Journalistische Solidarität und "Hamburger Kumpanei" bei der SPIEGEL-Affäre

 Nachdem DER SPIEGEL durch Polizeikräfte besetzt und blockiert war, konnte er nur noch die gerade in Produktion befindliche Ausgabe zu Ende und in die Druckerei verbringen. Danach sollte Schluss sein. Für ganze vier Wochen. Bonn wollte den SPIEGEL auch wirtschaftlich treffen. Beziehungsweise ökonomisch in die Knie zwingen, im Idealfall sogar in die Pleite reiten.

Doch man hatte sich verrechnet. Das "rote Hamburg" tickte anders: Es gab so etwas wie journalistische und verlegerische Solidarität in der liberalen Hansestadt, die dem SPIEGEL auf der Stelle das Weiter(über)leben ermöglichte:

  • Die Verleger hielten alle zusammen, obwohl sie teilweise Konkurrenten waren, aber dennoch partiell wiederum miteinander verbandelt
  • Die Journalisten hielten schon deswegen zusammen, weil sie teilweise miteinander auch persönlich befreundet waren, zumindest aber beruflich ständig miteinander zu tun hatten.

Kritiker sprachen deshalb auch von der "Hamburger Kumpanei". Oder auch von der "Hamburger Pressemafia". 20 Jahre später sprach - im Zusammenhang mit der BARSCHEL-Affäre, die DER SPIEGEL aufgedeckt hatte - der ehemalige Mentor BARSCHEL's und inzwischen zum Bundesverteidigungsminister aufgestiegene Gerhard STOLTENBERG (CDU) von der "linken Kampfpresse aus Hamburg".

Wir rekonstruieren diese Hamburger Besonderheit der "Kumpanei" und beschreiben, wie die Solidaritätsaktion ins Laufen kam. Mehrere Zeitzeugen kommen dabei zu Wort.

Der Medienstandort Hamburg

"Hamburg ist ja die deutsche Pressestadt" - meint der Protagonist Hermann WILLIÉ, gespielt von Götz GEORGE, in dem deutschen Spielfilm "Schtonk" aus dem Jahre 1991, einer Realsatire, die die Geschichte der "Hitler-Tagebücher" der Illustrierten stern nacherzählt. Doch was da - ironisiert - gesagt wird, ist tatsächlich real: Hamburg ist bzw. war, was die Pressemedien anbelangt, derdeutsche Medienstandort Nr. 1. Auch wenn - inzwischen - mehrere Redaktionen in die neue Bundeshauptstadt Berlin umgezogen sind:

  • Von Anfang an in Hamburg: der große Zeitschriftenverlag Gruner+Jahr, gegründet (bzw. fusioniert) von John JAHR, Richard GRUNER sowie dem ZEIT-Gründer Gerd BUCERIUS, wobei dieser nicht im Verlagsnamen auftauchen wollte. Die bekanntesten Titel: stern, Brigitte, Gala, GEO, Schöner Wohnen, Neon u.a.m.
  • Auch BUCERIUS hatte seine Wochenzeitung DIE ZEIT hier gegründet und zum Erfolg geführt - das Wochenblatt arbeitete jedoch die ersten 30 Jahre absolut defizitär. BUCERIUS konnte sein Lebenswerk nur deshalb durchhalten, weil er DIE ZEIT mit den sprudelnden Gewinnen aus der Illustrierten stern querfinanzieren konnte. Die Wochenzeitung sitzt noch heute im selben Gebäude (Speersort 1), in dem 1962 auch DER SPIEGEL residierte.
  • Das "Hamburger Nachrichtenmagazin" DER SPIEGEL, gegründet 1946 in Hannover und 1952 nach Hamburg umgezogen, käme vermutlich nicht auf die Idee, seinen inzwischen angestammten Verlagsort aufzugeben. Seine Hauptstadt-Berichterstattung und die manchmal wichtige Nähe zum politischen Geschehen nehmen Redakteure in der Berlin-Redaktion wahr. Weit wichtiger für ein kritisches Magazin: die notwendige journalistische Distanz, die sich u.a. auch geografisch realisieren lässt.
  • Andere mit Hamburg fest verwurzelte Verlagshäuser: Axel-Springer (Hamburger Abendblatt), der Jahreszeiten-Verlag (Merian) oder auch der Heinrich-Bauer-Verlag, der vor allem im Yellow-Press-Sortiment fischt. Und viele andere mehr ...

