Wie die Nürnberger Nachrichten den Fall Gustl MOLLATH gepowert haben

Ein Making-of von Michael KASPEROWITSCH

Ein gar nicht so fernes Unrecht? – so lautete am 7. Oktober 2011 die Überschrift des ersten Artikels in den Nürnberger Nachrichten über Gustl Mollath, der fast zehn Jahre zuvor Schwarzgeldschiebereien bei der Nürnberger HypoVereinsbank angezeigt hatte und dann 2006 durch ein Urteil des Landgerichts Nürnberg in der forensischen Klinik der Bayreuther Psychiatrie landete. Dort sitzt er bis heute (Stand 8. April 2013). Es war der erste Beitrag über diesen Fall, der in einer deutschen Zeitung – auch Rundfunkanstalten hatten noch keinen Beitrag gesendet – erschienen ist. Er enthielt bereits Fakten, die eineinhalb Jahre später zu einem wesentlichen Bestandteil des Wiederaufnahmeantrags der Staatsanwaltschaft wurden.

Im Lauf der folgenden Monate nach der ersten Veröffentlichung, besonders ab September 2012, wurde die Geschichte Mollaths dann zum Gegenstand einer breiten Berichterstattung in überregionalen und regionalen Zeitungen sowie mehreren Rundfunksendern quer durch die Bundesrepublik. Die Ergebnisse der Recherchen der Nürnberger Nachrichten führten am Ende dazu, dass nicht nur der Verteidiger Gustl Mollaths, sondern kurz darauf vor allem auch die Staatsanwaltschaft einen Wiederaufnahmeantrag stellte. Dies gilt in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte als einmaliger Vorgang bei einem Strafurteil, das immerhin schon vom Bundesgerichtshof bestätigt worden war. Mollath galt bis Dezember 2012 als gemeingefährlicher und psychisch schwer gestörter Wirrkopf. Davon ist heute bei der Justiz nicht mehr die Rede, obwohl es noch kein neues psychiatrisches Gutachten gibt. Das Fragezeichen im ersten Artikel der NN kann heute getrost wegfallen.

Ich stieß als Redakteur und Autor der Geschichte Mollaths auf diese zunächst unglaubliche Angelegenheit eines Mannes, der behauptete, er sei im Rosenkrieg mit seiner damaligen Frau völlig zu unrecht in der Psychiatrie weggesperrt worden, weil er Schwarzgeldschiebereien angezeigt hatte, durch einen Zufall. Ein Bekannter, mit dem ich vor 30 Jahren die Deutsche Journalistenschule in München besucht hatte und der beim swr arbeitet, rief mich an. Er fragte mich, ob ich ihn nicht bei einer Recherche in Nürnberg unterstützen könne. Er sei mit einem äußerst kuriosen Fall beschäftigt. Über den Rundfunk-Kollegen kam ich auch in Kontakt mit Dr. Wilhelm Schlötterer in München, dem früheren hohen Beamten im Finanzministerium, der sich mit dem Fall Gustl Mollath zuvor intensiv beschäftigt hatte. Eine sehr heterogene Unterstützergruppe des inhaftierten Nürnbergers hatte sich an ihn gewandt. Schlötterer hat mit seiner tief greifenden Analyse der komplexen Vorgänge um Mollath, dessen Ex-Frau und deren Kollegen, die HypoVereinsbank, bei der sie beschäftigt waren, und die Justizbehörden bis hinauf zur Justizministerin Beate Merk einen scharfen Blick auf die offenen Fragen des Falles gelenkt. Die maßgeblichen Fakten, die seine Erläuterungen stützten, und die am Ende zu einer Wende in der Behandlung des Falles Mollath führten, kamen durch NN-Recherchen ans Tageslicht. Diese Recherchen liefen dann von Anfang an getrennt von denen der SWR-Kollegen.

Bei den ersten Anläufen zu diesen Recherchen im Juli 2011 – die Fahrten zu Mollath oder zu Dr. Schlötterer, das Studium des umfangreichen Aktenmaterials fanden in meiner Freizeit statt – gab es auch innerhalb der Redaktion der Nürnberger Nachrichten zunächst Diskussionen über Sinn und Unsinn einer solchen Arbeit, was bei derart undurchschaubaren Gegebenheiten mit unvorstellbaren Wendungen und einer unglaublichen Fülle von Details unumgänglich ist. Es stellte sich heraus, dass Kollegen schon Jahre zuvor versucht hatten, den Fall Mollath journalistisch in den Griff zu bekommen, was aufgrund der Umstände, zu denen auch das zeitweise verstörende Verhalten Mollaths gehörte, nicht gelang. Außerdem war Mollaths Gerichtsverhandlung 2006 vor dem Landgericht schon Gegenstand der Berichterstattung, und von den daran Beteiligten konnte sich niemand vorstellen, dass dort ein großes Unrecht geschehen ist. Mollath galt als „komischer Vogel“, der seiner Frau Gewalt angetan und andere durch Reifenstechereien gefährdet hatte, und den anerkannte Gutachter als psychisch krank einstuften. Das war auch über Monate hinweg die Standard-Antwort meiner Anfragen bei Justizbehörden auf allen Ebenen. Auch die Ministerin nahm im Landtag, wo der Fall Mollath später immer wieder hart diskutiert wurde, diese Haltung ein. Sie war seit Jahren durch Eingaben, Petitionen oder Anfragen mit dem Fall Mollath beschäftigt.

