"Folter oder nicht?"

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung München präsentieren wir hier einen Artikel vom 19.02.2005 des SZ-Redakteurs Hans HOLZHAIDER, der sich mit der schriftlichen Urteilsbegründung in Sachen Ex-Polizei-Vize Daschner auseinandersetzt.


Respekt für Wolfgang DASCHNER

Aus der schriftlichen Urteilsbegründung der 27. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt im Verfahren gegen den ehemaligen Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner:

"Das strikte Verbot (des Grundgesetzes), einem Beschuldigten Gewalt auch nur anzudrohen, ist bereits das Ergebnis einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Interessen. (. . .) Ein Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde ist daher auch als verwerflich anzusehen, wenn dieser subjektiv zu dem Zweck erfolgt ist, das Leben eines Kindes zu retten. (. . .) Die (in der Literatur) diskutierten Ausnahmefälle sind theoretische Grenzfälle, die möglicherweise hinsichtlich der Bewertung in eine juristische Grauzone und an die Grenzen der Jurisprudenz stoßen. Der vorliegende Fall stellt aber keine derartige extreme Ausnahmesituation dar. (. . .) Es lag jedoch für den Angeklagten aus subjektiver Sicht eine Situation vor, die eine gewisse Nähe zu Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen hatte. Die Verteidigung der Rechtsordnung hat es geboten, dass ein Schuldspruch erfolgt, nicht aber eine Bestrafung."

1. Über die Menschenwürde 

Die Menschenwürde! Der Inbegriff schlechthin des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats! Der erste Satz im ersten Artikel des Grundgesetzes erklärt sie für unantastbar. Alles darf der Staat antasten - das Eigentum, die Freiheit, im äußersten Fall sogar das Leben, nur die Menschenwürde nicht.
Müsste also nicht die Menschenwürde das am besten geschützte Gut in diesem Staat sein? Geschützt durch die härtesten Strafandrohungen, die unser Strafgesetz kennt? Aber seltsam: Wir blättern durch das Inhaltsverzeichnis des Strafgesetzbuchs, wir finden Straftaten gegen das Leben und gegen die körperliche Unversehrtheit, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen das Eigentum, gegen die Umwelt und sogar gegen den Wettbewerb.

Straftaten gegen die Menschenwürde aber finden wir nicht.

Ist sie uns doch nicht so wichtig, die Menschenwürde, wie es den Anschein hat? Oder liegt es daran, dass niemand recht zu sagen weiß, was die Menschenwürde eigentlich ist, wenn man den Begriff unter dem nüchternen Licht gerichtsfester Definitionen sezieren will? Oder - finsterer Verdacht - gibt es einen breiten, aber heimlichen Konsens, dahingehend, dass dieser Staat in Teufels Küche käme, wenn jedermann in jeder Lebenssituation ein einklagbares Recht auf die Wahrung seiner Menschenwürde besäße?

Denn Tatsache ist, dass die Menschenwürde täglich millionenfach angetastet wird, von Eltern, von Lehrern, von Arbeitgebern, vom Staat in seinen verschiedensten Erscheinungsformen. Und Tatsache ist auch, dass wir diese Verstöße als Teil unseres täglichen Lebens zu akzeptieren gelernt haben. Wenn wir die von Kants Sittenlehre abgeleitete These ernst nehmen, dass die Menschenwürde immer dann verletzt werde, wenn der Mensch zum bloßen Objekt fremder Interessen "herabgewürdigt" wird, dann ist sofort offensichtlich, dass die Behauptung, die Menschenwürde sei das höchste Gut unseres politischen Systems, eine blanke Lächerlichkeit darstellt.

Kinder werden von Erwachsenen als Erziehungsobjekte gebraucht, Schüler als Objekte staatlichen Bildungsanspruchs, Arbeitnehmer als Objekte der ökonomischen Interessen ihrer Betriebe, Soldaten als Objekte militärischer Gehorsamspflicht, Straftäter als Objekte des staatlichen Gewaltmonopols. Die Verletzung, oder sagen wir es etwas milder, die Einschränkung der Menschenwürde wird frag- und klaglos in Kauf genommen, wenn das wirklich oder vermeintlich höheren Interessen dient. Der Arbeiter wird entlassen und in die menschenunwürdige Rolle des Almosenempfängers gezwungen, wenn das Unternehmen dadurch seine Kosten senken kann. Der Rekrut wird gezwungen, in stumpfer Monotonie Kehrtwendungen zu vollziehen und im Takt des Gleichschritts militaristische Lieder zu grölen, weil dies angeblich der Disziplin dient, ohne die eine Armee nicht funktionieren könne. Straftätern aller Art wird die Freiheit entzogen, die ja nach jeder denkbaren Definition ein unverzichtbarer Bestandteil der Menschenwürde ist, weil ihr Verbrechen gesühnt und die Gesellschaft geschützt werden soll. Keinem vernünftigen Menschen käme es in den Sinn, sich darüber zu empören.

