardt Nachf.“

Das biologische und technische Problem beim Bierbrauen

Bier wird bekanntlich aus Hopfen und Malz hergestellt, aber das ist nicht alles. Das Bier muss auch "gären". Dabei wird der in der "Würze" enthaltene Zucker zu Alkohol ("Ethanol") und Kohlendioxid (umgangssprachlich: "Kohlensäure") umgewandelt, wobei ein großer Teil als Gas entweicht. Der Rest bleibt unter Druck im Bier gebunden. Das klingt alles recht chemisch, ist es auch, und deswegen bezeichnet man das Bierbrauen auch als "Gärungsgewerbe".

Diese "Gärung" entscheidet mit darüber, welcher Typ von Bier entsteht, und das hängt von den dazugegebenen Hefesorten und deren Behandlung ab, und zwar bei unterschiedlichen Temperaturen.

Beim "obergärigen Bier" vergärt die Hefe bei höheren Temperaturen und die Hefe steigt am Ende der Gärung nach oben. Die sog. Nachgärzeit ist kürzer als beim untergärigen Bier. Typische Sorten sind "Weizenbier", "Altbier", "Kölsch" und "Berliner Weiße".

Beim "untergärigen" Bier, dessen Gärungsprozess bei niedrigeren Temperaturen abläuft, sinkt die Hefe am Ende der Gärung auf den Boden. Dieses Bier bedarf ebenfalls einer "Nachgärung", die aber mehrere Wochen dauert. Dafür ist das Bier länger haltbar, weshalb man auch von Lagerbieren spricht. Diese Sorten von Bier herzustellen ist erheblich aufwendiger und teurer: Man benötigt mehr maschinelle Einrichtungen sowie umfangreiche Kellerei- und Kühlanlagen. Typische Endproduke sind "Pils", "Export", "Märzen" und das "Bockbier".

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde vor allem obergäriges Bier gebraut. Vorteil: vergleichsweise einfach herzustellen. Nachteil: oft nur kurze Haltbarkeit. Dieses obergärige Bier, das eine braune Farbe hatte und noch viel Hefe enthielt, die immer noch am Gären war, und das einen süßlichen Geschmack wegen des immer noch enthaltenen Zuckers hatte, wurde in der Regel in Fässern oder Kannen lose verkauft, selten in Flaschen. Die Käufer konnten es dann zuhause selbst in Flaschen abfüllen, wenn sie wollten. Jedenfalls konnte man das Bier nur einige Tage lagern - ein Problem, besonders im Sommer.

Berlin:

Der neue Besitzer WASSERZUG erkennt dieses Problem und ist sich sicher, dass ein nachhaltiger Absatz des obergärigen Bieres nur dadurch gesichert werden kann, wenn es möglich wird, die unkontrollierte Nachgärung auch hier zu stoppen. Doch dies technisch zu arrangieren überfordert den fachfremden Brauereibesitzer. 

Gleiwitz in Oberschlesien (heute Gliwice in Polen):

Zu dieser Zeit hat sich - rund 500 Kilometer Luftlinie entfernt im oberschlesischen Gleiwitz - Ignatz NACHER im Alter von 28 Jahren mit einem kleinen Kiosk mitten in der Stadt selbstständig gemacht. Ignatz NACHER verkauft Zigarren.

Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Großmutter hatte er eine Lehre in einer Zigarrenhandlung begonnen und dieses Geschäft von der Pike auf gelernt: als Verkäufer und als "Reisender", sprich als Außenvertreter, der seinen Kunden nicht nur einfach Zigarren aufschwatzen, sondern sie nach ihren individuellen Geschmäckern und Wünschen beraten wollte. NACHER wusste, dass die "Psyche" seiner Kunden unterschiedlich war, und dass, wer verkaufen wollte, wissen musste, was ihren Bedürfnissen entgegen kam.

Dieser Ansicht blieb der 18jährige auch nach Beendigung seiner Lehre treu. Und blieb auch bei Zigarren. Nunmehr in einer Zigarrenfabrik: als Buchhalter und "Reisender" - immerhin zehn ganze Jahre.

Doch das Neue reizt ihn und so ist er nun stolzer Besitzer eines winzigen Zigarrenkiosks, aber in allerbester Lage auf dem Germaniaplatz inmitten von Gleiwitz.

Weil er sich großherzig gibt, hatte er einem Freund durch Übernahme einer Bürgschaft unter die Arme gegriffen. Der gute Bekannte kann nicht zahlen und nun ist es an NACHER, für das verlorene Geld gerade zu stehen. Ein schwerer finanzieller Schicksalsschlag, der das Umsatzvolumen eines kleinen Kiosks überfordert. NACHER ist pleite.

Chausseestr. 33 in Berlin:

Brauereibesitzer WASSERZUG ist derweil am Ende: mit seinen Kräften. Und seinen Finanzen. Er hat es in der kurzen Zeit nicht geschafft, seine Vision in die Tat umzusetzen. „Die darüber entstehenden Sorgen und seelischen Erregungen warfen den schwächlichen Mann aufs Krankenlager,“ wird Hermann SCHOELER Jahre später in einem ausführlichen Manuskript über die "Geschichte der Engelhardt-Brauerei Aktiengesellschaft" schreiben. Mit der kleinen Brauerei und WASSERZUG geht es weiter bergab.

Einer seiner Zulieferer, Otto MAYER aus Breslau, der sich in jungen Jahren in Berlin mit einer Gummiwarenfertigung selbstständig gemacht hat und die Malaise der kleinen Brauerei mitbekommt, ist mit Ignatz NACHER bekannt, den er über seinen Vater in Gleiwitz kennt. Vater MAYER, ein gestandener Zimmer- und Baumeister in der Stadt, ist - bzw. war - treuer Käufer von NACHER's Zigarren an seinem Kiosk.

