Der große Boykott am 1. April 1933: aus dem Traditionskaufhaus Leonhard Tietz wird die "Kaufhof AG"
Vorbemerkung
Der nachfolgende Text ist dem 1989 erschienenen Buch “Boykott-Enteignung-Mord. Die ‘Entjudung’ der deutschen Wirtschaft” von Johannes LUDWIG entnommen und wird hier als Onlinedokumentation präsentiert. Ein Teil der Informationen basiert auf einem 1989 in New York geführten Interview mit Albert Ulrich TIETZ, dem Sohn des letzten Firmenchefs Alfred TIETZ.
Die Site lässt sich direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Kaufhof.
Dieser Text bzw. dieses Kapitel gehört zur Geschichte Wie aus 4 jüdischen Kaufhäusern ein Pleiteunternehmen im Jahr 2024 wurde.
"Wartet nur - wir kommen schon!"
Die Ungewißheit und Anspannung wurde unerträglich. Margarete TIETZ, 45, Ehefrau des “Kaufhof”-Chefs Alfred TIETZ, wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Tagsüber lärmten SA-Trupps durch die Straßen, gifteten die Tageszeitungen »Keinen Pfennig den jüdischen Warenhäusern«, nachts dann die anonymen Anrufe: »Wartet nur! Wir kommen schon! Nehmt euch in acht!«
8. März 1933
In den Kaufhäusern der in Köln beheimateten Leonhardt Tietz AG in Duisburg-Hamborn, in Oberhausen und in Moers, waren sie schon gewesen: SA-Männer - junge Kerle und gestandene Familienväter, die in die Büros der Geschäftsführer stürmten, breitbeinig vor dem lokalen Warenhauschef Aufstellung nahmen und ihn unmißverständlich aufforderten, das Geschäft auf der Stelle zu schließen. In der »Ehape«-Filiale in Essen lief es nach dem gleichen Muster: nachdem die Kaufhausfilialen auf Druck der SA-Formationen ihre Eingangstüren geschlossen hatten, klebten die SA-Leute großformatige gedruckte Plakate an die Scheiben: »Deutsche, kauft bei Deutschen!« Das war am Mittwoch, den 8. März 1933.
Die SA-Trupps, die da durch die Straßen marschierten, waren inzwischen nicht mehr nur Schlägertruppen: Genau zwei Wochen zuvor, ebenfalls an einem Mittwoch, am 22. Februar, hatte der neue preußische Innenminister Hermann GÖRING, dem auch die Polizei unterstand, rund 50000 Mann starke SA- und SS-Verbände offiziell zu »Hilfspolizisten« ernannt: eine weiße Armbinde, ein Gummiknüppel und das Recht, eine Pistole im Halfter führen und auch einsetzen zu dürfen, verlieh den SA-Männern erstmals ein Gefühl von unmittelbarer Machtausübung: Jetzt verkörperten sie endlich »legale« Macht, die Macht des Gesetzes.
15. bis 18. März
»Die rote Front, brecht sie entzwei!
SA marschiert! Achtung die Straße frei«.
So hatten sie bisher immer nur in Sprechchören getrommelt. Jetzt ist Mittwoch, der 15. März, genau eine Woche nach der zwangsweisen Schließung der Filialen in Duisburg, Oberhausen, Moers und Essen für zwei Tage. Die Zeitungen melden, daß in der Schublade beim Finanzministerium der Plan einer neuen Sondersteuer liege: eine »Warenhaussteuer«.
Nur drei Tage später erscheint in der NSDAP-Zeitung »Angriff« ein zweiseitiger Artikel: »Warenhäuser und Volkswirtschaft - Die schweren Schädigungen der deutschen Wirtschaft durch die jüdischen Warenhäuser«.
Inhalt kurz gefasst:
50.000 deutsche Geschäftsleute hätten »eine gesunde Existenzmöglichkeit gehabt«, wäre der Umsatz der Warenhäuser »dem mittelständischen Einzelhandel verblieben«, rechnet der Autor, ein »Dr. B.«, der Leserschaft vor. Und zur wissenschaftlichen Untermauerung werden einige Zahlen aus dem Sonderheft Nr. 32 der Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung angeführt: »Der Umsatz je beschäftigte Person im Einzelhandel mit Bekleidung betrug in Betrieben mit 1 bis 3 Personen 14.700- und in Betrieben mit 50 bis zu 200 Personen 21.000,-.«
Schlußfolgerung für die Leser:
»Dieser kleine wirtschaftliche Vorteil hat große soziale Nachteile im Gefolge. Die künstlich erstarkte Tendenz zum Großbetrieb im Einzelhandel hat wesentlich zu der Riesenarbeitslosigkeit der letzten Jahre beigetragen.«
»Sittliche Schädigungen« durch Verkaufsdruck auf die Angestellten und Preisdruck auf die Lieferanten
oder der Verkauf von »Schund- und Ramschware«, also nicht Ware, die man »sein Leben lang hat, sondern Ware, die möglichst schnell kaputtgeht, damit man neue anschaffen muß«
sind nur »unsoziale Folgeerscheinungen«. Erklärtes Ziel der »jüdischen Hochfinanz« sei es - viel folgenschwerer -, den »deutschen gewerblichen Mittelstand zu ruinieren.«
Was der »Angriff« der parteitreuen Leserschaft vortheoretisiert, findet seine praktische Umsetzung auf der Straße: in Essen, Bottrop, Mühlheim/Ruhr, Lübeck, Hamburg, Wilhelmshaven, Kassel, Frankfurt, Worms, Pforzheim und Nürnberg gehen SA-und Boykottaktionen mit Flugblättern, Sprechchören und Fotografen vor Eingangstüren, »freiwillige Geschäftsschließungen«, kleinere Sabotageakte und Einschüchterungsscherze mit jüdischen Geschäftsinhabern auf eine nicht minder militante NS-Organisation zurück, die endlich Gelegenheit hat, ihre Schlagkraft unter Beweis zu stellen: der »Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes«.
25. März
An diesem Samstag übernimmt der Reichsführer des »Kampfbundes«, Dr. Theodor Adrian von RENTELN, die Leitung der »Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels«: die große Koalition zwischen den vielen tausend kleinen und mit der Wirtschaftsflaute total unzufriedenen Einzelhändlern aller Branchen in ganz Deutschland und dem schlagkräftigen »Kampfbund«, der jetzt endlich »handeln« will, ist perfekt. Die Nachrichten im Radio: HITLER und GOEBBELS konferieren schon den ganzen Sonntag in Berchtesgaden miteinander. Von einem groß angelegten Massenboykott ist die Rede. Termin: nächsten Samstag.