Aus all dem lernen wir, dass der Satz "Der Zweck heiligt das Mittel" nicht in jedem Fall von verwerflichem Opportunismus zeugt. Mancher Zweck heiligt manches Mittel. Der Zweck, Menschen vor Gewalttätern zu schützen, heiligt das Mittel, anderen Menschen, von denen eine Gefahr ausgeht, die Freiheit zu entziehen. Nach geltendem Recht heiligt der Zweck, das Leben einer Geisel zu retten, das Mittel, den Geiselnehmer mit einem gezielten Schuss zu töten. In dem vom Bundestag beschlossenen neuen Luftsicherheitsgesetz heiligt der Zweck, das Leben einer unbekannten Anzahl potenzieller Opfer eines Terroranschlags zu retten, sogar das Mittel, eine andere unbekannte Anzahl unschuldiger Menschen zu töten. Darüber wird noch zu entscheiden sein, aber immerhin kann darüber diskutiert werden, ohne dass sich die Urheber des Gesetzes als eine Bande von Mordbrennern beschimpfen lassen müssen.

Der Polizeibeamte Daschner aber wird zum Folterknecht abgestempelt, weil er angeordnet hat, dem Entführer eines elfjährigen Buben Schmerzen zufügen zu lassen, wenn dieser nicht bereit sei, das Versteck seines Opfers zu verraten. Es ging ihm, das ist unbestritten, nicht um das Abpressen eines Geständnisses, sondern um die Erlangung einer Information, die nach seiner festen Überzeugung notwendig war, um das akut bedrohte Leben des Kindes Jakob von Metzler zu retten.

2. Über die Folter

"Folter" ist ein Reizwort. Folter ist das Böse schlechthin, die ultimative Negation der Menschenwürde. Aber wiederum sucht man im Strafgesetzbuch vergeblich nach einer Strafandrohung für den, der "foltert". Der Begriff kommt im Gesetz nicht vor. Das Strafgesetz kennt nur die Körperverletzung. Das klingt sehr viel weniger spektakulär als "Folter". Eine Körperverletzung im Amt würde man unter bestimmten Umständen verzeihen, Folter niemals. Warum nicht? Weil Folter mehr ist als Körperverletzung. Das abgrundtief Böse an der Folter ist ihre Zielsetzung, das Opfer zu demütigen, zu erniedrigen, es vollständig zu unterwerfen. Dem Folterer kommt es nicht vorrangig darauf an, eine bestimmte Information zu erlangen, sondern darauf, das Opfer zu zerbrechen, es zum Verrat an seinem eigenen Menschsein zu zwingen. Zweck der Folter ist es, Terror zu erzeugen, Unterdrückung zu stabilisieren. Das sind die Konnotationen, die das Wort "Folter" auslöst, das sind die Markenzeichen der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Niemand hat das je präziser formuliert als George Orwell, der mit dem O´Brien in "1984" sozusagen den Archetypen des modernen Folterers geschaffen hat. "Der Zweck der Macht ist die Macht", sagt O´Brien einmal zu seinem Opfer Winston, "der Zweck der Folter ist die Folter."

Aus diesem Grund ist das absolute Folterverbot, wie es in der Genfer Konvention formuliert ist, richtig und unverzichtbar und kann niemals zur Disposition stehen. Aber aus dem selben Grund ist es absurd, Wolfgang Daschner einen Folterer zu nennen, auch wenn er unwillentlich selbst dazu beigetragen hat, diesen Anschein zu erwecken. Seine Forderung, einen "Spezialisten" einzufliegen, seine Absicht, einen Arzt zuzuziehen, weckten fatale Assoziationen. Hätte Daschner, nach Schimanski-Manier, sich den Täter zur Brust genommen und ihn angebrüllt: "Spuck´s aus, sonst gibt´s was in die Fresse" - kein Mensch wäre je auf die Idee gekommen, von Folter zu reden.