Otto MAYER schreibt an Ignatz NACHER. Ob er nicht Lust habe, nach Berlin zu kommen und die kleine Brauerei auf Vordermann zu bringen. Ignatz NACHER lehnt ab. Berlin ist weit weg. Und Bier ist nicht sein Metier. MAYER lässt nicht locker, meldet sich erneut, gibt nicht auf. Von NACHER's Problemen hat auch er erfahren. Und so gelingt es ihm, Ignatz NACHER doch noch zu überzeugen, als Geschäftsführer in der kleinen Brauerei anzufangen: am 1. April 1901. NACHER's Bedingung: Niemand dürfe ihm uns Geschäft reinreden.

Der erste Aufschwung

Was NACHER vorfindet, sieht nach schlechtem Start aus. Von ehemals 8 Wagen und 12 Pferden sind nur noch 2 Wagen mit 2 Pferden geblieben. Eines von beiden ist auch noch auf einem Auge blind. Und der Inhaber siecht dahin, sprich der Konkurs steht unmittelbar vor der Tür.

NACHER, der in der Zigarrenfabrik auch die Buchhaltung erledigt hatte und etwas von Zahlen versteht, sieht ein erstes Problem. Acht Tage nach Antritt seiner neuen Stelle, für die er 100 Mark im Monat erhält, steht er frühmorgens um 4 Uhr auf dem Hof. Und beobachtet, wie die beiden Kutscher einen Teil des Bieres auf eigene Rechnung verditschen wollen. Sie werden auf der Stelle entlassen.

Weil aber das Bier ausgefahren werden muss, schwingt sich NACHER selbst auf den Kutscherbock und fährt mit seiner Adressenliste die ihm unbekannte Kundschaft ab. Als Kioskbesitzer war er es gewohnt, mit seinen Kunden zu reden oder mit diesem und jenem ein Schwätzchen zu halten. Jetzt nutzt er die Gelegenheit, um zu erfahren, was die Kunden denn von einem 'guten Bier' erwarten. Und erfährt beispielsweise, dass das obergärige Jungbier beim Öffnen in einer Flasche, wenn es warm ist, bis an die Decke spritzt. Die ist dann besudelt und ein Teil des Bieres verschütt gegangen.

NACHER verspricht Abhilfe. Aber nach wie vor ungelöst: das biologische und technische Problem der Gärung, wenn man länger haltbares Bier brauen möchte.

Experimente in Paris

Ignatz NACHER, der im Zigarrengeschäft als Kaufmann und Verkäufer im Außendienst groß geworden ist, weiß, dass er vom Bierbrauen immer noch zu wenig versteht. Und weiß ebenso, dass er sich dazu fachlichen Rat einholen muss. Und er weiß, dass sich ein bekannter Wissenschaftler schon länger mit dem "Pasteurisieren" beschäftigt: Louis PASTEUR in Paris.

Der hatte bereits in den 1860er Jahren darüber nachgedacht, wie man Wein, französischen natürlich, länger mit schonender Erwärmung haltbar machen könnte. Und sich ein solches Verfahren patentieren lassen. Mit der Niederlage seines Landes im Deutsch-Französischen Krieg, die 1871 mit der Schmach von Versailles geendet hatte, wollte er als glühender Nationalist seinem Lande dienen und begann, sich mit der Pasteurisierung von Bier zu beschäftigen: französisches Bier sollte deutschen Produkten gegenüber konkurrenzfähiger werden.

Die Ergebnisse seiner Versuche mit Erhitzen unterschiedlicher Hefearten bei unterschiedlichen Temperaturen und Geräten hatte PASTEUR 1876 in seinem Buch "Etudes sur la bière" veröffentlicht. Und die entscheidende Lösung gefunden: Der Gärungsprozess muss unter spezifischen Temperaturen stattfinden und die restlichen Hefezellen müssen dann abgetötet werden. In der Flasche darf dann keine Gärung mehr stattfinden. Und auf keinen Fall darf der Geschmack darunter leiden. Oder die Nährstoffe verloren gehen.

Experimente in Berlin

Das, was sich PASTEUR fürs Bier ausgedacht hatte und das weitaus komplizierter war als beim Wein oder anderen Getränken, funktionierte bei ihm in kleinem Rahmen. Das Pasteurisieren des notwendigerweise gärenden Bieres war erheblich schwieriger in die Tat umzusetzen.

NACHER weiß von PASTEUR. Und nimmt Kontakt mit ihm auf. Und so wird die Chausseestrasse 33 - neben dem langsam zunehmendem Brauereigeschäft - zu einem kleinen Laboratorium unter der aktiven Leitung des neuen Geschäftsführers.

NACHER lässt es mit eisernen Schränken ausprobieren, in denen die bereits gefüllten Flaschen obergärigen Biers mit warmer Luft auf Temperatur gebracht werden. Doch viele Flaschen platzen - wegen der ungleichen Wärmeverteilung in den Schränken. Anderer Versuch: Die Flaschen werden im Wasserbad erwärmt und dann mit kaltem Wasser abgeduscht; auch hier gehen viele Flaschen zu Bruch. Diese Methode ist außerdem viel zu mühsam.

Weil NACHER jedesmal neue maschinelle Apparaturen für die unterschiedlichen Experimente herstellen lassen muss, geht alles nicht so schnell. Und jedesmal funktioniert alles anders: beim obergärigen Bier und den Versuchen, lagerfähigeres Bier zu brauen. Das kostet auch Nerven, aber NACHER gibt nicht auf.