27. März: Familie TIETZ in Köln
Margarete TIETZ, Ehefrau von Alfred TIETZ, dem Vorstandschef und Sohn des Firmengründers Leonhard TIETZ, hat nur noch einen Gedanken: mit den beiden Kindern und der Schwiegermutter raus aus Deutschland, und zwar sofort.
Die Mutter ist mit ihren Kindern allein in Köln. Ihr Mann Alfred, 49 Jahre, tagt seit letzten Mittwoch in Berlin: Krisensitzung des Warenhausverbandes.
»Wir sehen dich morgen in Amsterdam«, signalisiert Margarete TIETZ am Telefon. Frei zu sprechen ist zu riskant, aber der Familienvater hat verstanden; er muß morgen, Montag abend, zu einer Aufsichtsratsitzung des holländischen Kaufhauses De Bijenkorf nach Amsterdam. Die Tietz AG ist an der niederländischen Kaufhauskette beteiligt, und Alfred TIETZ sitzt deswegen dort auch im Aufsichtsrat.
Margarete TIETZ packt noch in der gleichen Nacht das Nötigste zusammen.
Und so steht am Montag, den 27. März, ganz in der Frühe die in Köln befindliche Familie auf dem Bahnsteig. Um nicht aufzufallen oder kontrollierenden Bahnpolizisten in die Hände zu geraten, fahren sie nicht mit einem internationalen D-Zug, sondern mit einem Personenzug über die holländische Grenze. Die Kinder und die seit kurzem im Haus Parkstr. 61 in Köln-Marienburg lebende Schwiegermutter sind damit erst einmal in Sicherheit.
27. März vormittags in Berlin
In Berlin beraten derweil die Herren des Deutschen Warenhausverbandes, Vertreter der Karstadt AG, der Hermann Tietz-Kaufhäuser, von EPA und Schocken (»Merkur«-Warenhäuser), weiter. Das dreißigste Jahr der Verbandsgründung - es hätte eigentlich ein Jubiläumsjahr werden sollen - ist überschattet. Die betriebswirtschaftliche Idee des Kaufhauses, alles unter einem Dach und alles überall zu einheitlichen »und billigen Preisen« zu verkaufen, eine Idee, mit der der wirtschaftliche Pionier und Firmengründer Leonhard TIETZ mit seinem ersten Kaufhaus »Tietze Leienad«, wie es die Kölner nannten, 1891 in der Kölner City den Grundstein nicht nur für seinen so erfolgreichen Warenhauskonzern mit inzwischen rund fünfzig Filialen gelegt hatte, sondern auch betriebswirtschaftliche Erkenntnisse praktizierte, auf deren Geschmack andere Unternehmen und andere Branchen inzwischen ebenfalls gekommen waren - der zentrale Wareneinkauf in großen Mengen ist nur einer der vorteilhaften Aspekte - all das wurde jetzt auf einmal als Machenschaften der »Einheitspreisgeschäfte« angefeindet. Und so, wie die meisten dieser Kaufhäuser und »Einheitspreisgeschäfte« in jüdischem Besitz waren, so saßen auch im Präsidium des Warenhausverbandes, der in Berlin seine Geschäftsstelle unterhielt, vor allem Deutsche jüdischen Glaubens.
Um den Angriffen etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, tritt das gesamte Präsidium, darunter Dr. Alfred TIETZ, zurück. Mit der »kommissarischen Leitung« werden Vorstandskollegen beauftragt, die »christlichen Glaubens« waren. Doch im Grunde genommen weiß keiner so recht, was tun. Sollten die vielen Kaufhausketten überall die Geschäftsleitung in »rein arische« Hände legen? Und würde das genügen? Oder sollte man die traditionsreichen Firmen besser gleich verkaufen? Und wenn ja, an wen? Stünden die neuen »arischen« Inhaber oder Aktionäre dann nicht vor dem gleichen Problem? Würde es deswegen überhaupt Käufer geben?
Schließlich hatte die Nationalsozialistische Partei, die inzwischen per »Ermächtigungsgesetz« regierte, in ihrem Wahlprogramm damit geworben, sie wolle die Warenhäuser zerschlagen und »an die kleinen Leute« verscherbeln.
Fragen über Fragen. Und keiner hat eine Antwort.
27. März abends in Amsterdam
Während Alfred TIETZ am Abend in Amsterdam die Aufsichtsratsitzung leitet und sich mit seinen holländischen Kollegen bespricht, sich obendrein auch noch um eine Unterkunft für die Familie kümmert, fährt sein Kollege und Freund Julius SSCHLOSS, ebenfalls Mitglied der Tietz'schen Geschäftsleitung und ebenfalls mitbeteiligt am Firmenkapital und daher auch bei der Amsterdamer Aufsichtsratssitzung dabei, am nächsten Tag erst einmal von Amsterdam nach Köln zurück. Dort holt ihn vom Bahnsteig der dritte Vorstandskollege, Franz LEVY ab, der in Köln Stallwache gehalten hatte.
Es ist kurz vor Mitternacht, als Julius SCHLOSS am Hauptbahnhof in Köln eintrifft. In knapp einer halben Stunde geht der letzte Nachtzug nach Berlin, wo der Warenhausverband noch immer am Tagen ist. Franz LEVY berichtet die letzten Neuigkeiten: Julius STREICHER, der Scharfmacher der Nationalsozialisten, sei gerade dabei, ein Boykottkomittee zu organisieren und der »Reichsführer des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes« werde dort aktives Mitglied sein. Unter den 1500 jüdischen Tietz-Angestellten breite sich Furcht und Unruhe aus. Soll man die Geschäfte kommenden Samstag besser erst gar nicht öffnen?
29. März, Mittwoch, Köln
Eine halbe Stunde ist knapp, um überlegte Entscheidungen zu treffen; kurz entschlossen steigt Franz LEVY, unvorbereitet und ohne Gepäck in den Nachtzug nach Berlin ein: Man muß die anderen Kollegen konsultieren. Übers Telefon ist das zu gefährlich; die Fernsprechleitungen werden seit kurzem offenbar abgehört. Als Franz LEVY in Berlin eintrifft, ist es Mittwoch, der 29. März 1933. In großen Lettern springen ihm die fetten Schlagzeilen der Tageszeitungen ins Auge: »Boykott - Wir nehmen den Kampf auf« kündigt der »Angriff« an: »Julius Streicher nimmt heute seine Arbeit auf.«
In Köln macht derweil gegen Nachmittag ein Gerücht die Runde, die Pässe aller Juden würden am nächsten Morgen eingesammelt werden. In den Geschäftsstraßen vor den jüdischen Geschäften und am Kölner Dom verteilen SA-Männer die ersten Flugblätter.