3. Ein Rotzlöffel

Da saß also Magnus Gäfgen, von dem zweifelsfrei feststand, dass er den elfjährigen Jakob entführt und dafür eine Million Euro Lösegeld in Empfang genommen hatte. Gäfgen gab sich gelangweilt. Er habe ja aus seinem Jurastudium gewusst, dass er das Recht habe, nichts auszusagen, erklärte er als Zeuge im Prozess gegen Wolfgang Daschner. Den Tag nach der Lösegeldübergabe hatte er damit verbracht, einen neuen Mercedes zu bestellen und Probe zu fahren, und eine Urlaubsreise für sich und seine Freundin nach Fuerteventura zu buchen. Jetzt saß er da im Polizeipräsidium, ein arroganter Rotzlöffel, dem noch nie jemand seine Grenzen aufgezeigt hatte. Vielleicht ist ja dies die Krankheit, der der arme Jakob zum Opfer gefallen ist: der Wahn, dass alles nur ein Spiel sei, ein spannendes Spiel um Geld und Liebe, in dem alles erlaubt ist, weil man hinterher die Figuren wegräumt und es ist, als wäre nichts geschehen. Vielleicht war auch das ein Handlungsanstoß für Daschner: Jemand musste diesem jungen Mann zeigen, dass es ernst ist, dass er sich im wirklichen Leben befindet und nicht auf einer Spaßparty oder in einem juristischen Repetitorium.

Trotzdem bleibt die Androhung von Gewalt eine Straftat, von der Anklage zutreffend beschrieben als Nötigung. Daschner berief sich zu seiner Rechtfertigung auf den Paragrafen 34 des Strafgesetzbuchs. Es lohnt sich, diese Vorschrift hier einmal im vollen Wortlaut zu zitieren:

"Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, wenn die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden."

4. Daschners Dilemma

Ohne jeden Zweifel war es Daschners Pflicht, von einer "gegenwärtigen Gefahr" für das Leben des entführten Kindes auszugehen. Die Fälle Matthias Hintze (1997) und Ursula Herrmann (1981) - beide starben eines elenden Todes in unterirdischen Verstecken - haben auf grausame Weise vor Augen geführt, wie lebensentscheidend es sein kann, ein Entführungsopfer schnell zu finden. Dass bei einer Abwägung der Interessen das Recht des Opfers auf sein Leben das Recht des Täters auf absolute körperliche Unversehrtheit "wesentlich überwiegt", kann nur ein Zyniker bestreiten. Diskussionswürdig ist allenfalls die Frage, ob das Mittel "angemessen" war. Das Gericht hat das verneint, mit dem lapidaren Hinweis, die Androhung von Gewalt verstoße gegen das Grundgesetz. "Angemessen" ist ein Mittel dann, wenn der Schaden, den es anrichtet, nicht schwerer wiegt als der, den es abwenden soll. Wog der Schaden, der Magnus Gäfgen durch die Androhung von Gewalt zugefügt wurde, tatsächlich schwerer als der zu befürchtende Tod des Kindes Jakob?

Es gibt keinen Freibrief zur Misshandlung von Gefangenen, und es darf nie einen geben. Aber es gibt Situationen, in denen ein Mensch, ob Polizeibeamter oder nicht, eine Entscheidung treffen muss zwischen zwei Übeln. Es ist nicht allzu schwierig, Daschners Dilemma nachzufühlen: Gesetzt den Fall, das Kind hätte, wovon die Polizei ausgehen musste, noch gelebt, und wäre gestorben, während man vergeblich versuchte, den Täter zur Preisgabe des Verstecks zu überreden - wie hätte der verantwortliche Polizeibeamte den Eltern gegenübertreten sollen? Hätte er sagen sollen: "Es tut mir sehr leid, vielleicht hätte ich das Leben Ihres Kindes retten können, wenn ich dem Täter gedroht hätte, ihm die Zähne einzuschlagen, aber die Unversehrtheit der Zähne des Herrn Gäfgen ist ein höheres Rechtsgut als das Leben Ihres Sohnes Jakob"?

Ich höre empörten Protest: Nein, es gehe nicht um Herrn Gäfgens Zähne, sondern um die Grundfesten unserer Rechtsordnung, und die seien allemal noch wichtiger als das Leben eines Einzelnen.

Das mag sein. Aber die Grundfesten unserer Rechtsordnung waren nicht gefährdet. Kein Damm ist gebrochen, keine Tür irgendwohin wurde geöffnet, kein Freibrief für irgendetwas wurde ausgestellt. Daschner hat in einer konkreten Notlage eine Straftat begangen, um das Leben eines Kindes zu retten, und er hat selbst die Staatsanwaltschaft davon in Kenntnis gesetzt. Dafür gebührt ihm Respekt. Kein Verdienstorden, aber Respekt. Die Staatsanwaltschaft hat ihn angeklagt, und ein Gericht hat nach Recht und Gesetz geurteilt. Das ist alles.