Eine weitere Neuerung geht auf NACHER zurück, die erst recht das Geschäft beflügeln wird: Er stellt ein relativ einfaches Bier mit geringer Stammwürze (etwa 6%) her, das nach der sog. Hauptgärung vor dem Abfüllen in die Flaschen mit einem Zuckerzusatz versehen wird. Nach einer sehr kurzen Nachgärung bildet sich genügend Kohlensäure und das besonders schmackhafte "Engelhardt-Caramel-Malzbier" ist geboren.

Fa. "Brauerei Ernst Engelhardt Nachf. oHG"

Während NACHER allem hinterher ist,

  • der gleichbleibenden Qualität des Bieres,
  • der Ausweitung und Pflege des Kundenstamms
  • sowie den ständig wechselnden Experimenten,

stirbt der Besitzer der Brauerei. Die Witwe WASSERZUG geht auf NACHER zu, schlägt ihm vor, die Brauerei käuflich zu erwerben: zum Vorzugspreis von 75.000 Mark. Das entspricht für NACHER 62,5 Jahresgehältern von jeweils 1.200 Mark.

Kapital hat NACHER nicht. Im Gegenteil: Noch immer drücken ihn Schulden aus der Bürgschaft für seinen Gleiwitzer Bekannten. Aber NACHER hat einen Bekannten aus Gleiwitz in Berlin, Otto MAYER, mit dem er sich längst angefreundet hat und bei dem er die Gummipropfen für die Bierflaschen bezieht. Mit ihm kommt er schnell ins Geschäft, denn MAYER geht es finanziell bestens. Und auf NACHER's Vorschlag, die Brauerei gemeinsam zu kaufen, ihm aber die Leitung zu überlassen, geht MAYER sofort ein: NACHER bietet ihm an, a) den Gewinn zu teilen und b) ihm das eingebrachte Kapital jährlich vorab mit 10% zu verzinsen. Ohne dass MAYER auch nur einen Handschlag tun muss.

So gehen beide zum Berliner Handelsregister und lassen sich beide als neue Besitzer eintragen: als Besitzer der "Brauerei Ernst Engelhardt Nachfolger", die jetzt als offene Handelsgesellschaft (oHG) geführt wird. Dass daraus eines Tages ein Großkonzern werden wird, ahnt NACHER da wohl nicht.

Die Pfandflasche

Und immer noch lässt NACHER unterschiedliche Methoden der Pasteurisierung seiner Biersorten ausprobieren. Und immer noch gehen viele Flaschen zu Bruch.

Glas ist zu dieser Zeit recht teuer. Und jede kaputte Flasche ein finanzieller Verlust. Ebenfalls schlägt negativ zu Buch, wenn Flaschen beim Kunden zerplatzen oder einfach nicht zurückgegeben werden. Andererseits könnte man den Bierpreis reduzieren, wenn dieser Kostenfaktor entfiele. Man hätte dann einen Wettbewerbsvorteil.

So kommt Ignatz NACHER auf die Idee, ersteinmal zu 'investieren': in die zusätzlichen Kosten von stabilerem Glas, sprich dickeren Flaschen.

Und jetzt klappt es: trotz Pasteurisierung und anschließendem Abkühlen bzw. Nachgären des Bieres bleiben die Flaschen ganz. Die Pfandflasche ist geboren.

Seine Konkurrenten beäugen das, was NACHER nun macht, mit großer (Schaden)Freude. Sie können bzw. wollen nicht glauben, dass diese Geschäftsidee funktioniert: Dass Biertrinker die Bierflasche zurückgeben.

Die Expansion beginnt

Die Konkurrenten werden sich irren. Der Ausstoß der "Brauerei Ernst Engelhardt Nachf. oHG" nimmt kontinuierlich zu - die Berliner stehen auf dem 'süßen' obergärig hergestellten Malzbier der Marke "Engelhardt Caramelmalzbier".

Gekauft - zusammen mit seinem Freund - hat NACHER die kleine Brauerei zum 1. Juni 1902. Bis zum Ende des Jahres steigt der Bierausstoß von rund 10.000 Hektoliter auf 27.000 - fast auf das Dreifache. Das Jahr 1903 wird noch besser: 34.000 hl.

Und nochmals ein Jahr später, 1903, sind es bereits 41.000 hl. Das entspricht 4,1 Millionen Litern bzw. über 8 Millionen Halbe-Litern. Umgerechnet auf 365 Tage im Jahr werden täglich rund 22.000 Halbe-Liter Engelhardt-Bier getrunken.

Die Kapazitäten der kleinen Brauerei in der Chausseestrass sind längst überfordert. NACHER lässt bereits in einer anderen größeren Brauerei - sozusagen im Lohnauftrag - produzieren: der Bergbrauerei in der Bergstrasse 22.

Als "Brauer" sieht sich NACHER nicht. Aber als 'Macher', der hier seine Lebensaufgabe gefunden hat: als Manager, der in Technik und Qualität investiert, ebenso wie ins Marketing. Und der auch weiß, dass man mit anderen Brauereien auf der einen Seite konkurriert, auf der anderen mit ihnen auskommen muss, insbesondere wenn es um gemeinsame Interessen geht.

Und so initiiert Ignatz NACHER 1904 den "Verband obergäriger Brauereien e.V.", dem er bis 1919 als Vorsitzender präsidieren wird. Dessen Aufgabe: in Sachen Brausteuer, Zuckerverwendung und anderen organisatorischen Fragen einheitliche Standards durchzusetzen, ebenso wie beim Flaschenpfand.

