Dissertationsstandards in Leipzig: "Leipziger Allerlei"?
Wissenschaft und Transparenz
Wissenschaft setzt Transparenz voraus und lebt gleichzeitig von ihr: Transparenz über neu gewonnene Erkenntnisse, aber auch über den Weg und die Methoden, wie man zu neuem Wissen gekommen ist. Das gilt generell und natürlich auch für jene, die sich für wissenschaftliches Arbeiten qualifizieren wollen.
Wissenschaftliche Intransparenz gibt es vor allem in jenen Forschungsbereichen, die von Menschen und/oder Institutionen betrieben werden, die nur an spezifisch-nützlichen Informationen ein Interesse, konkret: ein Eigeninteresse haben, meist ein wirtschaftliches. Manchmal sind es auch politische oder andere Motive, die “Wissenschaftler” dazu bringen, im Sinne ihrer (finanziellen) Auftraggeber zu forschen oder “wissenschaftliche Expertise” etwa in Form von Gutachten von sich zu geben. Und dann dabei unbequeme oder gar unliebsame Erkenntnisse bewusst zu verschweigen. Wir haben dazu im Eingangstext dieses Themas 'Plagiate oder nicht?' Anmerkungen gemacht.
Regeln zur Herstellung von Transparenz
Für wissenschaftlich redliches Arbeiten gibt es daher klare Transparenz-Regeln. Und erst recht für jene, die sich auf diese Art von Wissenschaft vorbereiten wollen. Etwa mittels einer Dissertation.
Die gängige Rechtsprechung dazu, worauf es bei dieser Qualifikation ankommt, haben wir dokumentiert unter Wie alles aufflog: In einer Doktorarbeit muss - mehr oder weniger lückenlos - erklärt sein, was ein Doktorand an eigenen Ideen, Überlegungen, Schlussfolgerungen bzw. Forschung zustande gebracht hat, und was er von anderen übernommen, sprich: zitiert hat.
Wie von der informellen “AG Gemeinschafts-Doktorarbeit” recherchiert und von uns dokumentiert entsprechen die genannten (inzwischen 6) Dissertationen aus der Fakultät Physik und Erdwissenschaftssystem der Uni Leipzig diesen Anforderungen nicht. Jedenfalls nicht wirklich.
Die "Leitlinien" der DFG zur "Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis"
Nun will man uns glauben machen, dass es in der Physik (inzwischen) üblich sei, dass angehende Doktoranden, die in Projekten von Professoren mitarbeiten, also möglicherweise wichtige Vorarbeiten übernehmen und/oder langwierige Rechenarbeiten durchführen, als Belohnung gewissermaßen als Mitautoren bei anschließenden wissenschaftlichen Publikationen mit aufgeführt werden. Bzw. je nach Arbeitsumfang sogar an erster Stelle aller Verfasser stehen. Das kann - im Prinzip - ein faires Vorgehen sein. Auch wenn dann im Fall von mehreren Autoren nicht ersichtlich ist,
- wer
- in welchem Umfang
- und inhaltlich bei was genau
am Zustandenkommen einer solchen wissenschaftlichen Veröffentlichung beteiligt war.
Wenn solche Gemeinschaftspublikationen von mehreren Verfassern dann aber zur alleinigen und/oder maßgblichen Grundlage einer Doktorarbeit eines daran mitbeteiligten Doktoranden werden und dann der eigene Anteil an der wissenschaftlichen Leistung nicht konkret und detailliert ausgewiesen wird, dann wird es problematisch. Denn es entspricht nicht den Anforderungen redlichen wissenschaftlichen Arbeitens. Und auch nicht den Beurteilungen der Gerichte in solchen Fällen.
Regeln: Übereinkünfte, die nicht ewig festgeschrieben sein müssen
Nun stellen Regeln Übereinkünfte dar, die man mehrheitlich oder sogar im Konsens verändern kann. Wenn man es möchte, weil man es für sinnvoll hält. Will man das, dann muss es kommuniziert werden. Damit jeder weiß, dass jetzt anderes gelten soll. Das wird dann auch die Rechtsprechung berücksichtigen (müssen).
