Das (juristische) Ende der SPIEGEL-Affäre - Chronologie Teil III

und die presserechtliche Wende

Nach den diversen Verhaftungsaktionen, die der zuständige Bundesanwalt Siegfried BUBACK vorgenommen hat, und der unter seltsamen Umständen zustande gekommenen Aktion gegen Conrad AHLERS in Spanien, werden bis Ende des Jahres 1962 die ersten auch wieder auf freien Fuß gesetzt. Dies betrifft

  • Conrad AHLERS, der vom 28. Oktober bis 22. Dezember insgesamt 55 Tage einsitzen musste
  • den Chefredakteur Claus JACOBI (18 Tage Haft)
  • den Verlagsdirektor Hans Detlev BECKER, der den Kontakt zum Hamburger BND-Mann, Oberst WICHT, gehalten hatte (34 Tage Haft)
  • ebenso wie den BND-Oberst WICHT selbst (49 Tage)
  • Rudolf AUGSTEIN's Bruder, Rechtsanwalt Dr. Josef AUGSTEIN (6 Tage)
  • sowie einen der Informanten des SPIEGEL, Oberst Alfred MARTIN (30 Tage Haft).

Die meisten von ihnen können bereits Weihnachten zuhause feiern, die anderen erst Silvester/Neujahr.

Weiter hinter Gittern müssen schmoren

  • der Co-Autor des Artikels "Bedingt abwehrbereit" Hans SCHMELZ
  • und Rudolf AUGSTEIN.

Ungeachtet der Haftverschonung für die meisten inzwischen Freigelassenen treibt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen weiter voran. Sie beantragt noch vor Jahresende beim Bundesgerichtshof (BGH) gerichtliche Voruntersuchungen gegen AUGSTEIN, AHLERS, Oberst MARTIN, sowie gegen Dr. Josef AUGSTEIN, den Rechtsanwalt des SPIEGEL bzw. von Rudolf AUGSTEIN.

Eine erste Verfassungsbeschwerde des SPIEGEL gegen Verhaftungen, Durchsuchungen und Beschlagnahme von Unterlagen sowie eingebrachte Anträge auf einstweilige Anordnungen, die verhindern sollen, dass beschlagnahmte Schriftstücke anderen Personen oder Institutionen herausgegeben würden, beim Bundesverfassungsgericht laufen alle ins Leere. Als Reaktion darauf und in Erwartung dessen, was auf ihn zukommen würde, demissioniert der Präsident des für das SPIEGEL-Verfahren zuständigen Dritten Strafsenats beim Bundesgerichtshof, Heinrich JAGUSCH - er lässt sich versetzen. Er wird sich gegen seine Richterkollegen und deren absehbare harte Linie nicht durchsetzen können.

Zeitgleich hat sich auch ein neues Kabinett aus CDU-, CSU- und FDP-Ministern gebildet:

  • nach wie vor unter Konrad ADENAUER, der aber seinen Abgang für ein Jahr später angekündigt hat,
  • aber ohne Franz Josef STRAUSS.

Winter / Frühjahr 1963

Im Januar wird Hans SCHMELZ nach 81 Tagen Haft auf freien Fuß gesetzt. Am 7. Februar Rudolf AUGSTEIN. Er hat dann 103 Tage in diversen Gefängniszellen gesessen.

Im März wird bekannt, dass die Bundesanwaltschaft längst gegen den Hamburger Polizei- bzw. Innensenator Helmut SCHMIDT ermittelt: wegen Beihilfe zum Landesverrat. SCHMIDT, Autor eines international anerkannten Fachbuchs über "Verteidigung oder Vergeltung?", hatte das Manuskript von AHLERS überflogen und ihm einige Hinweise gegeben, die ein oder andere Information nochmals auf mögliche Geheimhaltung zu überprüfen. AHLERS hatte diesen Rat auch befolgt. Und zusätzlich den Verlagsdirektor BECKER gebeten, alles vom BND checken lassen, der dies über OBERST WICHT laufen ließ.

Helmut SCHMIDT hält dazu am 13, März eine Pressekonferenz ab, in der er seine Rolle beim Zustandekommen des SPIEGEL-Artikels "Bedingt abwehrbereit" schildert. Wieso das "Beihilfe zum Landesverrat" darstellen solle, verstehe er nicht


Bonn: Verteidungs-Ausschuss

Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestags tagt jetzt auch als parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Er will ebenfalls mehrere Ungereimtheiten klären.