NACHER's Konkurrenten haben längst eingesehen, dass die Idee des Flaschenpfands ein absoluter 'Knüller' war. Und NACHER ist weitsichtig genug, die einheitlichen Standards dazu vom Syndicus seines größten Konkurrenten, der Schultheiss-Brauerei in Berlin ausarbeiten zu lassen. So kommt es zu einem gemeinsamen vertraglichen Abmachung mit allen Brauereien in Berlin und Potsdam, die sich auf das einheitliche Pfand von 10 Pfg. beziehen, aber auch auf den gegenseitigen Austausch fremder Flaschen.

Und so nimmt die Expansion kein Ende. Im Gegenteil: Das "Engelhardt-Caramelmalzbier" erfreut sich immer größerer Beliebtheit.

Deswegen reichen auch die Kapazitäten der Chausseestrasse und die der inzwischen dazugekauften Bergbrauerei längst nicht mehr aus. NACHER ist auf der Suche nach weiteren Produktionsstätten.

Berlin-Pankow

NACHER wird fündig. Auf einem riesigen Gelände, auf dem ursprünglich eine genossenschaftlich organisierte Brauerei entstanden war, die aber am fehlenden Brunnenwasser scheiterte und deshalb nicht in Betrieb gehen konnte, probiert es jetzt Ignatz NACHER. Er investiert und lässt an mehreren Stellen gleichzeitig bohren. Und sicherheitshalber schließt er einen optionalen Vertrag mit den Pankower Wasserwerken ab, die, wenn die Bohrungen erfolglos bleiben sollten, als Wasserlieferant einspringen würden. Eine Alternative, die langfristig natürlich teurer würde.

Doch die Bohrungen haben Erfolg. Insgesamt 5 Brunnen entstehen, bei denen aus einer Tiefe von rund 100 Metern klares Grundwasser gefördert werden kann. Jetzt kann es losgehen: Auf dem Gelände Kaiser-Friedrich-Strasse 21-29, das NACHER kauft, entsteht seine erste große Brauerei:

Das Gelände ist mit 32.000 Quadratmetern ausreichend groß, um expandieren zu können. Und NACHER investiert weiter in neue Kessel, Heizungen und Kältemaschinen, Abfüllanlagen und Pferdegespanne. Auf 200.000 Hektoliter sind die Anlagen ausgelegt - das Zwanzigfache dessen, womit er im April 1901 angefangen hatte.

Die Chausseestrasse und die Bergbrauerei werden aufgegeben. Alles ist jetzt an dem neuen Standort konzentriert.

Das Engelhardt Caramel-Malzbier

NACHER hat sich bisher auf die Perfektionierung seines obergärigen Malzbieres konzentriert: ein Bier mit geringer Stammwürze, aber mit Zucker, der allerdings nicht vollständig vergärt; ein Bier mit nur 1% Alkoholanteil.  Das wird inzwischen in pasteurisierter Form und in Pfandflaschen vertrieben. Es ist so nahrhaft und erfolgreich, dass es von Ärzten zur Kräftigung empfohlen und in Krankenhäusern zur Rekonvalenz eingesetzt wird. Auch junge Mütter, die stillen, trinken mit Vorliebe dieses Bier, weil es ihnen auch sehr gut schmeckt. Denn NACHER macht auch das, was man heutzutage Qualitätssicherung nennt: ständig gleichbleibende Qualität im Geschmack.

Dieser Erfolg wird ihm in knapp 30 Jahren zum Verhängnis werden. NACHER kann das nicht ahnen. Mit seinen 37 Jahren steigt er als Manager in die Vollen, kümmert sich sozusagen rund um die Uhr ums Braugeschäft und baut es weiter aus. Probleme gibt es auch derweil schon.

Zum Beispiel mit der Brausteuer. Wie immer: Der Staat holt sich sein Geld bevorzugt dort, wo es etwas zu holen gibt. Bisher musste eine Brauerei für jeden Doppelzentner Malz 4 Mark berappen. Ab 1906 steigt dieser Betrag auf 10 M. Das ist das Zweieinhalbfache. Und nicht immer kann man eine solche Kostensteigerung an die Kundschaft weitergeben.

Weitere Versuche beim Pasteurisieren: das erste Pils

Derweil lässt NACHER seinen Braumeister und seine Leute mit unterschiedlichen Hefen experimentieren. Er will unbedingt auch in das Lagerbiergeschäft einsteigen, sprich untergäriges Bier brauen, das ebenfalls länger haltbar ist. Aber eben auch seinen Qualitätsvorstellungen entspricht.

Dabei arbeitet NACHER mit dem Institut für Gärungsgewerbe in der Berliner Seestrasse zusammen, das in Berlin einzigartig ist (ein sog. An-Institut der Landwirtschaftlichen Hochschule) und Forschung in Sachen Bierbrauen betreibt. Mit dessen Chef, Prof. Max DELBRÜCK, arbeitet NACHER schon länger zusammen. Zum Beispiel bei den Versuchen der Pasteurisierung seines Malzbieres nach den Vorschlägen von Louis PASTEUR in Paris.

1907 ist es soweit: Die Engelhardt-Brauerei kommt mit ihrem ersten "Pils" auf den Markt.

Jetzt legt das Geschäft weiter zu. NACHER braucht weiteres Kapital. Er firmiert seine Engelhardt-Brauerei in eine Aktiengesellschaft um, die ihr eigenes Kapital bei Aktionären einsammelt. Aus "Ernst Engelhardt Nachf. oHG" wird die "Engelhardt-Brauerei Aktiengesellschaft".