Julius SCHLOSS beruft eine Krisensitzung des Vorstandes ein: für 20 Uhr. Nicht im Büro, sondern in seiner Privatwohnung. Sicher ist sicher.
Gegen 21 Uhr stoßen Alfred und Margarete TIETZ dazu. Sie kommen gerade mit dem Zug aus Amsterdam, wo sie ihre Kinder zurückgelassen haben. Eine stürmische Diskussion ist im Gang: Wenn die Polizei die Pässe kassiert, sitzen alle in der Falle. Jetzt beschließen auch die anderen Vorstandskollegen, Frau und Kinder in Sicherheit zu bringen.
Alfred TIETZ will wissen, wie es in Berlin steht und telefoniert mit Franz LEVY, der gestern nacht Hals über Kopf dorthin gefahren ist. LEVY sagt nur, der Firmenchef solle sofort nach Berlin kommen.
Während die anderen packen, sitzen die TIETZ'ens, kaum in Köln angekommen, um halb eins in der Nacht wieder im Zug: er im letzten Nachtzug nach Berlin, seine Frau zurück auf dem Weg nach Amsterdam zu den Kindern.
30. März, Donnerstag
Wenige Stunden später - inzwischen ist es Donnerstag, der 30. März in aller Herrgottsfrüh - läßt sich Julius SCHLOSS nebst Familie von einem Freund zum Bahnhof in Bonn fahren; auf dem Kölner Hauptbahnhof könnte sie schließlich jemand erkennen und »eine Meldung machen« - für die neuen SA-Ordnungshüter ein gefundenes Fressen. Im kleinen Bonn erkennt sie niemand. Um 7 Uhr sitzen seine Frau Elisabeth und sein neunjähriger Sohn Thomas im Zug nach Basel. Auch Julius SCHLOSS hat gepackt: mit einem kleinen Köfferchen zieht er für die nächsten Nächte in die Kölner Wohnung bei amerikanischen Freunden ein.
Im Büro hat Julius SCHLOSS alle Hände voll zu tun. Er merkt, wie die Atmosphäre unter den Angestellten kurz vorm Explodieren ist. Jetzt kommen auch noch von allen Filialen Anrufe der Geschäftsführer, fragen, was sie tun sollen, wenn am Samstag die SA in die Kaufhäuser stürmt und dort für Terror sorgt. Es gibt keine andere Möglichkeit: die Geschäfte werden ab Samstag, den 1. April, solange geschlossen bleiben, bis der Boykott offiziell wieder aufgehoben wird. Auf Schutz seitens der regulären Polizei kann man nicht zählen. Gerade eben hat die neu formierte Stadtverordnetenversammlung einen Antrag der Nationalsozialisten und Deutschnationalen angenommen, der die »Beurlaubung« des bisherigen Oberbürgermeisters durch Hermann GÖRING billigt. Der Name des Kölner OB: Dr. Konrad ADENAUER.
Berlin
Und während in Berlin gerade Carl von OSSIETZKY, Journalist und Herausgeber der Zeitung »Die Weltbühne« von den Nazis der internationalen Presse vorgeführt wird, um die behaupteten Mißhandlungen in den Konzentrationslagern als »Greuelmärchen« zu enttarnen, jagen Alfred TIETZ und Franz LEVY von einem Termin zum andern durch die aufgewühlte Reichshauptstadt.
Auch in Berlin liegt eine undefinierbare Spannung in der Luft: Gespräche mit Parteidienststellen, vor allem mit dem »Wirtschaftspolitischen Amt« beim Verbindungsstab der NSDAP in der Wilhelmstraße 55 im Regierungsviertel - Rücksprache mit den beiden großen Hausbanken, die ebenfalls Druck machen und mit der Kündigung sämtlicher Kreditlinien drohen - Diskussion der in Aussicht genommenen Möglichkeiten mit den Kollegen des Warenhaus-Verbandes - und wieder zurück zum Wirtschaftspolitischen Amt der NSDAP.
Es führt kein Weg daran vorbei: Die Geschäftsleitung muß neu organisiert werden. Vor allem aber muß ein neuer Aufsichtsrat her. So will es nicht nur die Partei, es spielen auch sonst die Banken nicht mit. Und ohne Banken und deren Kontokorrentkredite kann man kein Kaufhaus managen und keine Wareneinkäufe in Millionenhöhe tätigen. Ohne die Banken läuft nichts.
Alfred TIETZ gelingt es, telefonisch den Präsidenten der Internationalen Handelskammer zu kontaktieren, einen renommierten Industriellen. Abraham FROWEIN, Teilhaber einer bekannten Textilfirma gleichen Namens in Wuppertal-Elberfeld. FROWEIN, der bereits in rund fünfzehn Aufsichtsräten sitzt, hat gute Verbindungen zu allen und zu überallhin. Mit diesem „Kapital« muß jetzt gewuchert werden, um die Kaufhäuser zu retten. FROWEIN sagt grundsätzlich zu. Einzelheiten wolle man übermorgen, am Samstag in Köln erörtern.
31. März, Freitag, Köln
Am Vorabend des groß angekündigten Boykotts: erneute Gespräche mit den Bankern in Köln, die vor Ort im Aufsichtsrat sitzen. Julius SCHLOSS und Franz LEVY, der eben aus Berlin zurückgekommen ist, informieren die Herren über die Ergebnisse in Berlin: der gesamte Vorstand ist bereit, ebenso wie die jüdischen Vertreter im Aufsichtsrat, abzutreten, um das Unternehmen mit seinen rund 20.000 Beschäftigten, darunter 1.500 jüdischen Angestellten, zu retten.
Kaum haben die »jüdischen« Manager der Leonhard Tietz AG und die »christlichen« Banker ihre Informationen untereinander ausgetauscht, platzt die neueste Meldung durch das Radio herein: Vor den Filialen der befreundeten Firma Hermann Tietz OHG in Berlin, unter anderem am Alexanderplatz und direkt vis-à-vis vom früheren »Engelhardt«-Haus, ist es zu blutigen Zusammenstößen gekommen. Für die nötige Stimmung auf der Straße hatte der »Angriff« gesorgt: mit einem zweiseitigen, groß aufgemachten Artikel: »Die Rolle der Juden in der Wirtschaft«. Resümee des Hetzartikels: während »tausende ehrliche deutsche Existenzen vernichtet wurden, schuf der jüdische Geist gleichzeitig die Basis, auf der die größten Schieber des Jahrhunderts ihr Unwesen treiben konnten.«
Die Atmosphäre auf den Straßen und in den Geschäften gleicht einem Hexenkessel.