Im Zusammenhang mit “Dr. rer. nat”-Doktorarbeiten aus dem Bereich der Physik ist dies bisher - jedenfalls aus unserer Wahrnehmung - nicht geschehen.
Bisher gelten/galten Vorstellungen, dass Dissertationen in dieser ‘Branche’ besonders anspruchsvoll bis schwer waren. Etwa im Gegensatz zu einem Doktortitel “Dr. med.”, bei dem es in der Regel ausreicht, etwa eine kleine Versuchsanordnung durchzuführen, die Daten in eine Tabelle zu kleiden und dann alles noch in vollständigen Sätzen schriftlich zusammenzufassen.
Abstufungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Leistungen
Weil es ganz offensichtlich unterschiedliche Anforderungen hinsichtlich des Schwierigkeitsgrads und des Aufwands bei Dissertationen gibt, die von Universität zu Universität bzw. deren Fakultäten und zusätzlich nach den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen variieren, würde es absolut Sinn machen, solche unterschiedlichen Leistungen angehender Doktoren bzw. Wissenschaftler als solche auch kenntlich machen zu können. Das wäre nur fair. Und würde auch dem Transparenzgebot entsprechen. So dass jeder weiss, wie ein Doktortitel zustande gekommen ist.
Die Dissertationen aus dem Bereich der Physik würden, wenn dem so wäre, wie es die Leipziger Fakultät offenbar kommuniziert, in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Skala der Beurteilung hinsichtlich der wissenschaftlichen Leistung wohl mehrere Stufen nach unten abrutschen. Wenn das die Mehrheitsmeinung in der Physik sein sollte, dann sollte die das auch so kommunizieren.
Allerdings: Wir können bisher nicht erkennen, dass dem so sein sollte. Bzw. dass das Vorgehen der Leipziger Physik-Fakultät allgemeiner Standard wäre. Aber wir lassen uns auch gerne eines Besseren belehren.
Dissertationen unterschiedlichen Standards: ein Dilemma für die Uni Leipzig?
Eine Hochschule. die sich im deutschen und internationalen Wettbewerb einen Exzellenz-Platz sichern will, muss um ihren guten Ruf bemüht sein. Und eigentlich alles dafür tun, sich an allgemeine und internationale Standards zu halten. Also etwa auch auf die Einhaltung der (derzeitigen) Regeln zur “Sicherung einer guten wissenschaftlichen Praxis” achten.
Die fraglichen 6 “Gemeinschafts-Doktorarbeiten” wie sie von der informellen Arbeitsgruppe bezeichnet werden, stellen so gesehen einen Testfall dar, wie die Hochschulleitung mit diesen Standards umzugehen gedenkt. Die Mitarbeiter der ermittelnden informellen und gleichnamigen Arbeitsgruppe sind übrigens überwiegend selbst akademische Mitglieder dieser Universität. Sie sind auf die Einhaltung redlicher Wissenschaftsstandards bedacht.
Die Leipziger Uni-Leitung steht möglicherweise - bzw. stand bis vor kurzem - vor einem Dilemma:
- Auf der einen Seite die üblichen Standards hochzuhalten
- auf der anderen nicht den eigenen Professoren auf die Füße zu treten.
Sie hat sich inzwischen entschieden. Konkret: Die Ombudskommission hat die kumulativen Doktorarbeiten von “Dr. rer. nat." FALASCO und “Dr. rer. nat.” LÄMMEL als solche anerkannt. Und dies bereits im sogenannten Vorprüfungsverfahren. Also bevor ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Damit sind an der Uni Leipzig (neue) Dissertationsstandards gesetzt. Über die genauen Begründungen will man offenbar Stillschweigen bewahren. So jedenfalls die Antwort der Pressestelle der Leipziger Universität. Bzw. deren Leiter des Bereichs “Krisenkommunikation”.