Film und Fernsehen sind in Hamburg keine dominierenden Branchen mehr, auch wenn der NDR einer der größten bundesdeutschen TV-Anstalten ist. Seine Tochterfirma Studio Hamburg - das Gegenstück zum bayerischen Film- und Studiounternehmen Bavaria in München - hat einen großen Teil ihrer Kapazitäten längst nach Berlin und Potsdam verlagert. Wenn es um Film und Fernsehen geht, heißen die beiden anderen großen Plätze Berlin und München. Im Online-Bereich allerdings spielt Hamburg wieder ganz vorne mit.

Die Konzentration des journalistischen Know-hows

Branchenspezifische Standorte leben von ihren spezifischen Eigenheiten: den sogenannten Standorteffekten. Diese machen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht bemerkbar:

  • Das journalistische Fach-Know-how ist - schon wegen der Konkurrenzsituation - a) hoch und b) wegen der vielen Verlage in großer Breite und Masse vorhanden
  • Journalisten können deshalb auch öfters ihren Arbeitgeber/Arbeitsplatz wechseln, bis sie dort landen, wo sie ihr spezielles Wissen am besten und nachhaltigsten einbringen können und sich am wohlsten fühlen
  • Dieser ständige Wettbewerb sorgt letztlich für ein tendenziell permanent ansteigendes Qualitätsniveau in vielen Bereichen
  • Neben dieser täglichen 'Konkurrenz' lebt ein solcher Standort aber auch von senen beruflich-kollegialen und freundschaftlich-menschlichen Kontakten untereinander: 'Konkurrenten' waren früher mal Kollegen und/oder könnten es künftig werden. Folge: Man tauscht sich aus, hilft sich, wenn es notwendig wird.

Diese gegenseitige Nähe und gleichzeitig berufliche Distanz, die vor allem die Medienmarken SPIEGEL, ZEIT, stern betraf, hat z.B. der Ex-ZEIT-Redakteur Karl-Heinz JANßEN in seinem Buch aus dem Jahr 1995 "DIE ZEIT in der Zeit" (S. 127) so beschrieben:

"Man traf sich bei Melzer, einer viel zu kleinen Kneipe in der Nähe des Pressehauses. Dort standen vier Tische, an denen einzelne Gruppen zu sitzen pflegten. Am ersten saß in der Regel Rudolf AUGSTEIN mit dem Stab des SPIEGEL, am zweiten Henri NANNEN mit der stern-Crew, am dritten die Redaktionsspitze der ZEIT, und am vierten nahmen Leute vom Grossohaus Wegner Platz.
Die 'Redaktionssitzungen' der ZEIT dort dauerten manchmal von zwei Uhr mittags bis sieben Uhr abends. Volontäre brachten zwischendurch die korrigierten Fahnenabzüge zum Abzeichnen. 'Fiete' MELZER, der aussah wie Winston CHURCHILL, bot damals ein Steak mit Bratkartoffeln samt einem Bier und einem Schnaps noch für 4,50 Mark an; mit Trinkgeld reichte ein Fünfer."

Hamburger Verleger: Konkurrenten & Kollegen

Diese kollegiale Distanz und gleichzeitige Nähe betraf auch die Ebene der Verleger und Chefredakteure. Da 1962 DER SPIEGEL, DIE ZEIT, der sternConstanze oder das Hamburger Echo sozusagen auf demselben Fleck in Hamburg versammelt waren (Pressehaus und Haus am Domplatz direkt dahinter mit dem gemeinsamen Hof) traf man sich nicht nur auf der Straße, der Treppe oder im Paternoster, sondern auch beim Essen: mittags, abends, zwischendurch.

Aus diesem Grund war es auch möglich, dass die Illustrierte stern mit einer Geschichte über die militärische Stärke bzw. die Ungleichgewichte im Falle eines sowjetischen Angriffs ("Wie stark sind wir?") am 7. Oktober 1962 genau einen Tag vor dem fraglichen SPIEGEL-Artikel erscheinen konnte, der dann die sogenannte SPIEGEL-, nicht stern--Affäre auslösen sollte. Den ganzen Ärger bekam dann DER SPIEGEL ab, nicht der stern:

stern-Geschichte mit Grafik am 7. Oktober (links), SPIEGEL-Titel am 8. Oktober (rechts)