Alfred TIETZ und Julius SCHLOSS sind zumindest darüber beruhigt, ihre Familien und Kinder im Ausland zu wissen. In Basel gibt es seit Tagen kein einziges Hotelzimmer mehr. Die ganze Stadt ist voller Flüchtlinge, wie Elisabeth SCHLOSS ihrem Mann am Telefon berichtet. Zum Glück haben sie bei Bekannten erst einmal Unterschlupf gefunden. Er solle doch um Gottes willen alles stehen und liegenlassen und sofort nachkommen, bedrängt sie ihren Mann.
Der kämpft mit sich selbst: Familie oder Verantwortung gegenüber 1.500 Angestellten jüdischen Glaubens, die möglicherweise Rat und Hilfe der Geschäftsleitung brauchen? Julius SCHLOSS bleibt in Köln. Denn morgen, Samstag, den 1. April um 10 Uhr, soll es losgehen, und Samstag ist ein ganz normaler Arbeitstag. Normalerweise hat alles geöffnet bis abends.
1. April, 8 Uhr morgens, Samstag, Frankfurt/Main
Die Direktion des Rundfunks erteilt mit sofortiger Wirkung allen jüdischen Beschäftigten Hausverbot.
Berlin
Kurz nach 9 Uhr beschlagnahmen Beamte der SoKo II des Preußischen Innenministeriums das restliche Guthaben des Nobelpreisträgers Albert EINSTEIN, der von einer Reise aus New York zurück nach Antwerpen in Southampton der englischen Presse ein Interview über die Vorgänge in seiner Heimat Deutschland gegeben hat und sich weiter im Ausland aufhält. Sichergestellte Summe: 50.000 Mark.
Am späteren Vormittag werden Mitglieder des »Aktionsausschusses des Bundes nationalsozialistischer Juristen, Gau Groß-Berlin« beim Präsidenten der Industrie- und Handelskammer vorstellig; sie fordern den Rücktritt des »total verjudeten Präsidiums«.
Chemnitz
Hier tauchen bei dem Fabrikanten Hans SACHS, Inhaber einer weltbekannten Maschinenfabrik, Polizei und SA auf, um ihn in »Schutzhaft« vor der tobenden Menschenmenge zu nehmen. Hans SACHS dreht durch und erschießt sich in seinem Schlafzimmer, noch bevor die Polizeibeamten und SA-Männer seiner habhaft werden können.
München
Im Münchner Rosental wird der Inhaber des Kaufhauses Uhlfelder »in Schutzhaft« genommen.2 Zwei Anwälte werden daraufhin tätig. Dr. Otto WALTER, der einen wichtigen Termin hat und nicht wegkann, ruft im Polizeipräsidium an, erkundigt sich, wie es denn angehen könne, Herrn UHLFELDER ohne Haftbefehl und ohne Haftprüfungstermin einfach zu verhaften. Was denn das für eine Wirtschaft sei? »Ist der Polizeipräsident, Herr HIMMLER da?« »Herr Heinrich HIMMLER ist verhindert«, lautet die Antwort, »dafür ist sein Stellvertreter da!« Wer das denn wäre? »Mit Herrn HEYDRICH können Sie sprechen.«
Die Stimme mit unverkennbar sächsischem Akzent am Telefon versucht den 26jährigen Rechtsanwalt zu beruhigen. Otto WALTER, der wenige Stunden zuvor durch einen Erlaß des Bayerischen Justizministers und früheren Rechtsanwalts von Adolf HITLER, Dr. Hans FRANK als Jude Berufsverbot verordnet bekam, läßt nicht locker. »Regen Sie sich nicht auf«, so Reinhard HEYDRICH am Telefon. »Wir sind ja neu in diesen Dingen, und dem Mann passiert nichts. Das ist nur eine Polizeimaßnahme, die wir für nötig gehalten haben.«
Was Otto WALTER nicht weiß: sein Kollege, Dr. Michael SIEGEL, der ebenfalls für das Münchner Kaufhaus tätig ist, geht kurz danach persönlich aufs Polizeipräsidium. Bis zu HEYDRICH dringt er nicht vor. Die anwesenden Hilfspolizisten, jüngere SA-Leute in brauner Uniform und mit weißer Armbinde, Gummiknüppel und Pistole ausstaffiert, nehmen den unbotmäßigen jüdischen Anwalt in den Schwitzkasten, schneiden ihm die Hosen unterhalb der Kniekehle ab, ziehen ihm Strümpfe und Schuhe aus und hängen ihm ein schnell beschriftetes Plakat um den Hals. Mit dem scheuchen sie den Rechtsanwalt barfuß durch die Straßen von München bis vor die Stufen des Justizpalastes. Dort lassen sie ihn stehen. Plakattext: »Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren.«
Nachmittags gibt die Rechtsanwaltskammer eine Pressemitteilung heraus: Die Berufsvertretung stellt sich voll hinter die behördlichen Maßnahmen, jüdischen Kollegen das Betreten der Gerichtsgebäude zu verbieten.
Effekt: rund achtzig Konkurrenten weniger.
Berlin
Auf der Tauentzienstraße stehen überall Boykottposten: das Ka-De-We hat geschlossen. Die anderen Kaufhäuser auch. Nur Karstadt am Hermannplatz in Neukölln hat geöffnet. Karstadt wird auch nicht boykottiert. Die Geschäftsleitung hat am Tag zuvor sämtliche jüdischen Angestellten entlassen. Die Geschäftsleitung besteht nunmehr aus Nationalsozialisten, wie der »Angriff« noch am gleichen Tag meldet.
Hannover
SA-Hilfspolizisten, die mit Karabinern bewaffnet sind, umstellen das Gewerkschaftshaus, nehmen die Funktionäre fest und hissen auf dem Dach die Hakenkreuzfahne.
Kiel
In Kiel ist der 35jährige Rechtsanwalt und Notar Hans SCHUMM aus Berlin seit gestern zu Besuch. Seine Schwester will heute heiraten. Als die Hochzeitsgesellschaft 10 Minuten vor 12 Uhr aus dem elterlichen Haus in der Kehdenstr. 16 zum Standesamt aufbrechen möchte und Hans SCHUMM vor der Haustür von einem jüngeren SA-Rabauken tätlich angegriffen wird, benutzt Hans SCHUMM erstmals in seinem Leben seine Pistole, die er vorsichtshalber mitgenommen hat, und schießt. Er trifft den 22jährigen SA-Mann Walter ASTHALTER und verletzt ihn lebensgefährlich. Die Hochzeitsgesellschaft flüchtet entsetzt zurück ins Haus, in dem sich auch das väterliche Möbelgeschäft befindet, derweil draußen weitere SA- und SS-Leute herbeieilen und die Ladentüre einschlagen.