Bundesanwalt Albin KUHN berichtet in einer nichtöffentlichen Sitzung, dass DER SPIEGEL als "Verschlußsache" gekennzeichnete Unterlagen aus dem Verteidigungsausschuß bekommen und damit auch gearbeitet, sprich veröffentlicht habe. Zum Beispiel das Protokoll über die Affäre des Oberstleutnant BARTH, den STRAUSS in einer Art von Wutausbruch degradieren ließ. Hintergrund: Einer der untergebenen Piloten von BARTH's Luftgeschwader war versehentlich auf DDR-Gebiet geraten.

STRAUSS hatte nicht nur die sofortige Ablösung von BARTH gefordert, sondern gleich auch noch einen General, der sich für BARTH eingesetzt hatte, in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. DER SPIEGEL hatte daraus eine Geschichte über Franz Josef STRAUSS gemacht: Rechtsstaatliche Details (vgl. den Eintrag "1962" in unserer Chronologie Das Vorspiel

Bei der SPIEGEL-Durchsuchung sind den Ermittlern nun Unterlagen in die Hände gefallen, die belegen würden, so Bundesanwalt KUHN vor den Bonner Parlamentariern, dass diese "Verschlußsachen"-Dokumente vom stellvertretenden Ausschussvorsitzenden einem anderen SPD-Abgeordneten weitergegeben wurden, die der wiederum dem SPIEGEL-Redakteur Hans SCHMELZ überlassen habe. 

Jetzt soll die Immunität der beiden SPD-Parlamentarier aufgehoben werden, damit die Bundesanwaltschaft gegen sie ermitteln kann.

Damit geschieht das, was bereits damals nach geltendem Presserecht nicht sein dürfte: Das Aufspüren von Informanten eines Presseunternehmens: im Wege einer Durchsuchung.

Als SCHMELZ und AHLERS im Juni vor den Ausschuss geladen werden, um auszusagen, verweigern sich beide. Sie können sich auf einen entsprechenden Paragraphen in der Strafrozessordnung berufen, den es bereits damals gegeben hat: den § 53 StPO, der das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten bzw. das Redaktionsgeheimnis und den Informantenschutz regelt. Bis heute.

Die Abgeordneten des Bundestags indes müssen sich erst beraten. Und müssen einsehen, dass es diese Vorschrift tatsächlich gibt. SCHMELZ und AHLERS dürfen wieder gehen...

Auch in allen anderen nichtöffentlichen Sitzungen kann die CDU/CSU-FDP-Mehrheit im Verteidigungsausschuss nicht wirklich klären, wie die "Verschlußsachen"-Protokolle an den SPIEGELgeraten sind, obwohl die meisten Abgeordneten das gerne täten. Pressefreiheit – und was das an Voraussetzungen bedeutet - war damals noch nicht in allen Köpfen... 


1964

Inzwischen hat der Dritte Strafsenat beim Bundesgerichtshof unter seinem neuen Senatspräsidenten weitere Gutachter bestellt, die den SPIEGEL-Artikel "Bedingt abwehrbereit" auf landesverräterische Hinweise prüfen sollen.

Einer von beiden liefert ein 27seitiges Gutachten ab: "Nachrichtendienstliche Gedanken zu dem SPIEGEL-Artikel 'Bedingt abwehrbereit' vom 10.10.1962" und kommt zu dem Schluss: "So muss abschließend festgestellt werden, dass der Artikel im ganzen 44 Sachverhalte der verschiedensten militärischen Fragenkomplexe enthält, die für eine nachrichtendienstliche Auswertung der Gegenseite von hohem Wert sind. Er enthält: 13 nachrichtendienstliche Erkenntnisse, 15 neue für einen Nachrichtendienst wichtige Hinweise, 16 wichtige Bestätigungen, die das Feinbild abrunden und durch die man zu einer richtigen Feindlagebeurteilung kommt."

Der Dritte Strafsenat beim BGH entscheidet im Sommer:

  • Die Anwälte des SPIEGEL dürfen die Akten nur im Gericht in Karlsruhe einsehen
  • die von der Bundesanwaltschaft beschlagnahmten Unterlagen aus der Durchschung werden nicht freigegeben.