AUGSTEIN und NANNEN hatten - mal wieder - beim Chinesen "Nanking" in der Nähe des Rathauses gesessen und gegessen. DER SPIEGEL-Herausgeber hatte dem stern-Mann Henri NANNEN wohl von seiner geplanten Geschichte u.a. über das Nato-Manöver "Fallex" erzählt. NANNEN, der von seinem Reporter Gerd SCHARNHORST wusste, dass dieser ebenfalls die ganzen Monate bereits an der ziemlich gleichen Geschichte saß, hatte seinem Gegenüber AUGSTEIN, obwohl mit ihm beruflich 'befreundet', dann - natürlich - nichts von den eigenen stern-Plänen gesagt. Kaum wieder im Büro heizte NANNEN seinem Reporter ein, dass seine Geschichte jetzt ganz schnell fertig werden müsse: um dem SPIEGEL zuvorzukommen.Die Details berichtet Gerd SCHARNHORST selbst: in einem kleinen Interview mit uns.

Unterschiedliche journalistische Konzepte

Möglich waren diese besonderen Beziehungen auf höchster Ebene auch durch die Unterschiedlichkeit der Blätter und ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen Erfolge (siehe aktive Grafik):

  • Der stern, der in Wort und Bild auf Massenwirksamkeit getrimmt war, ging seit seiner Gründung ab wie eine Rakete. Auflage 1961: knapp 1,4 Millionen verkaufte Exemplare wöchentlich
  • DER SPIEGEL, der sich als investigatives und kritisches Polit-Nachrichtenmagazin verstand, hatte weit weniger Auflage: knapp 400.000 Exemplare
  • Die Wochenzeitung DIE ZEIT, die sich vor allem als Meinungsblatt verstand und weder mit brisanten Informationen und/oder aussagestarken Fotos und Bildern aufwartete, sondern sich in die politische Diskussion einmischen wollte, kam nur sehr langsam in die Gänge: Die Auflage quälte sich mühevoll nach oben - 1961, fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung, hatte die durchschnittliche Verkaufsauflage gerade mal die 100.000er-Marke überschritten.

BUCERIUS, der DIE ZEIT herausgab, aber auch am stern beteiligt war, mit dessen Gewinnen er sein Wochenblatt (quer)finanzieren konnte, hatte Anfang der 60er Jahre die Idee, dem SPIEGEL Konkurrenz zu machen - er fand dessen Artikel oft zu hämisch oder zu spitz. Außerdem wurmte es ihn, dass seine - in der Regel - politisch ausgewogen argumentierende ZEIT nicht nur hinter dem SPIEGEL, sondern auch seiner Illustrierten stern weit hinterherhinkte. BUCERIUS schwebte ein Magazin vor, das das, was ihm am SPIEGEL missfiel, genau anders machen sollte.

Umgekehrt hatte AUGSTEIN den konkreten Plan, ein neues Wochenblatt herauszugeben. Das hätte Konkurrenz für DIE ZEIT bedeutet.

Aus beiden Vorhaben wurde nichts, obwohl sie bereits recht konkret angeleiert waren. Stattdessen kam eine neue Idee auf: die - im Vergleich zu anderen Medien wie Axel SPRINGER's Welt oder die FAZ - liberalen Hamburger Titel ZEIT, SPIEGEL und stern in einem einzigen Verlag zu bündeln. Das würde bedeuten:

  • Konkurrenz untereinander macht künftig keinen Sinn
  • Neue Titel würden ein Zugewinn für alle darstellen
  • und gerade für die defizitäre ZEIT wäre dies eine ökonomische Absicherung.

Auch aus dieser Idee des Jahres 1960 wurde nichts. BUCERIUS und AUGSTEIN, so sehr sie sich als Kollegen und 'Brüder im Geiste' sahen, waren zu verschieden in ihren Ansichten und künftigen Plänen. Beide fetzten sich in mehreren Briefwechseln aufs Heftigste. So warf AUGSTEIN BUCERIUS vor, er sei auf der einen Seite "verantwortungsloser stern-Verleger", auf der anderen Seite ein "verantwortungsvoller ZEIT-Verleger. "Diese Schizophrenie" verstehe er nicht.

So wurden die Pläne (in der aktiven Grafik rot markiert) wieder rückgängig gemacht:

  • Ursprünglich gehörte DER SPIEGEL zu je 50% AUGSTEIN und dem Verleger John JAHR, der die ZeitschriftConstanze herausgab, und der ebenfalls wie BUCERIUS am stern beteiligt war. JAHR's Anteil von 50% sollten nun zu je 25% BUCERIUS und der Druckereibesitzer Richard GRUNER übernehmen.
  • Im Gegenzug sollte AUGSTEIN mit 25% an der ZEIT beteiligt werden:

Nur erwies sich das Modell als nicht zukunftsfähig.