SCHUMM, der sich hinter den Möbelstücken verbarrikadiert, gibt weitere Schüsse ab. Als die Polizei eintrifft und den Anwalt samt Brautpaar festnimmt, fällt die aufgelaufende Menschenmenge unter lautem Gejohle über das Möbelgeschäft her und zertrümmert alles.
Gegen 14.30 Uhr geht plötzlich das Gerücht um, der junge SA-Mann sei seinen Verletzungen erlegen. Die Menschenmenge folgt ihrem »gesunden Volksempfinden« und zieht zum Polizeipräsidium in die Blumenstraße. Die Eingänge sind von Wachen besetzt. Die aufgebrachten SA-ler zeigen, was sie in ihrer paramilitärischen Ausbildung die letzten Jahre über gelernt haben: unter den anfeuernden Zurufen der Menschenmenge klettern sie über die Gefängnismauer, lassen sich von den Innenwachen die Zellennummer sagen und den Schlüssel aushändigen, suchen SCHUMM's Zelle, finden sie auch und strecken den Anwalt mit zehn Pistolenschüssen nieder.
Der 22jährige SA-Mann wird zur gleichen Zeit im Krankenhaus operiert und überlebt.
Köln: Kaufhaus Leonhard Tietz AG
Etwa zur selben Zeit tritt der Vorstand der Leonhard Tietz AG zusammen. Über die Hohe Straße zu gehen, wagt an diesem Tag keiner; man tagt im Büro der »Ehape« im dritten Stock in der Agrippastraße. »Ehape« ist eine Tochterfirma der Tietz AG, die kleinere Kaufhallen betreibt, die natürlich ebenfalls geschlossen sind. Alle sind da außer Alfred Tietz, der immer noch in Berlin zugange ist. Die blitzartige »Arisierung« der Karstadt-Kaufhäuser wirft ihre Schatten auch auf den Tietz-Konzern - schon deswegen, weil man mit der Rudolph Karstadt AG in Wernigerode im Harz eine gemeinsame Schokoladenfabrik betreibt.
Zu der Sitzung kommt erstmals der bekannte Industrielle Abraham FROWEIN, der als neuer Chef des Aufsichtsrates fungieren soll. Bevor er das Wort ergreifen kann, taucht ein Stadtverordneter namens Dr. LUDWIG mit einer ganzen Kompanie von SA-Braunhemden auf und verlangt von den Anwesenden, den Mietvertrag zwischen der Stadt Köln und der »Ehape« für die Kaufhalle in der Schildergasse auf der Stelle zu annullieren. Der kleine Nazi in seiner SA-Uniform ist ganz besessen von dem Gedanken, er könne wenigstens ein jüdisches Geschäft für imer von der Bildfläche verschwinden lassen.
Über den Mietvertrag hatte es gerichtliche Auseinandersetzungen gegeben, die der Reichsgerichtshof zugunsten der Firma Ehape entschieden hatte. Nach längerer lautstarker verbaler Auseinandersetzung läßt sich der Stadtverordnete in voller SA-Montur wieder aus dem Haus komplimentieren.
FROWEIN: »Die Sache ist so nicht zu halten! Alle jüdischen Mitglieder im Vorstand und im Aufsichtsrat müssen zurücktreten.« Mit den Banken abgesprochen sei, daß die zurückgetretenen Manager andere Aufgaben in der Firma übernehmen könnten. Die offiziellen Funktionen aber müßten »sauber«, also arisch besetzt sein. Ob dies allerdings auch der neuen Regierung und der Partei ausreichen würde, wisse man nicht. Alfred TIETZ habe für kommenden Montag eine Aufsichtsratsitzung in Berlin anberaumt.
Berlin, 3.April
An diesem Montag findet die Sitzung in den Räumen der Deutschen Bank in der Hauptstadt statt. Die jüdischen Manager treten ab, und die Banken bestücken den jetzt neuen Aufsichtsrat ausschließlich mit Herren aus den eigenen Reihen. FROWEIN wird programmgemäß zum Vorsitzenden dieses Aufsichtsgremiums gewählt. Da die Hausbanken auch für die notwendige Auswahl des Vorstandes Vorsorge getroffen haben, indem sie wiederum altgediente Banker in die Geschäftsleitung hieven, die aber von den alltäglichen Geschäften eines Warenhausbetriebes keinen blauen Dunst haben, bitten die neu bestallten Aufsichtsräte die bisherigen Vorstandsmitglieder Julius SCHLOSS und Franz LEVY, ihre Posten beizubehalten. Dann wäre das Verhältnis »Christen« zu »Juden« gleich 2 zu 2 bzw. fifty-fifty.
Julius SCHLOSS und Franz LEVY überlegen nicht lange, stellen aber eine Bedingung: Nur wenn Alfred TIETZ, der Sohn des Firmengründers, wenigstens eine Funktion im Aufsichtsrat übernehmen dürfe.
Die Banken sind einverstanden.
Beim »Wirtschaftspolitischen Amt« im Verbindungsstab der NSDAP, wohin sich FROWEIN und der neu gebackene Warenhausmanager Otto BAIER am Nachmittag hinbegeben, runzelt man die Stirn. Die »Karstadt-Lösung« von vor drei Tagen war reinrassiger. FROWEIN, immerhin Präsident der Internationalen Handelskammer in Paris und auch sonst kein unbeschriebenes Blatt, wirft seinen ganzen Einfluß in die Wagschale. Die NSDAP akzeptiert dann doch, aber nur unter drei Bedingungen: Erstens müsse im Vorstand eine Mehrheit von Ariern vorhanden sein, zweitens müßten alle Aktien, die im Besitz der Familie TIETZ und SCHLOSS wären, sofort verkauft werden, und drittens, um dies zu kontrollieren, müsse die Firma jeden Monat schriftlich Rapport darüber erstatten. Punktum!
Die Familie TIETZ - und ebenso Julius SCHLOSS - »mußten ihre Aktien auf den Tisch schmeißen«, wie es Albert Ulrich TIETZ, Sohn von Albert und Margarete TIETZ, umschreibt. »Früher betrug der Kurs für eine 100-Mark-Aktie 300 Mark. Jetzt lag er bei 10. Wenn ein großes Aktienpaket ins Angebot kommt, sackt eben der Kurs.«
Aktien für fast 8 Millionen Mark, die zuvor einen Kurswert von rund 24 Millionen Mark verkörperten (Kurs: 300%), wechseln auf diese Weise ihre Besitzer. Für ganze 800.000 Mark. Albert Ulrich TIETZ: »Für 'nen Appel und ein Ei!« Neue Eigentümer: Commerzbank, Dresdner Bank und Deutsche Bank.