NACHER achtet darauf, dass er mit seinen eigenen Aktienanteilen die Mehrheit behält. Und damit das Sagen.

"Charlottenburger Pilsener"

So kann er weiter expandieren, ohne dass ihm jemand dazwischenredet. Weil die Nachfrage kontinuierlich zunimmt, übernimmt Ignatz NACHER fünf Jahre nach dem Aufbau der Engelhardt-Kapazitäten in Pankow jetzt im Berliner Stadtteil Charlottenburg eine größere Brauerei. Und konzentriert dort seine "Pils"-Aktivitäten. Gleichzeitig kann er jetzt den Vertrieb rationeller organisieren: Pankow liegt im Osten der Stadt, Charlottenburg im Westen. Die Wege für seine Gespanne und LKW werden kürzer.

Das Pils von Engelhardt läuft jetzt unter dem Markennamen "Charlottenburger Pilsener".

Folge: Es werden weitere Betriebsmittel benötigt, das Aktienkapital muss verdoppelt werden. Und NACHER gründet eine Norddeutsche Malzbier-Betriebs GmbH. Mit einer Reihe von kleineren Brauereien in der Berliner Provinz werden Lizenzverträge über die Herstellung des Engelhardt'schen Malzbieres geschlossen.

Groterjan-Brauerei

1913 ist die Nachfrage nach Ignatz NACHER's Caramel-Malzbier so groß geworden, dass er sich nach weiteren Braukapazitäten umsehen muss. Er beteiligt sich am Aktienkapital der Groterjan-Brauerei. Der neue Werbeslogan:

"Hats Caramel-Bier wohlgetan,
dann wars bestimmt von Groterjan."

Inzwischen arbeiten 550 Beschäftige in den Engelhardt'schen Brauereien an den 3 Standorten. Der Jahresausstoß ist derweil auf 261.000 Hektoliter angewachsen. Das sind umgerechnet rund 50 Billionen Halbeliter-Flaschen. Die wollen gebraut und vor allem logistisch - längst im eingeübten Pfandflaschensystem - ausgeliefert und wieder zurückexpediert werden.

Doch die Zeiten werden politisch unruhig.

Kriegswirtschaft

Wie es immer so ist: Wenn national(istisch)e Emotionen das Denken und den Verstand trüben und gleichzeitig obrigkeitsstaatliche Strukturen vorherrschen, können 'die da oben' schalten und walten wie sie wollen. Und die Folgen ihren Untertanen überlassen. So hat es Heinrich MANN  in seinem 1914 erschienenen Roman "Der Untertan" beschrieben. Sein Protagonist sehnt geradezu den Krieg herbei, und der Autor ist nicht wirklich überrascht, dass genau das geschieht.

Thomas MANN, sein Bruder, ist entsetzt, wirft Heinrich "ruchlosen Ästhetizismus" vor, und setzt sich selbst für Krieg ein. Was er später bitter bereuen wird. Aber so sind die Zeiten und so ziehen Hunderttausende Deutsche begeistert in den Krieg, aus dem die wenigsten wiederkommen werden. An die 20 Millionen Menschen werden ihr Leben verlieren.

Ignatz NACHER ist 1914, wenn der Krieg wie ein Flächenbrand über Europa herzieht, 46 Jahre alt. Da die vergreiste deutsche Militärführung in dem irrigen Wahn lebt, den Feind Nr. 1, die Franzosen, in einer Art militärischem Spaziergang innerhalb weniger Wochen erledigen zu können und die Engländer gleich mit, setzen sie auf die jungen Soldaten. Die Älteren dürfen zu Hause bleiben.

Und da gibt es genug zu tun, denn jetzt muss die Mangelwirtschaft organisiert und preußisch akurat verwaltet werden. Vor dem Krieg hatte jeder Deutsche im Durchschnitt 103 Liter Bier im Jahr konsumiert. Am Ende des ersten Kriegsjahres werden es noch 87 Liter sein. 1918, wenn der Krieg zu Ende ist, weil junge Matrosen, die nicht lebensmüde sind, die Revolution initiieren, können die Deutschen nur noch 38 Liter pro Kopf gerechnet, konsumieren. Alles ist rationiert. Auch die Braugerste - sie wird zur Brotstreckung benötigt. Auch Zucker ist kontingentiert. Um das Bier, dessen Stammwürzgehalt auf 1% heruntergefahren muss, halbwegs genußfähig zu halten, kann NACHER den Behörden gegenüber durchsetzen, dass dafür Süßstoff eingesetzt werden darf.

Die zweite Expansionsphase

Nicht jede Brauerei kann bei den Rationierungen, den vielen neu erlassenen Einschränkungen hier, da und dort mithalten. Die einen sind nicht gut organisiert, andere haben nicht mehr genügend Arbeiter, weil die jetzt an der Front sind, anderen Brauereibesitzern geht die Lust aus.

Im Gegensatz zu Engelhardt und Groterjan. Bzw. Ignatz NACHER, dem Macher.

Auf der Halbinsel Stralau im Bezirk Treptow, also südöstlich von Pankow, will die Viktoria-Brauerei aufgeben. NACHER greift sofort zu, denn es handelt sich um ein riesiges Gelände, größer als in Pankow, und zweitens gibt es dort eine eigene Mälzerei. "Stralau" wird ab sofort zur "Engelhardt Abt. III":

Nach Ende des Krieges geht alles noch viel schneller.

1918 wird in Königsberg in der "Neumark", einem Gebiet, das östlich der Oder beginnt, die dort ansässige "Dampfbrauerei Hans Engelke GmbH" übernommen. Sie firmiert fortan unter "Engelhardt-Brauerei Königsberg". Außerdem kleine Brauereien in Frankfurt/Oder, in Rathenow die dortige Schloßbrauerei und eine weitere in Berlin.