Zu ersten Veröffentlichung unter dem Titel „Ein gar nicht so fernes Unrecht?“ entschloss ich mich, als Psychiater offen harsche Kritik an den Gutachten über Gustl Mollath äußerten, und als sich ein alter Bekannter des Mannes zu Wort meldete, der glaubhaft darlegte, Mollaths Frau habe ihm, dem Bekannten, gegenüber damals angekündigt, sie werde ihren Mann fertig machen. Sie habe gute Beziehungen und werde ihn auf seinen Geisteszustand überprüfen lassen. Das alles war in der ersten Reportage vom 7. Oktober 2011 veröffentlicht. Diese Stellungnahme des Bekannten gehörte auch zum Kern des Wiederaufnahmeantrags der Staatsanwaltschaft vom März 2013. Bis sie so ernst genommen wurde, sollte aber viel passieren. Zunächst verschwand sie in den Akten.

Gut einen Monat später, am 11. November 2011, bekam ich von der HypoVereinsbank eine höchst aufschlussreiche Antwort auf eine umfangreichere Anfrage, die ich stellte, nachdem ich tief in das umfangreiche, ungeordnete Material, das ich mir beschafft hatte, eingedrungen war und es durchgearbeitet hatte. Die Bank musste in ihrer Stellungnahme zugeben, dass die Aktivitäten Mollaths zu einer internen Untersuchung geführt hatten und dabei festgestellt worden war, dass sich Mitarbeiter im Zusammenhang mit Schweizer Bankgeschäften weisungswidrig verhalten hatten. Mehr als zwei Sätze waren das nicht, Nachfragen wurden nicht mehr zugelassen. Von größter Bedeutung war die Auskunft dennoch, denn sie war der erste Beleg dafür, dass die Bank selbst die Vorwürfe Mollaths schon 2003 ernster genommen hatte als die Justizbehörden. Erst ein Jahr nach meiner Anfrage, nämlich 2012, tauchte dann der komplette Bericht der Bank aus dem Jahre 2003 auf, der damals schon bestätigte, dass Mollath Behauptungen im Kern zutreffend waren. Die Justiz kannte diesen Bericht nicht und hatte ihn auch nie angefordert. Das tat die Nürnberger Staatsanwaltschaft erst, nach dem Bericht der Nürnberger Nachrichten vom November 2011. Im Dezember 2011 begannen dann auch politischen Debatten über den Fall Mollath und die möglichen Versäumnisse der Justiz samt Ministerin, über die mehrere Berichte in den NN folgten.

Der Schwung der Diskussion nahm zu, als durch meine Recherchen (Veröffentlichung am 29. Oktober 2012) bekannt wurde, dass die Nürnberger Steuerfahndung aktiv geworden ist. Auch sie stützte sich ausdrücklich auf Mollaths Angaben, die zuvor von der Justiz nie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden waren. Recherchen in Steuer-Angelegenheiten gehören zu den schwierigsten Unterfangen eines Journalisten. Der politische Druck auf die bayerische Justizministerin nahm stetig zu. Hinzu kamen meinerseits Veröffentlichungen, die den kurzen und fragwürdigen Prozess beschrieben, der Gustl Mollath in die Psychiatrie brachte. Einen Monat später, Ende November 2012, schaltete sich Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer wohl aus Furcht um politischen Schaden für den Ruf seiner Regierung ein. Die Justiz, so sagte er knapp aber deutlich, sei gut beraten, den Fall Mollath noch einmal neu zu bewerten. Zunächst hielt die Justiz es dann lediglich für angebracht, Mollath noch einmal neu psychiatrisch untersuchen zu lassen. Dazu kam es bis heute nicht, weil sich die Ereignisse überstürzten.

Das entscheidende Rechercheergebnis habe ich am 30. November 2012 veröffentlicht. Ich hatte herausgefunden, dass der Richter, der Mollath 2006 verurteilte, bereits 2004 bei den Steuerbehörden angerufen und Mollath dort offen als „verrückt“ bezeichnet hatte, zu einem Zeitpunkt als noch gar kein Gutachten vorlag. Daraufhin hat man seine Anzeigen wegen Schwarzgeldschiebereien als erledigt abgehakt. Schon einen Tag nach Veröffentlichung dieser Fakten in den NN hat Bayerns Justizministerin ein Wiederaufnahmeverfahren angeordnet. Zur Begründung wies sie ausdrücklich auf den Inhalt meines Berichts hin.

Seit Ende März 2013 liegt der Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft Regensburg vor, der schwere Fehler, unglaubliche Versäumnisse und nur kaum erklärbare Vorgänge zu Lasten Mollaths auflistet. Auch ein NN-Beitrag gehört zu diesem Antrag der Justiz, über den das Landgericht zusammen mit dem des Mollath-Anwalts Gerhard Strate aus Hamburg in den kommenden Wochen entscheidet. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass es zu einem neuen Prozess kommen wird.