Pressestellen und deren Funktion
Pressestellen sind nicht unbedingt Quellen für (brauchbare) Informationen. Obwohl die Bezeichnung solches vermuten lässt.
Pressestellen haben asymmetrische Aufgaben, weil der eigentliche Zweck die Pflege und die Mehrung des guten Rufes einer Institution ist, also Imagepflege und Imageförderung. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise:
- Positive Informationen werden regelmäßig an die Medien kommuniziert bzw. gepostet - sozusagen im push-Verfahren, also freiwillig seitens der Pressestellen.
- Negatives wird nicht freiwillig weitergegeben. Da müssen Medien von sich aus nachfragen.
Der letztere Fall ist für eine Pressestelle der unangenehme Aufgabenpart. Zwei Möglichkeiten hat sie:
- Dinge, die nicht förderlich sind für das Image, herunterzuspielen, also kleinzureden bzw. kleinzuschreiben.
- Oder zu mauern. Also auf konkrete (Nach)Fragen einfach nicht zu antworten.
Die Pressestelle der Universität Leipzig macht da keine Ausnahme, obwohl sie als Teil einer “Körperschaft des öffentlichen Rechts” dazu verpflichtet ist - im Gegensatz zu privaten/privatwirtschaftlichen Institutionen.
Pressestelle Universität Leipzig: Sprachrohr für die gesamte Universität?
Wir hatten einige Abschnitte weiter oben das Problem eines potenziellen Dilemmas der Leipziger Universität thematisiert. Wenn die Pressestelle das offizielle Verlautbarungsorgan der Universität ist, dann versucht die Hochschule die Frage(n), Plagiate oder keine Plagiate, möglichst im Dunkeln zu halten.
So wollten wir uns beispielsweise die seltsam anmutenden Umstände der offiziellen “Verteidigung” ("Disputation") des Doktoranden Daniel GEIß erklären lassen (siehe unter Wie alles aufflog, dort unter dem Datumseintrag “November 2023”):
- Da war zunächst ein Vortrag ("In-person Talk") zum Promotionsthema des Doktoranden angesetzt. Durchgeführt jedoch nicht vom Doktoranden, sonder von einem anderen Mitarbeiter des Instituts, der kurz danach seinen “Master” machen wird und in seiner Freizeit "Acroyoga"-Kurse anbietet.
- Eine Stunde später dann die “Verteidigung” ("PhD Defense") unter demselben Titel durch den Doktoranden selbst.
Mehr als seltsam.
Wir hatten die Universität nach den Unterschieden zwischen beiden Veranstaltungen gefragt. Wollten auch wissen, wie lange beides gedauert hat. Und wollten wissen, warum der erste Vortrag des Mitarbeiters nach Aufnahme der Ermittlungen durch die Uni von der Website gelöscht worden war und und ob der Doktorand tatsächlich selbst die “mündliche Prüfung” ("defence") abgelegt hat. In einer Anfragerunde zuvor hatten wir zudem wissen wollen, wer denn alles im Promotionsausschuss vertreten war und bei diesem merkwürdigen “Verteidigungs”- bzw. Prüfungstermin mitgemacht hatte.
Die Antworten:
- Man “bemühe” sich um eine Klärung dieser Fragen.
- Und zur vorangegangenen Frage der Besetzung des Promotions- bzw. Prüfungsausschusses: Man könne aus Gründen der “Persönlichkeitsrechte” keine Auskunft erteilen.
- Auf unsere Nachfrage, wie denn die Teilnehmer einer öffentlich tagenden Promotionsverteidigung wegen des Schutzes von “Persönlichkeitsrechten” geheim bleiben könnten, dann dies: “Die Zusammensetzung ist nicht 'geheim', wir sehen es aber im derzeitigen Stand des Verfahrens nicht als unsere Aufgabe an, Dritten diese Information aufzubereiten.”
Das war Ende des Jahres 2023.
