Entführt und befreit: Denis MOOK, ein ähnlicher Fall

22. September 1988

Denis MOOK, sieben Jahre alt, wird morgens um 7:30 auf dem Weg in seine Schule “An der Robionsbalje” in Bremen in ein Auto gezerrt, das urplötzlich anhält. Ein junger Mann hält ihm eine Pistole vor die Nase und herrscht ihn an, er soll keinen Mucks von sich geben.

Der Entführer: der 23jährige Marcus Franz Josef NOLTE. Er ist mehrfach vorbestraft: räubersiche Überfälle auf Sexshops, Drogerien und Juweliere. Mit seinem Opel Ascona fährt er das Kind in ein angemietetes Ferienhaus in Brandscheid in der Eifel unmittelbar an der belgischen Grenze gelegen. Der Ort ist klein, die Gegend weitläufig und dünn besiedelt. Eine Strecke über 400 Km, für die man mindestens fünf Stunden benötigt.

Dort wird der 7jährige Denis in eine Holzkiste gesperrt, Hände und Füße gefesselt, im Mund einen Knebel. Die Kiste: 90 x 50 x 40 cm. 

Die alleinerziehende Mutter, 29 Jahre alt, arbeitet bei der Post, kommt erst abends nach Hause. Denis ist nicht da. Nachfragen bei Nachbarn und Freunden bringen nichts. Due Mutter gerät in helle Aufregung, geht zur Polizei und erstattet eine Vermisstenanzeige.

Die Polizei reagiert auf der Stelle. Die Tragödie der “Geiselnahme von Gladbeck” einen Monat zuvor, bei der drei Menschen ums Leben kamen, darunter ein Kollege aus Bremen, steckt noch in allen Knochen. So beginnt die Polizei unmittelbar am nächsten Morgen mit der Fahndung. Hubschrauber und Taucher sind im Einsatz, die Beamten verteilen Flugblätter, fahren mit Lautsprecherdurchsagen durch die ganze Gegend. Kein Quadratmeter wird ausgelassen. Das ganze Programm.

Die Suche bleibt erfolglos. Die Mutter verzweifelt.

26. September - Tag 5 der Entführung

NOLTE startet ein Täuschungsmanöver. Um die Polizei im Glauben zu lassen, dass das entführte Kind immer noch irgendwo in Bremen oder Umgebung wäre, setzt er mehrere Brief auf, denen er ein Polaroidfoto von Denis und einen von ihm handgeschriebenen Zettel beifügt. NOLTE will 1 Million Lösegeld.

Wenn Sie meine Forderungen nicht erfüllen, wird Denis getötet. Noch am selben Tag wird dann irgendwo in Deutschland ein zweites Kind entführt. Dessen Freilassung kostet dann allerdings 1,5 Millionen, weil es schließlich keinen Spaß macht, kleine Kinder zu töten”, schreibt NOLTE.

Dann fährt er mit seinem Opel Ascona nach Bremen. Als es dunkel ist, parkt er das Auto in der Nähe, steigt aus und wirft den ersten Brief bei Denis' Mutter in den Briefkasten. Den zweiten bei Bremens amtierenden Bürgermeister Klaus WEDEMEIER (SPD). Danach fährt NOLTE nach Hamburg, steckt den dritten Brief bei der Redaktion der BILD-Zeitung in den Kasten.

Seine Hoffnung, wie er später vor Gericht aussagen wird: „Ich ging davon aus, dass die Bremer Polizei nach diesen Pannen kein weiteres Risiko mehr eingehen würde, um ihren Ruf nicht ganz zu ruinieren."

Der kleine Denis liegt derweil zusammengepfercht in der 90 x 50 x 40 cm großen Kisten, mit Schlaftabletten ruhiggestellt.

tags drauf

Die Polizei reagiert wieder schnell und professionell. Sie bittet alle Medien, nicht über den Fall zu berichten. 

Alle halten sich daran. Die BILD allerdings wird - wieder einen Tag später - von der Polizei dazu auserkoren, im der überregionalen Anzeigenteil dem Entführer eine Nachricht zu übermitteln: 

Denis: wir sagen Ja”.

An diesem Tag, 28. September, hat Denis Geburtstag: sein achter, den er zwangsweise verbringen muss - ohne seine Mutter und ohne seine Freunde.

29. September 1988 - Tag 8 der Entführung

Die Muttter von Denis und die Polizei sind guter Hoffnung, gehen davon aus, dass Denis noch am Leben ist. Jedenfalls vermittelt dies das Foto. Und in Bremen geht alles ganz unbürokratisch. Die Landesbank in Bremen ("NORD/LB") stellt das Geld in den gewünschten Scheinen bereit und ein Beamter ders MEK (Mobiles Einsatzkommando) fliegt damit nach München. Dort ruft der Entführer wie ausgemacht um 15:03 im Polizeipräsidium an und beauftragt die Polizei aus einem Schließfach am Hauptbahnhof ein Schreiben abzuholen, in dem genaue Angaben zur Geldübergabe gemacht sind. 