Während die Bundesanwaltschaft beim BGH die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen AUGSTEIN, AHLERS und Oberst MARTIN beantragt, setzt sie die ersten Mitverdächtigen bereits außer Verfolgung:

  • den Rechtsanwalt Dr. Josef AUGSTEIN
  • sowie den Paul CONRAD, der Oberst MARTIN mit Rechtsanwalt AUGSTEIN zusammengebracht hatte.

Am 4. November veröffentlicht DER SPIEGEL unter dem Pseudonym "Judex" einen Gastbeitrag unter dem Titel Droht ein neuer Ossietzky-Fall?, in dem der Autor auf die Paralle zwischen dem aktuellen Fall SPIEGEL und der Verurteilung von Carl von OSSIETZKY aufmerksam macht. OSSIETZKY hatte 1929 in seiner Zeitschrift Weltbühne die illegale Aufrüstung der sogenannten Reichswehr enthüllt. Zwei Jahre später musste er dafür 18 Monate, sprich eineinhalb Jahre ins Gefängnis gehen. 

Kurz nach dem „Judex“-Artikel im SPIEGEL weiß die Süddeutsche Zeitung zu berichten, dass der Verfasser des "Judex"-Artikel der bis vor kurzem amtierende Senatspräsident des Dritten Strafsenats beim BGH, Heinrich JAGUSCH, sei. Der BGH dementiert, JAGUSCH outet sich und wird augenblicklich mehr oder weniger freiwillig in den Ruhestand versetzt 


1965

wird das Jahr, in dem sich die Affäre zumindest ihrem juristischen Ende nähert.
So entscheidet sich die Bundesanwaltschaft mehrere Verfahren einzustellen:

  • gegen Hans Detlev BECKER, den Verlagsdirektor
  • den Chefredakteur Johannes K. ENGEL ein, der mit der Geschichte sowieso nichts zu tun hatte
  • gegen den verantwortlichen Chefredakteur Claus JACOBI
  • und gegen den BND-Mann Oberst WICHT.

Damit wird es keinerlei Strafverfahren gegen die Genannten geben.
Und auch der Bundesgerichtshof entscheidet sich, Rechtsanwalt Dr. Josef AUGSTEIN außer Verfolgung zu setzen, also ebenfalls kein Strafverfahren. Denn längst haben der Hausdokumentar beim SPIEGEL, Robert SPIERING, sowie Heinz HÖHNE, in einer ausführlichen Dokumentation, die mehrere Hundert Seiten umfasst, in mühevoller Klein- und Recherchearbeit nachgewiesen, dass aus dem SPIEGEL-Artikel "Bedingt abwehrbereit"

  • jede einzelne Zahl
  • und jede Information

längst irgendwo anders bereits veröffentlicht worden war. 
Daraufhin beschließen die Richter des Dritten Strafsenats beim BGH am 13. Mai 1965, die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Landesverrat usw. gegen

  • Conrad AHLERS
  • und Rudolf AUGSTEIN

abzulehnen. Beide werden "mangels Beweises außer Verfolgung gesetzt." Nur gegen Oberst MARTIN , den Informanten des SPIEGEL bleibt ein Vorbehalt bestehen.
Wenig später stellt auch die Bonner Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Freiheitsberaubung und Amtsanmaßung ein: gegen Franz Josef STRAUSS in Sachen Verhaftung von Conrad AHLERS in Spanien. STRAUSS habe in einem "Verbotsirrtum" gehandelt. Gleiches unterstellt die Bonner Staatsanwaltschaft seinem Staatssekretär Volkmar HOPF, weil nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könnte, daß die Beschuldigten STRAUSS und HOPF in einem für sie "unvermeidbarem“ Verbotsirrtum gehandelt haben


1966

Im Januar 1966 - mehr als drei Jahre nach der Invasion in den SPIEGEL findet vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die mündliche Verhandlung der Verfassungsbeschwerde des SPIEGEL statt, Die Richter vertagen die Bekanntgabe ihrer Entscheidung. Sie sind sich nicht einig: Vier der Verfassungsrichter sehen den SPIEGEL im Recht, die anderen vier nur im Prinzip, aber nicht im konkreten Fall. Im Falle eines Stimmenpatts wird eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Dies geschieht.