Im März 2024 war nun ein neuer aktueller, konkret: ein sechster Fall aufgetaucht, wiederum eine sogenannte kumulative Dissertation. In diesem Zusammenhang hatten wir eine neue Anfrage an die Uni bzw. deren Pressestelle gestellt und wollten wissen, wie es zu erklären sei, dass es während der noch nicht abgeschlossenen Prüfung der bisherigen fünf unter Plagiatsverdacht stehenden Doktorarbeiten durch die Ombudskommission zu einer weiteren Dissertation dieser Machart kommen konnte?
Antwort der Uni bzw. deren Pressestelle:
Die “Ständige Kommission” habe bei zwei kumulativen Doktorarbeiten ihre Prüfung eingestellt, weil sich
- in einem der Fälle ein Plagiatsverdacht “nicht hinreichend bestätigt”
- und im anderen Fall die Ombudsperson einen solchen bereits “im Rahmen der Vorprüfung ausgeräumt” habe.
Antwort auf unsere Nachfrage, wie denn dies begründet worden wäre: “Den übermittelten Aussagen fügen wir aktuell keine weiteren hinzu.”
Soll bedeuten: Die beiden fraglichen Promotionen von Dr. Gianmaria FALASCO und Dr. Marc LÄMMEL wurden von der Uni Leipzig bestätigt. Konkret: ein Freispruch (mehr dazu im Kapitel ABC der Verantwortlichen).
Universität Leipzig: ein neuer Dissertationsstandard
Jetzt ist es offiziell: Das - wir nennen es mal so: - Zusammenschustern von 11 wissenschaftlichen Fachveröffentlichungen, an denen ein Doktorand mitgearbeitet hat, der also einer von insgesamt 15 Autoren war, kann damit eine Dissertation bestreiten. Selbst wenn die 11 Fachartikel einfach hintereinander im originalen Zeitschriftenlayout zusammenkopiert werden: auf 106 von insgesamt 125 Seiten. Und das ohne Erklärung, worin der eigene wisenschaftliche Anteil an den neuen Erkenntnissen besteht.
So setzt sich die Doktorarbeit von Dr. rer. nat. Gianmaria FALASCO zusammen, hier in grafischer Form illustriert:
Übernahme von 11 Gemeinschaftspublikationen von insgesamt 15 Autoren. Anklicken öffnet ein besser lesbares PDF mit Angabe aller Quellen
Wie hoch der an sich geforderte “Eigenanteil” der wissenschaftlichen Leistung ist, weiß nun niemand, außer dem Betroffenen selbst.
Würde man kalkulieren, dass an den 106 Seiten gemeinschaftlicher Fachaufsätze jeder der beteiligten Verfasser gleichemaßen wissenschaftlich beteiligt war, dann könnte man “Dr. rer. nat. FALASCO” 7 Seiten davon zuerkennen. Zusammen mit den 19 Seiten, die er in seiner Dissertation zusätzlich getextet hat, wären dies dann 26 Seiten. Bezogen auf den gesamten Dissertationstext im Umfang von 125 Seiten immerhin 20%. Sollte der ihm zurechenbare Anteil höher ausfallen, würde sich der 20-Prozentwert steigern. Das ist natürlich nur eine rein formalistisch-rechnerische Betrachtung. Aber sie macht deutlich, wie einfach es jetzt sein kann, an der Universität Leipzig bisher übliche Standards neu zu interpretieren. Und zu realisieren.
Ungeachtet dessen: Es verbleibt der Umstand, dass nirgendwo irgendein wissenschaftlicher Eigenanteil ausgewiesen ist - weder in den Fachaufsätzen noch in der Dissertation. Also Standards allerlei Arten: Leipziger Allerlei?
(JL = Prof. Dr. em. Johannes LUDWIG)
Online am: 08.02.2024
Aktualisiert am: 20.03.2024
Inhalt:
- Plagiate: Wie alles aufflog. Und was danach passierte an der Uni Leipzig
- ABC der Verantwortlich(keit)en
- Die Recherchen der AG "Gemeinschafts-Doktorarbeit" an der Uni Leipzig
- Dissertationsstandards in Leipzig: "Leipziger Allerlei"?