In Berlin erwirbt Engelhardt zudem am Berliner Alexanderplatz erste Anteile an der "Hotelgesellschaft Alexanderplatz mbH", die ein großes Eckhaus ihr eigen wähnt. Dorthin zieht jetzt die Verwaltung der Engelhardt-Brauerei ein, die erheblich gewachsen ist, nicht zuletzt wegen der vielen Übernahmen. Das Eckhaus am Alexanderplatz wird in genau 15 Jahren eine Rolle spielen. Aber auch das kann NACHER nicht im mindesten ahnen.

Derweil geht die Expansionswelle geht weiter. Nach Berlin und Umland sowie Standorten östlich von Berlin steht jetzt Mitteldeutschland im Visier: Brauereien in Halle und Merseburg, in Greifswald sowie Sangerhausen. In Dortmund, ebenfalls eine Stadt des Bieres mit vielen konkurrierenden Brauereien, kauft sich NACHER in die Dortmunder Stiftsbrauerei ein.

Gleiches geschieht in Schlesien. Dort geht es u.a. um eine weitere Mälzerei (Rudelstadt). In der Lausitz steht eine Genossenschaftsbrauerei (Weißwasser) zum Verkauf. Und erstmals wagt sich NACHER auch im Westen weiter vor: im Ruhrgebiet betrifft es die Gesenbergbrauerei in Elberfeld.

Was Engelhardt macht, macht auch NACHER's größter Konkurrent in Berlin: Die Schultheiss-Brauerei fusioniert mit Patzenhofer zur "Schultheiss-Patzenhofer Brauerei".

Und so sehen jetzt die wichtigsten Absatzgebiete der Engelhardt-Brauerei AG aus, wie auf der Karte markiert. Engelhardt hat sich das dazu notwendige Kapital zum einen über die Erhöhung des Eigenkapitals (Aktienkapital) auf nunmehr 42 Millionen, zum anderen über die Ausgabe von Anleihen organisiert.

Neben den regionalen Märkten in Deutschland werden Charlottenburger Pilsner, aber insbesondere das Caramel-Malzbier in alle Welt exportiert. Die Engelhardt-Gruppe nennt sich inzwischen die größte Malzbierbrauerei der Welt.

Und das trotz der gigantischen Inflation, die 1923 das Land erfasst und in eine Hyperinflation ausartet. Der Staat kommt nicht mehr mit der Prägung von Münzen hinterher, lässt deshalb eine neue Währung drucken: die Papiermark.

Deren nominaler Wert, so wie er auf den Scheinen steht, geht ins Unermessliche. Ende 1923 kostet ein halber Liter Engelhardt-Bier eine halbe Billion Papiermark. In Zahlen: 500.000.000, sprich: 500 Millionen Papiermark.

1926: Ignatz NACHER privat

Das Jahr 1926 hat für Ignatz NACHER eine besondere Bedeutung: Er wird 58 Jahre und er feiert am 1. April sein 25jähriges Berufsjubiläum. Just an diesem Tag hatte er ein Vierteljahrhundert zuvor seine Stelle als Betriebsleiter in der kleinen Brauerei in der Chausseestrasse 33 angetreten.

Inzwischen liegt der jährliche Ausstoß des gesamten Engelhardt-Konzerns bei knapp 1 Million Hektoliter, die in 16 Betriebsstätten gebraut werden und in denen 2.500 Mitarbeiter beschäftigt sind. Das Bier wird mit 600 Gespannen, 80 LKW und mehreren eigenen Eisenbahnwagen an den Mann bzw. die Frau gebracht. Ein ausgefülltes Arbeitsleben, das nur wenig Entspannung kennt.

Nur gezielt geplante Urlaubstage, entweder in Meran oder auf seinem Gut Sauersberg im Tölzer Land, das NACHER zum Zwecke der Erholung gekauft hat, vermögen Ablenkungzu bieten.

NACHER's Ehe ist kinderlos. Weil er selbst in eine Großfamilie hineingeboren wurde und bei seiner Großmutter aufgewachsen war, hatte er bereits vor vielen Jahren eines von vielen Kindern aus der Großfamilie seiner Schwägerin bei sich aufgenommen und groß gezogen: Hermann EISNER, der in diesem Jahr 29 Jahre alt wird. Der promovierte Jurist Hermann EISNER ist Rechtsanwalt, hat vor wenigen Jahren in der Berliner Friedrichstrasse eine eigene Kanzlei aufgemacht und übernimmt auch Aufträge für seinen (Stief)Vater und den Engelhardt-Brauerei-Konzern.

Jetzt ist sein (Quasi)Sohn verliebt: in die bildhübsche Schauspielerin Camilla SPIRA. Und NACHER fast ebenso glücklich wie sein an Kindes statt angenommener Sohn Hermann.

Ignatz NACHER, der von den beiden "Onkel Ignatz" genannt wird, tut alles, um die Karriere seiner künftigen Schwiegertochter zu befördern. Camilla, die ihre Ausbildung bei Max REINHARDT, dem berühmten Schauspieler und Chef des "Deutschen Theaters" in Berlin absolviert hatte, war erst vor einiger Zeit aus Wien nach Berlin zurückgekehrt. Sie hatte ein Engagement am "Theater in der Josefstadt", danach eine Rolle in einem Stummfilm ("Mutter und Sohn") übernommen. Jetzt tritt sie an Max REINHARDT's Deutschem Theater auf. Und weil gerade der Tonfilm 'groß im Kommen' ist, wurde ihr auch gleich mit ihren 20 Jahren eine kleine Rolle in "Die versunkene Flotte" angetragen.