Allerdings: Deutschlands höchste Richter schreiben in ihrer Urteilsbegründung vom 5. August für künftige Generationen von Staatsanwälten und Richtern Klartext: Dass es nämlich nicht angehe, eine Durchsuchung und Beschlagnahme von Presseunternehmen allein deswegen durchzuführen, um Informanten ausfindig zu machen.

Hier geht es zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Az: 1 BvR 586/62, 610/63 und 512/64). Es ist ein Meilenstein in der deutschen Rechtsprechung zum Presserecht. Im Vordergrund steht die Unantastbarkeit des Informantenschutzes. Außerdem: Die Presse nimmt eine "öffentliche Aufgabe" wahr. In deren Rahmen wird von ihr erwartet, dass sie kritisch, ohne Druck seitens der staatlichen Macht ungefährdet berichten kann. 

Oberst Alfred MARTIN, ehemals Oberst im Generalstab der Bundeswehr, aus diesem inzwischen hinauskomplementiert, wird erst im Oktober "außer Verfolgung" gesetzt. Das seitens seines Arbeitgebers, dem Bundesverteidigungsministerium, eingeleitete Disziplinarverfahren läuft ersteinmal weiter. Es wird erst 1968 eingestellt werden. So muss der SPIEGEL-Informant, der wie viele seiner jüngeren Bundeswehrkollegen dachte, aber als einziger handelte und zum SPIEGEL mit seinen Sorgen und Befürchtungen gegangen war, insgesamt sechs Jahre lang um diesen Ausgang bangen. Kurz darauf wird er im Alter von 54 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.

Und noch im Dezember wird auch das Ermittlungsverfahren gegen die letzte direkt mit der SPIEGEL-Affäre verbundene Person eingestellt: das Verfahren gegen den Redakteur Hans SCHMELZ 


1967

Nur einer bleibt übrig: Helmut SCHMIDT, der zu dieser Zeit Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag ist. Die befindet sich seit einem Jahr in einer Großen Koalition mit der CDU/CSU uner Bundeskanzler Kurt Georg KIESINGER.

Gegen der "Polizei"- bzw. dann umbenannt in "Innensenator" Helmut SCHMIDT ermittelt dieBundesanwaltschaft bereits seit Ende 1962. SCHMIDT weiß davon ersteinmal nichts - die Ermittlungen sind sogennante Vorermittlungen, sozusagen an der Schwelle zu einem offiziellen Ermittlungsverfahren.

Die Bundesanwaltschaft - oder wer auch immer daran eine Interesse daran haben könnte - hält diese Ermittlungen permanent am Laufen. Sie kommunziert dies auch in der Öffentlichkeit. SCHMIDT steht - beispielsweise bei den regelmäßigen Treffen und Beratungen seiner Innenministerkollegen - unter dem permanenten Ruch eines Landesverratsunterstützers. Einen Nachwuchs-Politiker, der Experte im Bereich von Militär- und Verteidigungsfragen ist und sowohl in Hamburg als auch auf Bundesebene potenziell Karriere machen könnte, könnte man auf diese Art und Weise auszubremsen versuchen...

Erst nach vier Jahren beendet auch die Bundesanwaltschaft ihre - oder wessen auch immer - Ermittlungen gegen Helmut SCHMIDT: ein Ermittlungsverfahren, dass die Bundesanwaltschaft offiziell nie wirklich begonnen, aber ständig im Vorfeld hatte köcheln lassen.

Helmut SCHMIDT's Freund aus Hamburg, Rechtsanwalt Peter SCHULZ, erinnert sich, wie das war und spricht sogar von einer Art "Justizmord". Der Betroffene selbst, Helmut SCHMIDT, kommt als letzter zu Wort: mit einer Bemerkung über seinen Ermittlungsrichter:


Die nachhaltigen Folgewirkungen dieser Affäre, aber auch die unmittelbaren Änderungen nach der SPIEGEL-Invasion und der illegalen 'Verhaftungsaktion' von Conrad AHLERS in Spanien, sind beschrieben unter Was sich nach der SPIEGEL-Affäre ändert.

(JL)