In deren Räumen findet tags darauf nochmals eine Aufsichtsratssitzung statt. Einziger Tagesordnungspunkt: einen fünften Mann für den Vorstand. Es ist ein Banker. Jetzt besteht die Geschäftsleitung mehrheitlich aus »Ariern«, also 3:2.
Julius SCHLOSS, Franz LEVY und Alfred TIETZ fahren am nächsten Tag nach Köln zurück - SCHLOSS und LEVY in ihrer alten Funktion. Alfred TIETZ als Verlierer. Es ist ein Mittwoch. Mittwoch der 5. April 1933.
Genau vier Wochen zuvor, am 8. März, hatten SA-»Hilfspolizisten« Tietz'sche Kaufhäuser in Duisburg, Oberhausen, Moers und Essen gewaltsam geschlossen. Offiziell war der großangelegte Massenboykott des 1. April mit Ablauf des gleichen Tages zu Ende. Was jetzt folgt, ist der stille Boykott.
Noch am 1. April gibt die Stadtverwaltung Köln - kaum daß man den demokratisch gewählten Oberbürgermeister Konrad ADENAUER zum Teufel gejagt hatte - die Order aus, jüdische Firmen und Geschäfte von der öffentlichen Auftragsvergabe auszuschließen. Deutschlandweit ist es ab sofort Öffentlich-Bediensteten verboten, in Warenhäusern einzukaufen. Erst recht gilt dieses Verbot für SA-Leute und das wachsende Heer der Parteigenossen: Das Warenhaus gilt trotz erfolgter »Gleichschaltung« als verpönt. Große Teile der Bevölkerung stellen aus Opportunismus ihre Einkaufsgewohnheiten um: man könnte ja gesehen werden!
Köln: Familie TIETZ
Margarete und Alfred TTIETZ, wieder in Köln zurück, sind einer Meinung und fangen sofort mit der Auflösung ihres Haushalts an: »Wir bleiben nicht in Deutschland!«
Für Freitag ist in Saarbrücken im Saarland, das zu dieser Zeit (noch) nicht zu Deutschland gehört, eine Aufsichtsratssitzung des »Passage«-Kaufhauses, einer Tochterfirma der Leonhard Tietz AG angesetzt. Alfred TIETZ wird sie leiten.
Einen Tag zuvor, am Donnerstag, erhält Margarete TIETZ - ihr Mann ist mit dem Auto unterwegs - einen aufgeregten Anruf von einem Substituten aus der Teppichabteilung: »Frau Tietz, ich muß Sie sofort sprechen!«
In TIETZ'ens Wohnung, Parkstraße 61, berichtet der kleine Angestellte ganz außer Atem: »Sie müssen dafür sorgen, daß Ihr Mann noch heute wegkommt; denn ich bin heute zufällig dazugekommen, wie eine Gruppe unserer Führer dastand und gesagt hat: ‘Morgen nehmen wir den Alfred hops’. Mit diesen Worten, Frau Tietz!«
Margarete TIETZ läßt alles liegen und stehen, springt zum Telefon, versucht ihren Mann zu erreichen, der einfach nicht erreichbar ist, erwischt ihn dann doch, ruft den Chauffeur des Kaufhauses an und läßt ihren Mann nur wenige Stunden später über die eGrenze des Saarlandes nach Saarbrücken bringen. Alfred TIETZ wird zum letzten Mal deutschen Boden betreten haben.
Seine Frau löst den Hausstand jetzt noch schneller auf als geplant. Am Pfingstsonntag treffen sich Alfred TIETZ und Margarete auf holländischem Boden. Sie werden von Leo MEIER, dem Vorstandschef von »Bijenkorf«, in Empfang genommen, der sie mit seinem »LaSaIle«-Pkw nach Amsterdam chauffiert. Alfred TIETZ, der am 8. Juni seinen 50. Geburtstag feiert, verfolgt die mit dem Boykott einsetzende Talfahrt des einstmals blühenden väterlichen Unternehmers nur noch als Aufsichtsratsmitglied: aus der Ferne und auf einer Position, die man ihm anstandshalber belassen hatte. Zu sagen hat er in seiner ehemaligen Firma nichts mehr. Schon gar nicht kann er verhindern, daß der neue »arische« Vorstandschef - getragen von den neuen Großaktionären und dem von Banken dominierten Aufsichtsrat - auf die Umsatzrückgänge um fast ein Drittel vor allem mit Entlassungen reagiert; besonders betroffen: die jüdischen Beschäftigten.
Kaufhaus Hermann Tietz
Die schlechten Nachrichten häufen sich: Wenige Tage nach Alfred TIETZ' 50. Geburtstag steht ein befreundetes Warenhaus-Unternehmen kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch: “Hermann Tietz”. Firmengründer Hermann TIETZ und Alfreds Vater, Leonhard TIETZ, waren Verwandte: Hermann war der Onkel von Leonhard. Die Hermann Tietz OHG hatte ihre Kaufhauskette mehr im Osten, Leonhard TIETZ mehr im Westen Deutschlands aufgebaut.
Ebenso wie die Karstadt AG und die Leonhard Tietz AG hatte auch der Hermann Tietz-Konzern seine Expansion in den vorausgegangenen Jahren vor allem mit Krediten finanziert: für neue Grundstücke, Baumaßnahmen, Warenlager. Gegen die von der Partei verordnete »Arisierung« wehrt sich der Konzern bis aufs letzte. Um so stärker treffen ihn die besonders hartnäckig durchgeführten Boykottmaßnahmen. Und um so empfindlicher schlagen die Einnahmeausfälle zu Buch: Hermann TIETZ ist Ende Juni 1933 pleite.
Da übernimmt Anfang Juli ein neuer Mann das Reichswirtschaftsministerium: Dr. Kurt SCHMITT. Was Großpleiten für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze, für die Banken und auch die Versicherungen bedeuten, weiß der neue Wirtschaftsminister nur zu genau; Kurt SCHMITT ist Chef der Allianz-Versicherung.
In einer hitzigen Debatte versucht der neue Wirtschaftsminister Adolf HITLER von der Notwendigkeit von schnellen Sanierungsmaßnahmen zu überzeugen. Adolf HITLER ist entrüstet, ausgerechnet einem jüdischen Warenhauskonzern aus der Patsche zu helfen. Doch der ehemalige Allianz-Chef hat die besseren Argumente: Industrie und Landwirtschaft sähen sich einem Auftragsausfall von über 130 Millionen Mark gegenüber; die Kaufhausgebäude ließen sich im Konkursfalle kaum anderweitig verwerten, und obendrein würden 14.000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren, und das bei fünf Millionen »arbeitsloser Volksgenossen« auf der Straße.
