Die Berichte der Stuttgarter Nachrichten, 20.02.2008
von Jürgen BOCK
"Die Hilfsfristen sind zu lang"
In Stuttgart brauchen die Rettungsdienste länger als gesetzlich vorgeschrieben, bis sie am Einsatzort sind. Ordnungsbürgermeister Martin Schairer kündigt im Interview eine Initiative zur Verkürzung der 15-Minuten-Hilfsfrist an und wehrt sich gegen Vorwürfe, er habe fahrlässig gehandelt.
Herr Schairer, am 7. November haben Sie eine Anfrage der Grünen beantwortet. Darin haben Sie dargestellt, dass in Stuttgart die gesetzliche Hilfsfrist von 15 Minuten deutlich überschritten wird und alle vergleichbaren Städte beim Rettungsdienst wesentlich besser ausgestattet sind. Warum haben Sie, statt umgehend zu handeln, fahrlässigerweise drei Monate verstreichen lassen?
Auch ein Bürgermeister und eine Stadtverwaltung sind an das Gesetz gebunden. Zunächst muss man feststellen, dass wir die Situation ungeschminkt dargestellt haben. Durch den Rechner der integrierten Leitstelle haben wir erstmals die Möglichkeit bekommen, genaue Zahlen zu ermitteln. Den Versuch, belastbares Material zu erhalten, unternehmen wir schon seit Jahren. Die Daten, die der Sitzung im November zugrunde liegen, betreffen Januar bis Oktober 2007. Wir wollten eigentlich Zahlen für ein Jahr sammeln und dann damit an die Öffentlichkeit gehen.
In nichtöffentlicher Sitzung Zahlen offenzulegen ist das eine, Schritte einzuleiten das andere.
Aber nur auf einer verlässlichen Grundlage. Ich habe bereits in dieser Sitzung gesagt, dass sich zwingend etwas ändern muss, wenn die Hilfsfrist tatsächlich nicht eingehalten wird. Es wurde vereinbart, mittels einer neuen Software die Zahlen bis Februar nochmals zu überprüfen. Wir werden dieses Ziel nicht auf die Woche genau einhalten können, aber die beauftragte Computerfirma wird in einer Zeitspanne von etwa vier Wochen die Umprogrammierung geschafft haben. Dann haben wir erstmals in Stuttgart eine valide Auswertung.
Das Problem wird, nicht zuletzt von Bürgerinitiativen, bereits seit Jahren diskutiert. Jetzt gibt es erstmals Zahlen. Warum müssen diese noch mal nachgerechnet werden?
Weil es noch Softwareprobleme gibt, werden manche der vorhandenen Daten angezweifelt. Zum Teil intern von den Rettungsdiensten selbst, zum Teil auch von extern. Jetzt müssen wir - falls notwendig - unsere Zahlen zusammenführen.
Also wartet die Stadt jetzt, bis der Missstand zweifelsfrei belegt ist?
Es geht nicht darum, Missstände zu belegen oder Schuldige zu suchen, sondern darum, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Bereits unmittelbar nach der Sitzung im November hat Frank Knödler, der Leiter der Branddirektion und der integrierten Leitstelle, auf meine Weisung hin den Vorsitzenden des Bereichsausschusses informiert. Es wurde vereinbart, erst genaue Zahlen abzuwarten, bevor man aktiv werden kann.
Sie sehen also kein Versäumnis der Stadt?
Wir üben unsere Rechtsaufsicht über den Bereichsausschuss aus und werden ihm, so sich die Zahlen bestätigen, den Auftrag geben, die Hilfsfristen in Stuttgart einzuhalten. Ich habe den Leiter des Bereichsausschusses mit Kollegen für nächsten Montag zu einem Gespräch eingeladen. Das Gute an der Diskussion ist, dass wir die Probleme jetzt angehen können.
Angenommen, die Zahlen bestätigen sich bei der Krisensitzung oder danach. Was muss und kann die Stadtverwaltung dann tun?
Das eine sind die Sofortmaßnahmen. Wenn die Hilfsfrist in Stuttgart tatsächlich überschritten wird, sind die Krankenkassen verpflichtet, zusätzliche Leistungen zu erbringen, um dieses Manko zu beheben. Da sehe ich zwei Möglichkeiten: Zum einen muss man organisatorisch die Verweilzeit der Rettungsdienste an Kliniken senken, zum anderen den Vorhalt von Rettungsmitteln und Notärzten erhöhen.
In Stuttgart sind derzeit rund um die Uhr acht Rettungswagen und drei Notärzte unterwegs. Was wäre nötig, um die 15-Minuten-Frist einhalten zu können?
Sollten die Zahlen bestätigt werden, geht es um eine Größenordnung von etwa zwei zusätzlichen Rettungswagen und einem weiteren Notarzt.
Damit würde die Hilfsfrist eingehalten. Kritiker sagen aber, dass die 15 Minuten in Baden-Württemberg ohnehin zu lang sind. Was halten Sie davon?
Das ist der zweite Schritt, der folgen muss. Die Hilfsfrist, die das Rettungsdienstgesetz im Höchstfall zulässt, ist zu lang, gerade wenn man sie mit anderen Städten in Deutschland vergleicht. Ich werde mit dem Bereichsausschuss darüber reden und darauf dringen, kürzere Hilfsfristen zu erreichen.
Sie fordern also eine Änderung des Landesgesetzes?
Eher eine andere Interpretation des Gesetzes. Ich denke, dass es auch möglich ist, eine vernünftige Regelung im jetzigen gesetzlichen Rahmen hinzubekommen.
Die Stuttgarter Grünen haben bereits beantragt, die Zuständigkeit für die Hilfsfrist auf die Stadt zu übertragen. Wäre das ein Weg?
Wir sollten im bestehenden System diskutieren. Wir werden jetzt zunächst zur Einhaltung der Hilfsfrist unsere Rechtsaufsicht ausüben.
Werden Stuttgarter in Not künftig schneller gerettet?
Die jetzige Hilfsfrist ist nicht akzeptabel, egal ob sie 15, 16 oder 17 Minuten beträgt. Wir müssen einen großstädtischen Standard hinbekommen, der dem Interesse der Stuttgarter Bevölkerung entspricht.
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Online am: 20.02.2008
Aktualisiert am: 18.11.2015
Inhalt:
- Was Engagement für die Notfallrettung bewirken kann: ein erster Überblick
- Wie die mangelhafte Notfallrettung in die öffentliche Wahrnehmung geriet
- So liefen die Recherchen in Sachen Notfallrettung - ein Making-of
- "112" - die Geschichte einer (über)lebenswichtigen Hotline
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