NACHER ist glücklich.

Und spendabel. Wie er es schon immer war.

Für jene Hinterbliebenen in seiner Brauerei, die im großen Krieg, der zu dieser Zeit noch keine Nummerierung hat, gelitten haben, hatte er einen "Ignatz-Nacher-Fonds zur Unterstützung von Witwen und Waisen der Engelhardt-Brauerei" mit 150.000 RM ausgestattet. In Gleiwitz, seiner Heimatstadt, hatte er 300.000 RM für ein Altersheim gespendet, für arme Studenten des Ledigenheims in Berlin-Charlottenburg 50.000.

Weil NACHER um die Bedeutung von nachhaltiger Qualität weiß und ebenso weiß, wie wichtig biotechnologische Forschung in der Brauwirtschaft ist, gründet er eine "Stiftung zur Förderung der Brauwissenschaft und -Technik", die an der "Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin (VLB)" angesiedelt ist - dort wo auch das "Institut für Gärungsgewerbe" mit unterschiedlichen Hefearten forscht.

Kapital: 100.000 RM. Eine Hälfte gibt NACHER, die andere die Brauerei. Mit den Erträgnissen sollen verdiente Wissenschaftler und Experten ausgezeichnet werden. Der erste Preisträger, der ein Jahr später ausgezeichnet wird: Prof. Dr. Wilhelm WINDISCH für seine wissenschaftlichen, aber auch praktischen Arbeiten über die Zusammenhänge zwischen Brauwasser und Bierqualität, wie er sie - beispielsweise - in seinem Buch "Das Bier auf seinem Wege vom Faß ins Glas" bereits 1903 allgemeinverständlich beschrieben hatte.

1929: Berlin Alexanderplatz, Engelhardt Haus und Börsencrash in New York

Zu Beginn des Jahres erscheint in Buchform Alfred DÖBLIN's Roman "Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Franz Biberkopf", der einen fiktiven Einblick in das Leben "kleiner Leute" gibt. Kleine Leute, die auch Engelhardt oder Groterjan-Bier trinken. Ein sogenannter Großstadtroman. Der Roman war vorher bereits als Fortsetzungsgeschichte in verschiedenen Zeitungen zu lesen, 1928.

Just zu dieser Zeit hatte sich Ignatz NACHER mit einem Kaufangebot der Stadt Berlin auseinandersetzen müssen. Die Stadt will den "Alex" umbauen, sprich vergrößern, weil der Platz für den Verkehr viel zu klein ist, und weil die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) eine neue U-Bahn-Linie bauen wollen. Indes, beiden Vorhaben stand ausgerechnet das Engelhardt Haus im wahrsten Sinne des Wortes "im Weg": Das Haus "ragt wie eine Nase in den Platz hinein", wie der Direktor der BVG, Hermann ZANGEMEISTER, immer wieder betonte.

ZANGEMEISTER ist nicht nur Herr der Berliner U-Bahn, sondern zugleich Vorsitzender des Aufsichtsrats der "Berolina Grundstücks AG", die sich im Besitz der Stadt Berlin befindet. Einziger Zweck dieser Aktiengesellschaft: die Grundstücke am "Alex" aufzukaufen, ohne dass sich irgendwelche Immobilienspekulanten daran bereichern können, indem sie die Preis unnötigerweise in die Höhe treiben.

Mehrere Grundstücke und Häuser hatte Berlin bereits aufgekauft. Jetzt fehlt nur noch die Alexanderstrasse 46-48/Neue Königstrasse 44-45 - das "Engelhardt Haus".

Doch NACHER will nicht verkaufen. Eine Geschäftszentrale so zentral in der Innenstadt gibt man nicht auf. Zumal sich im Erdgeschoss ein großer Engelhardt-Ausschank befindet. NACHER sagt nein, danke. Er habe auch schon das Warenhaus Karstadt abblitzen lassen, das sein Gebäude übernehmen und umbauen wollte, um schräg gegenüber vom Konkurrenzunternehmen Hermann Tietz (später als Hertie bekannt) am Alex ebenfalls einen Einkaufstempel zu eröffnen. Die Verhandlungen stocken.

Da war im November 1928 BVG-Direktor ZANGEMEISTER erneut aufgetaucht. Diesesmal in Begleitung des Vorstandschefs der Berolina, Walter GOLDE. Dessen 'message': Zum einen sei der bereits von anderen Interessenten für die Immobilie angebotene Kaufpreis von 10 Millionen für die Berolina zu hoch. Zum anderen, und dies müsse NACHER wissen, könne die Stadt das Haus als letztes Mittel auch zwangsenteignen.

NACHER nimmt die Drohung ernst. Die Stadt Berlin hatte derlei Praktiken schon an anderer Stelle umgesetzt. Er lässt sich auf 9 Millionen herunterhandeln. GOLDE indes will maximal 8,5 zahlen.

Am 6. Dezember, Nikolaustag, hatte man sich dann doch geeinigt: Die Berolina zahlt 9 Millionen und NACHER verzichtet auf weitere Abfindungen, die er wegen der jetzt notwendigen Räumung an die untervermieteten Firmen im Haus zahlen muss. Der Kaufvertrag wurde eineinhalb Wochen später aufgesetzt, jedoch nicht mehr unterzeichnet, da der in Aussicht genommene Notar bereits in die Weihnachtsferien verschwunden war. Das soll nun am 7. Januar 1929 nachgeholt werden.