Kaufhaus "Hertie"
Um seinen Vortrag beim »Führer« zu untermauern, legt der ehemalige Wirtschaftskapitän schriftlich vorbereitete Stellungnahmen der betroffenen Lieferbetriebe auf den Tisch. Adolf HITLER gibt nach zwei Stunden erregten Wortgefechts klein bei. Der Hermann Tietz-Konzern erhält einen öffentlich verbürgten Kredit. Um sich ausreichenden Einfluß auf die Geschäftsführung auch dieses Unternehmens zu verschaffen, gründen die beteiligten Banken eine »Hertie-Kaufhaus-Beteiligungs-GmbH«, die ab sofort als Teilhaberin in den Konzern eintritt, wo ihnen bisher eine Mitsprache aufgrund der familiären Firmen- und Kapitalstrukturen (Rechtsform einer offenen Handelsgesellschaft, kurz: oHG) versagt geblieben war. Jetzt können sie die erste Geige spielen: Die Tietz-Kaufhäuser sind damit erst einmal über dem Berg.
Anlaß für den Pressechef der »Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels«, Dr. Paul HILLAND, gleichzeitig Stellvertreter des »Kampfbund«-Führers, sich in seinem »Pressedienst« auszutoben: »Der Mittelstand muß ... verlangen, daß die dafür verantwortlichen Personen rücksichtslos wegen dieser heimlichen Sabotage der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik aus ihren maßgeblichen Stellungen in den Banken entfernt werden.«
"Westdeutsche Kaufhof AG"
Und so nimmt der Kundenterror auf der Straße gegen die Warenhäuser, organisiert von Mitgliedern des »Kampfbundes« und tatkräftig unterstützt von den örtlich Mächtigen, den vielen kleinen NSDAP-»Kreisleitern« und »Ortsgruppenleitern«, trotz erfolgter »Gleichschaltung« - ersteinmal - kein Ende, egal ob es um die TIETZ'schen Kaufhäuser im Westen oder im Osten geht, oder um Karstadt mit seinen Filialen.
Noch am gleichen Tag, den 7. Juli 1933, an dem der »Kampfbund«-Stellvertreter und Pressechef der mittelständischen Einzelhandelslobby seine Presse-Mitteilung absetzt, greift der »Stellvertreter des Führers«, Rudolf HEß ein: Er gibt einen Erlaß heraus:
»Die Einstellung der NSDAP zur ‘Warenhausfrage’ ist im Grundsätzlichen nach wie vor unverändert. Ihre Lösung wird zur geeigneten Zeit ... erfolgen. Im Hinblick auf die allgemeine Wirtschaftslage hält die Parteileitung vorerst ein aktives Vorgehen mit dem Ziele, Warenhäuser und warenhausähnliche Betriebe zum Erliegen zu bringen, für nicht geboten. In einer Zeit, da die nationalsozialistische Regierung ihre Hauptaufgabe darin sieht, möglichst zahlreichen arbeitslosen Volksgenossen zu Arbeit und Brot zu verhelfen, darf die nationalsozialistische Bewegung nicht dem entgegenwirken, indem sie Hunderttausenden von Arbeitern und Angestellten in den Warenhäusern und den von ihnen abhängigen Betrieben die Arbeitsplätze nimmt.«
Was zunächst als »Erlaß an die Gauleitungen« bestimmt war, wird am 10. Juli im »Völkischen Beobachter« abgedruckt.
Tags drauf, am 11. Juli um 11 Uhr beginnt in Köln die Aktionärsversammlung der Leonhard Tietz AG. Es ist die letzte Hauptversammlung dieses Unternehmens unter diesem Namen. Die Großaktionäre - die drei großen Banken - setzen als erstes eine Namensänderung durch: ab sofort wird unter »Westdeutsche Kaufhof AG« firmiert. Der Zusatz »(vorm. Leonhardt Tietz AG)« wird nur für kurze Zeit beibehalten.
Ab sofort wird an die ehemaligen Firmengründer nichts mehr erinnern.
Wie es mit dem neuen "Kaufhof" und den anderen Kaufhäusern weitergeht
Wohin die Fahrt des neuen »Kaufhof« geht, macht der Geschäftsbericht deutlich, der den Aktionären am 11. Juli 1933 vorgelegt wird: »Wir haben daher mit Nachdruck begonnen, durch Vorbereitung gewisser betrieblicher Umstellungsmaßnahmen und durch eine wesentliche Neuorientierung unserer Geschäfts- und Personalpolitik der notwendigen Beruhigung der im Einzelhandel bestehenden Gegensätze zu dienen. Wir wollen damit die Voraussetzungen schaffen für die gleichberechtigte Eingliederung unseres Unternehmens in den Neubau der deutschen Wirtschaft.«
Aufgrund der vertagten »Endlösung« der »Warenhausfrage« lavieren sich die Kaufhäuser in den nächsten Jahren zwischen boykottierender Bevölkerung und Parteibasis auf der einen Seite und »staatlich« verordnetem Schutz hindurch. Und so gehen die Boykottaktionen in ganz Deutschland bis 1939 weiter; mal ist es in der Lübecker Karstadt-Filiale die dortige »NS-Frauenschaft«, mal sind es SA-Horden bei Schocken/Merkur in Nürnberg, aber auch Lehrer in Wilhelmshaven, die ihren Schülern, die in der »HJ« organisiert sind, praktischen Unterricht in Sachen Fotografie erteilen, indem sie Kunden beim Verlassen eines Kaufhauses fotografieren.
Nach und nach setzt sich bei den Funktionären der »Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation«, NSBO abgekürzt, die Erkenntnis durch, daß die Warenhäuser, die am gesamten Branchenumsatz des Handels überhaupt nur mit 2,5 Prozent beteiligt sind, immerhin 90.000 Arbeitsplätze sichern.
So schreiben die Angestellten einer Karstadt-Filiale am 15. 2. 1934 in einem offenen Brief:
»In unserem Hause... sind ungefähr 80 Prozent in der NS-Betriebszelle vereinigt. Ungefähr 70 Angestellte ... tun Dienst in der SA. ... Wir sind keine Menschen oder Nationalsozialisten zweiter Klasse, nur weil wir im Warenhaus beschäftigt sind, zumal wir erkannt haben, daß das Warenhaus in vielen Beziehungen vorbildlich sein kann für verschiedene Zustände im Einzelhandel.«
Die Eindämmung der Boykottaktionen gelingt auch dadurch nicht. Die weiteren Ereignisse sind von einer Art ‘Arbeitsteilung’ bestimmt: die ‘großen Nazis’ in den staatlichen Funktionen mahnen zur Ordnung - die vielen tausend ‘kleinen Nazis’ und die Parteidienststellen handeln vor Ort auf eigene Faust - eine Arbeits- und Rollenverteilung, die sich noch oft bewähren wird.