Wie von NOLTE gefordert, steigen am frühen Abend zwei Polizeibeamte mit dem Lösegeld in den Intercity “Hercules” nach Kassel. Dort müssen sie um 23:09 umsteigen in einen D-Zug nach Hamm. Um 24:00 Uhr erkennen die Beamten das verabredete Blinklicht am Rande des Gleises und werfen den mit dem Lösegeld gefüllten Plastiksack aus dem Zug. 

Die Geldübergabe scheitert. Der Plastiksack platzt, die Scheine verteilen sich durch die Luft, NOLTE verschwindet. Die vielen Scheine mühsam bei Dunkelheit zusammenzusuchen, ist aussichtslos. Und zu gefährlich. Die Polizei weiß, wo in etwa sie das Geld aus dem Zug geworfen haben.

30. September - Tag 9 der Entführung

Morgens sammeln Polizisten aus der Umgebung das Lösegeld wieder ein - bis auf 13.000 DM.

Derweil ruft NOLTE wütend bei der BILD-Zeitung in Hamburg an und fordert eine Erklärung. Diesesmal fungiert das ZDF als Nachrichtenübermittler. In der “heute”-Sendung um 16:55 gibt der Nachrichtensprecher dies bundesweit bekannt: 

"Ein achtjähriger Junge, der seit einer Woche in Norddeutschland vermisst wird, ist offenbar entführt worden. Wie das ZDF erfuhr, hat die Polizei heute Morgen versucht, den Entführern das Geld zu übergeben. Dieser Versuch ist gescheitert. Die Polizei fragt sich, warum?“

1. Oktober - Tag 10 der Entführung

NOLTE meldet sich erneut bei der Hamburger BILD-Redaktion. Er fordert eine neue Geldübergabe - nach dem gleichen Prinzip. Und er besteht auf einem weiteren Signal für die erneute Bereitwilligkeit der Lösegeldzahlung

3. Oktober

Die BILD druckt auf Seite 1 - prominent platziert: "Denis: Wir sagen ja. Aber: was ist auf Deinem Geburtstagsbild"?"

tags drauf, 4. Oktober und 13. Tag der Entführung

Und wieder reist ein Bremer Beamter mit dem Lösegeld nach München und wieder muss er in den IC “Hercules” von München nach Kassel einsteigen und dort umsteigen in den D-Zug nach Hamm.

Als der Zug planmäßig in Lippstadt (Nordrhein-Westfalen) hält, nimmt der von der Polizei bisher nicht erkannte und in einem Blaumann gekleidete NOLTE den Zugbegleiter als Geisel und gibt sich den beiden Polizisten zu erkennen, fordert das Lösegeld, bekommt es ausgehändigt und flüchtet mit seiner Geisel zu einem VW-Golf mit gestohlenem Kennzeichen, der er zuvor direkt am Bahnhof abgestellt hat.

Dort lässt er die Geisel frei, tritt aufs Gaspedal und ist weg.

Die Polizei hatte Vorsorge getroffen. Ein Mobiles Einsatzkommando hat den Zug auf den Strassen begleitet. Und kann NOLTE verfolgen. 

Der durchbricht zwei inzwischen auf die Schnelle aufgebaute Strassensperren. Als er auf einem Feldweg ausbrechen will, versagt das Auto. NOLTE sitz fest. Und kann verhaftet werden.

Die Beamten nutzen den Schockzustand und versuchen mit einer “energischen Sofortvernehmung” Informationen zum Aufenthaltsort von Denis zu bekomen.

NOLTE weigert sich.

Einer der Beamten gibt sich einen Ruck. Lässt Dienstvorschriften beiseite. Er schlägt NOLTE. Heftig. 

NOLTE reagiert: Er sagt, wo sich Denis befindet.

Knapp zwei Stunden später, es ist mitten in der Nacht, um 2:32 Uhr wird Denis gefesselt in seiner 90 x 40 x 50 cm großen Holzkiste lebend gefunden und befreit.

Die Bremer Polizei fliegt die Mutter in einem Polizeihubschrauber in die Eifel. Sie kann dort ihren inzwischen achtjährigen Denis in die Arme nehmen.

danach

Der MEK-Beamte, der NOLTE geschlagen und damit die Preisgabe des Verstecks erreicht hat, zeigt sich selbst an.

Die Staatsanwaltschaft stellt das Ermittlungsverfahren ein. Sie kann sich auf § 34 des Strafgesetzbuches (StGB) berufen: “Rechtfertigender Notstand”. Darin heißt es klipp und klar:

“Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.”

3. März 1989

Ein halbes Jahr später wird Marcus Franz Josef NOLTE wegen Menschenraub, räuberischer Erpressung und Geiselnahme durch die II. Große Strafkammer des Bremer Landgerichts zu 12 ½ Jahren Gefängnis verurteilt.

September 2006 - 18 Jahre nach der Entführung

Die BILD-Zeitung, die zwei Male als Informationsvermittler agiert hatte, veröffentlicht ein Interview mit Denis MOOK, der jetzt 25 Jahre alt wird. Es ist das erste Mal, dass Denis über seine Entführung spricht und wie er damit fertig geworden ist.

Er hat inzwischen eine Tischlerlehre hinter sich, das Abi gemacht, ist/war deutscher Kung-Fu-Vizemeister (bis 75 Kilo) und zeichnet heute Comics. Hier ist der Link zum Interview “Aufgespürt”.

(JL)