Ignatz NACHER fährt ebenfalls in die Weihnachtsferien - mit seiner Familie auf sein Gut Sauersberg bei Bad Tölz, wo er regelmäßig auszuspannen pflegt.

Kaum ist Heilig-Abend vorbei, da steht am 2. Weihnachtsfeiertag Walter GOLDE, der Vorstandschef der Berolina AG aus Berlin, vor NACHER's Wochenendhaustür. Und bittet um Einlass. NACHER, der gerade mit seiner Familie zum Essen ausgehen will, lädt den unerwarteten Gast, der, wie er sagt, auf der Durchreise sei, mit ein. Zuvor kommt es jedoch noch zu einer geschäftlichen Besprechung.

Es wäre für ihn besser, beginnt GOLDE das kurze Gespräch, wenn beim Kaufpreis statt der "9" an erster Stelle eine "8" stünde.

NACHER hat damit keine Probleme, und so wird der an sich vereinbarte Kaufpreis um 10.000 RM reduziert: auf 8.990.000 RM.

Probleme allerdings hat NACHER, als GOLDE ein zweites Anliegen vorträgt: 120.000 RM "für politische Zwecke". Konkret: "für Parteien, deren Kassen leer sind", wie GOLDE betont. Konkrete Namen will er nicht nennen.

NACHER, der regelmäßig für andere Zwecke spendet, gibt sich erst zögerlich, willigt dann aber doch auf das Begehren seines unerwarteten Besuchers ein, zumal sich dieser als Mitglied der "Gebirgsjäger", einer Infanterietruppe mit leichten Waffen im Krieg, zu erkennen gibt.

Weil NACHER die Aufenthalte mit seiner Familie im abgeschiedenen "Gut Sauersberg" zum 'Abschalten' nutzt, vergisst er die ganze Geschichte.

Sie wird ihn, ohne dass er das wissen kann, genau vier Jahre später einholen (siehe dazu Die brutale Enteignung des Ignatz NACHER und seiner Engelhardt-Brauerei 1933/34).

Frühjahr bis Ende des Jahres 1929

Der Rest des Jahres 1929 leitet den Untergang ein, ohne dass sich die Menschen darüber im Klaren sind: das Ende der Weimarer Republik und das Ende der wiedergewonnenen Fast-Normalität seit der Hyperinflation. Stattdessen entwickeln sich auf deutschem Boden bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen rechten und linken Fanatikern, geben die Parlamentarier im Reichstag nach und nach ihre eigene Legitimität auf und es entsteht eine neue "Bewegung".

Wie es schon immer war und auch heute noch ist: Wenn es eine "Demokratie", die auf "Gleichberechtigung" aller beruht, nicht schafft, wirtschaftliche Sicherheit für alle Menschen zu ermöglichen, ist sie - aufgrund mangelnder breiter Akzeptanz - dem Untergang geweiht.

Am 24. Oktober kommt es in den USA zum Banken-Krach, 5 Tage später zum Börsen-Crash in New York. Das durch Spekulationen aufgeblähte Finanzsystem bringt erst die Wirtschaft in den USA zum Einsturz, bevor es wenige Monate später Europa und v.a. Deutschland erreicht. Die Folgen: Massenarbeitslosigkeit und Verelendung breiter Schichten. Nicht nur jener, die schon immer arm waren. Die Deutschen, und insbesondere die Jüngeren, sind enttäuscht von den "demokratischen" Strukturen der "Republik", setzen stattdessen jetzt auf Formeln und Parolen wie "Volk" und "Gemeinschaft" sowie "Nationalismus" und "Sozialismus". Und es gibt einen, der sich als "Führer" dieser "Bewegung" versteht. Und dies zu nutzen weiß.

Danach bis zum Jahr 1933

Wie Ignatz NACHER diese Entwicklungen sieht, wissen wir nicht. Auch wenn 1932 die Arbeitslosigkeit mit 5,6 Millionen arbeitslosen Deutschen ihren Höhepunkt erreicht: Bier wird immer und zu allen Zeiten getrunken. Mal mehr, mal weniger. So können sich die Marken "Charlottenburger Plsener" und das "Caramel-Malzbier" von Groterjan behaupten. Insbesondere das Malzbier wird von Ärzten für Kranke und stillende Mütter empfohlen: es schmeckt und ist nahrhaft.

Und NACHER kann sich über die Erfolge seiner Schwiegertochter Camilla SPIRA freuen. 1930 spielt sie die "Rößl-Wirtin" in dem Singspiel "Im weißen Rößl am Wolfgangsee": erst im Großen Schauspielhaus in Berlin, dann in der gleichnamigen Verfilmung. Camilla lebt "wie ein Schmetterling", wie sie sagt. Und genießt die volle Unterstützung ihres Schwiegervaters "Onkel Ignatz".

1932 tritt sie in Fritz LANG's Kinofilm "Das Testament des Dr. Mabuse" auf: als "Juwelenanna". Und es beginnen die Dreharbeiten zu dem großen Film "Morgenrot", der seine Uraufführung Anfang 1933 haben wird.

Doch die Zeiten werden immer unübersichtlicher. Und die Wahlerfolge des NSDAP immer größer. Und immer mehr Deutsche, die an die neue "Bewegung" glauben, weil sie keine andere Alternative für Deutschland sehen, boykottieren jetzt auch das "Judenbier" von Engelhardt ... 


Wie es 1933 weitergeht, ist unter Die brutale Enteignung des Ignatz NACHER und seiner Engelhardt-Brauerei beschrieben

Den hiesigen Text (Kapitel) können Sie direkt aufrufen und verlinken unter der Kurzformel www.ansTageslicht.de/Pfandflasche.

(JL)