Die Einstellung zu den Warenhäusern ändert sich erst, als 1939 der Krieg beginnt. Die Kaufhäuser werden zum wichtigsten Pfeiler in der Versorgungslogistik für die Bevölkerung.
Nur einem gelingt es, sich mit seinen Filialen nicht als verpöntes “Kaufhaus” ‘verkaufen’ zu müssen: Helmut HORTEN, der 1936 in dieses Geschäft einsteigt, wie wir im Kapitel Von Helmut HORTEN 1936 zur “GALERIA Karstadt Kaufhof”-Pleite 2024 dokumentieren.
Wie es mit der Familie TIETZ aus Köln weitergeht
Anfang 1934 bestellt Wirtschaftsminister Dr. Kurt SCHMITT den Aufsichtsratsvorsitzenden des »Kaufhof«, gleichzeitig Präsident der Internationalen Handelskammer, Abraham FROWEIN, nach Berlin. SCHMITT: er könne die »Warenhausfrage « zwecks endgültiger Klärung solange nicht dem Führer vorlegen, solange noch Juden in der Geschäftsleitung tätig seien.
Jetzt müssen auch Julius SCHLOSS und Franz LEVY ihren Schreibtisch räumen. »Für ihr 25jähriges, besonders erfolgreiches Wirken im Dienste der Firma gebührt beiden Herren besondere Anerkennung und bleibender Dank«, heißt es lapidar im Geschäftsbericht, der im September 1934 vorgelegt wird. Alfred TIETZ, bis dahin noch als Mitglied im Aufsichtsrat geduldet, muß die Firma nun endgültig verlassen. Diese Funktion hatte Alfred TIETZ inzwischen aus Amsterdam wahrgenommen, wohin die Familie zunächst geflüchtet war. Da Alfred TIETZ im Aufsichtsrat des größten niederländischen Kaufhauses De Bijenkorf sitzt, an dem die TIETZens auch finanziell beteiligt sind, ist es ihm erlaubt, dort ein Büro zu unterhalten. Ein offizielles Bleiberecht hat die Familie nicht; sie gelten als »nicht-naturalisierte« Holländer.
Als die deutschen Truppen 1938 in Österreich einmarschieren und anschließend die Tschechoslowakei überfallen, versuchen Familie TIETZ so schnell wie möglich aus Europa wegzukommen. Das gestaltet sich schwierig. Das naheliegendste, Palästina, ist dicht: Palästina steht unter der Verwaltung der Engländer, und die lassen jüdische Flüchtlinge nur noch im Rahmen einer bestimmten Quote, die sehr niedrig ist, hinein. Die Briten wollen es sich nicht mit den arabischen Anrainern verderben.
Da es für die USA ebenfalls kaum Einreisemöglichkeiten gibt, greift die Familie TIETZ zu, als in Amsterdam plötzlich Visa für Chile auf dem Schwarzmarkt auftauchen. Zwei Wochen vor Auslaufen der »Simon Bolivar« Anfang November 1939 beschließt Alfred TIETZ, seinen achtzehnjährigen Sohn Albert Ulrich als ‘Pionier’ vorauszuschicken; er selbst wolle, da er geschäftlich noch zu tun habe, umgehend nachkommen. Der Sohn muckt auf: »Entweder es besteht hier eine Gefahr, zu bleiben, dann fahren wir alle zusammen, oder eine Gefahr besteht nicht, und dann brauchen wir auch nicht zu gehen!«
Alfred TIETZ gibt drei Tage vor Auslaufen der »Simon Bolivar« alle Tickets zurück. Am Tage der ursprünglich geplanten Abfahrt des Sohnes Albert Ulrich gehen die TIETZens ins Konzert. Als sie - wieder zu Hause - wie gewohnt die Nachrichten übers Radio hören, meldet der holländische Rundfunk um 22 Uhr, daß wenige Stunden zuvor ein Schiff auf eine magnetische Mine gelaufen und sofort gesunken wäre. Der Name des Schiffes: »Simon Bolivar«.
Im Dezember 1939 erhält die Familie dann doch noch Visa für Palästina. 55 Tage, bevor die deutschen Truppen auch in Holland einfallen, gelingt den TIETZens die Emigration. Am 15. März 1940 erreichen sie in Marseille - nach einem abenteuerlichen Transport durch Frankreich - das - vorläufig - letzte Schiff nach Palästina, die »Patria«. Das völlig überfüllte Schiff »Patria«, das sich total verdunkelt, heimlich übers Mittelmeer nach Haifa schleicht, trifft dort am 29. März 1940 im Hafen ein. Die TIETZens sind gerettet. Vom »Gelobten Land« hat Alfred TIETZ allerdings nicht mehr viel. Er stirbt ein Jahr später, wenige Wochen nach seinem 58. Geburtstag.
1948 können Mutter Margarete und Sohn Albert Ulrich TIETZ in die USA emigrieren. Margarete TIETZ, die sich und ihre Familie in Palästina mit einem kleinen Gästehaus finanziell über Wasser gehalten hatte, engagiert sich in vielen sozialen Einrichtungen in den USA. Sie stirbt 1972 im Alter von 85 Jahren. Die »Kaufhof«-AG - nach 1945 im Lande des »Wirtschaftswunders« schnell wieder zu Umsatz und Geld gekommen - hatte sich kulant gezeigt und die ehemaligen Aktionäre und Vorständler im Rahmen der Wiedergutmachung großzügig abgefunden.
Das Schiff “Patria” wird wenige Monate später, am 25. November 1940, im Hafen von Haifa explodieren und rund 270 Menschen, die alle unter britischer Quarantäne standen und nicht an Land durften, in den Tod reißen. Nur ein Teil überlebt.
(JL)
Online am: 01.07.2024
Aktualisiert am: 05.10.2024
Inhalt:
Kaufhauskette GALERIA: Wie aus 4 jüdischen Kaufhäusern ein Pleiteunternehmen wurde
- Von Helmut Horten 1936 zur "GALERIA Karstadt Kaufhof"-Pleite 2024
- "Hat das Kaufhaus praktisch umsonst bekommen"
- Wie es nach den Arisierungen weiterging: mit Helmut Horten und den Enteigneten
- Der große Boykott am 1. April: aus dem Traditionskaufhaus Leonhard Tietz wird die "Kaufhof AG"
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