"Hamburger Kumpanei"

So blieb letztlich alles beim Alten (schwarze Linien in der Grafik). Bzw. beim Bewährten:

  • kollegiale Freundschaft, die aber teilweise auch in spitzer Diskussion kultiviert wurde
  • klare Abgrenzung der journalistischen Konzepte und Profile, die für die einen riesigen Erfolg (stern), für denSPIEGEL ein gerade auskömmliches wirtschaftliches Dasein und für DIE ZEIT jedes Jahr erneut herbe Verluste bedeutete.

Ob der ein oder andere ab und an mal darüber nachgedacht hatte, was wäre, wenn das jeweils andere Blatt nicht mehr existieren würde, wissen wir nicht. Es gibt darüber keine Informationen.

Einig waren sich die Verleger aber allesamt in grundsätzlichen Fragen:

  • dass Meinungs- und Pressefreiheit ein konstituierendes Menschenrecht ist
  • und dass sie deswegen nach 1945 einen demokratischen Staat mit aufbauen wollten, der mit den alten obrigkeitsstaatlichen Traditionen bricht.

Zeitzeugen erklären uns die "Hamburger Kumpanei" - in der Reihenfolge ihres Auftretens:

  • Peter SCHULZ, 1962 32 Jahre jung, Rechtsanwalt und Abgeordneter (SPD) der Hamburger Bürgerschaft; mit Helmut SCHMIDT, dem damaligen Innensenator, befreundet. Später: Justizsenator und zweiter Bürgermeister von Hamburg
  • Rudolf HERBERS, 1962 27 Jahre jung und Redakteur bei der Zeitschrift Constanze. Später Ressortleiter bei Schöner Wohnen
  • Herbert LUDZ, der als 29jähriger Jungredakteur beim stern die Affäre erlebte. Heute: Vorstandsvorsitzender der Neuen Gesellschaft, die seinerzeit die Diskussionsveranstaltung am 1. November 1962 im Audi Max der Hamburger Universität organisiert hatte

Die Bewährung

Zum journalistischen Schwur jedenfalls kam es, als am 26. Oktober 1962 in die SPIEGEL-Redaktion

  • die Sicherungsgruppe Bonn des BKA
  • der MAD (Militärischer Abschirmdienst) der Bundeswehr
  • unterstützt - "im Wege der Amtshilfe" - von Kräften der Hamburger Polizei

einrückten, alles beschlagnahmten, die Türen versiegelten, in der Telefonzentrale einen Polizeibeamten postierten ("DerSPIEGEL ist nicht erreichbar") und das Nachrichtenmagazin über 4 Wochen blockierten.Jetzt war die Frage: Würde/könnte der SPIEGEL das finanziell überleben, wenn die Produktion der nächsten Hefte verhindert würde?Die hypothetische Antwort hieß sicherlich: nein. Die tatsächliche Antwort war eine beispiellose Solidaritätsaktion der Hamburger Verleger, die diese Invasion der Staatsmacht als generellen Angriff auf die Pressefreiheit verstanden.

Wie sie reagierten und wie das funktionierte, berichten uns mehrere Zeitzeugen in ihren Erinnerungen über diese Solidaritätsaktion. Zu Wort kommen (in der Reihenfolge ihres Auftretens):

  • Peter SCHULZ, Rechtsanwalt (s.o.)
  • Dr. Dieter WILD, 1962 im Alter von 31 Jahren SPIEGEL-Redakteur im Ressort "D II" und bis zu seiner Pensionierung dem Blatt verbunden
  • Rudolf HERBERS, seinerzeit Constanze-Redakteur (s.o.)
  • Herbert LUDZ, seinerzeit Jungredakteur beim stern (s.o.)
  • Gerd SCHARNHORST, 1962 34 Jahre jung und Redakteur beim stern, der u.a. über Militärfragen schrieb und seinen Artikel "Wie stark sind wir?" genau einen Tag vor dem fraglichen SPIEGEL-Artikel veröffentlichte.


Weiter mit Die Affäre: Wie es nach der Invasion weitergeht. Chronologie Teil II

(JL) 

 

Online am: 21.01.2016
Aktualisiert am: 27.10.2022


Inhalt:

Die SPIEGEL-Affäre 1962 und danach


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