Wie die Wahrheit bei der SPIEGEL-Affäre scheibchenweise ans Tageslicht kommt

und Franz Josef STRAUSS als Bundesverteidigungsminister zurücktreten muss

Während in Hamburg die Beamten der Sicherungsgruppe Bonn (BKA), des MAD und der Bundesanwaltschaft in den SPIEGEL einmarschieren, alles lahmlegen (die gerade noch andauernde Produktion des aktuellen Heftes ausgenommen) und insbesondere das berühmte Archiv („Dokumentation“) blockieren, gehen zwei andere damit verbundene Vorhaben schief – die bereits seit mehreren Tagen in der Hansestadt operierenden Observationstrupps mit den vielsagenen Tarnnamen „Einstein“, „Zweifel“, „Dreifuß“, „Viereck“ und „Fünfkampf“ versagen kläglich. So ist beim „Zugriff“ weder Rudolf AUGSTEIN im SPIEGEL-Gebäude noch Conrad AHLERS in Deutschland. 

Aus diesem Grund laufen wenig später in der Bundeshauptstadt Bonn die Telefondrähte heiß: Gespräche zwischen 

  • den Späh- und Verhaftungstrupps in Hamburg und ihrer Dienststelle Sicherungsgruppe in Bonn“, von wo aus Theo SAEVECKE, ein ehemaliger SS-Haudegen, die ganze Aktion leitet und koordiniert Verteidigungsministerium und Sicherungsgruppe - Sicherungsgruppe und Bundeskriminalamt in Wiesbaden
  • Verteidigungsministerium und Bundeskriminalamt
  • Justizministerium und Verteidigungsministerium
  • Verteidigungsministerium und Deutsche Botschaft in Madrid 

Franz Josef STRAUSS, der inzwischen von den Pannen erfahren hat, will vor allem Conrad AHLERS festsetzen lassen, der auf Urlaub in Spanien weilt. Dabei ist ihm kein Mittel zu schade… 

Teil 1: nochmals ein Rückblick in die nächtliche Aktion von 26./27. Oktober

Freitag, 26.Oktober 1962, ca. 21 Uhr

Bundesanwalt Siegfried BUBACK erteilt der Sicherungsgruppe Bonn unter Leitung von Oberkommissar Karl SCHÜTZ und Kriminalobermeister Gerhard BOEDEN, die sich alle längst in Hamburg  befinden, den Befehl, die SPIEGEL -Zentrale zu besetzen, alle Personen der Räumlichkeiten zu verweisen und anschließend alle Räume zu versiegeln


21:10 Uhr

Die Sicherungsgruppe marschiert in die SPIEGEL -Redaktionsräume ein und erfährt von Claus JACOBI, dem amtierenden Chefredakteur, dass Rudolf AUGSTEIN bereits gegangen ist. JACOBI wird der Durchsuchungsbefehl vorgelegt und gebeten, die restlichen Mitarbeiter zum Verlassen der Räumlichkeiten aufzufordern. Da dies das Erscheinen der SPIEGEL -Ausgabe Nr. 44 gefährdet hätte, verweigert sich JACOBI.

Robert SPIERING, Leiter des berühmten SPIEGEL -Archivs („Dokumentation“) deponiert erste Unterlagen zu dem Artikel „Bedingt abwehrbereit“ an einem sicheren Ort. 

JACOBI erhält vom Einsatztruppenleiter die vorläufige Erlaubnis, die Arbeiten an SPIEGEL -Ausgabe Nr. 44 von einem kleinen Team unter der Leitung von Johannes MATTHIESEN fortsetzen zu lassen. Dabei steht aber hinter jedem Redakteur ein Polizeibeamter und passt auf. Und jede einzelne Seite muss vom anwesenden Bundesanwalt BUBACK freigegeben werden. Ein klassischer Fall von Vorzensur


21:45 Uhr

In Bonn wird Hans Dieter JAENE, Leiter des dortigen SPIEGEL -Büro festgenommen. Das Büro wird ebenso wie seine Wohnung durchsucht


Gegen 22:00 Uhr

Die Sicherungsgruppe erfährt von dem Korruptionsreferenten im Bundesverteidigungsministerium, Karl-Helmut SCHNELL, dass sich der SPIEGEL -Redakteur Conrad AHLERS in Spanien befindet. SCHNELL hatte zuvor ein Gespräch zwischen dem Militärattaché Achim OSTER von der Deutschen Botschaft in Madrid und Oberst Gerd SCHMÜCKLE, Pressesprecher von Franz Josef STRAUSS, mitbekommen, die sich über OSTER’s privates Verhältnis zu AHLERS unterhielten


22:15 Uhr

Beamte der Sicherungsgruppe versuchen Rudolf AUGSTEIN in seinem Haus Maienweg 2 festzunehmen, treffen ihn jedoch auch dort nicht an. AUGSTEIN hat anderes zu tun - er trinkt mit seinem Freund Hans Detlev BECKER bei seiner neuen Freundin (die später seine Ehefrau werden wird), Wein


22:30 Uhr

AUGSTEIN’s Bruder Josef wurde inzwischen vom Leiter der Wirtschaftsredaktion Leo BRAWAND über die Ereignisse informiert. BRAWAND hatte sich in seinem Kleiderschrank im Büro versteckt, als die Sicherungsgruppe Bonn sein Zimmer checkte. Danach konnte BRAWAND über einen Hinterausgang erfolgreich entkommen, den die Observationstrupps ebenfalls übersehen hatten. Er war der, der jetzt einige Leute draußen informieren konnte, was drinnen in der Redaktion geschah. Die Telefonzentrale war schließlich von Sicherungsgruppenbeamten blockiert.

Diese weitere Ermittlungspanne hat die Illustratorin Mara WILD in Comicform festgehalten - auf dem aktiven Bild rechts. 

Währenddessen kündigt der Mitgesellschafter des SPIEGEL und Mitinhaber des stern , John JAHR, an, dass sich Rudolf AUGSTEIN am folgenden Tag um 12 Uhr stellen und eine Aussage machen werde. 
Bei den Durchsuchungen der Privatwohnungen von Rudolf AUGSTEIN, Claus JACOBI und Johannes ENGEL werden zahlreiche Dokumente und Materialien beschlagnahmt.


23:00 Uhr

Der Staatssekretär von Franz Josef STRAUSS, Volkmar HOPF, telefoniert mit Ernst BRÜCKNER, dem Chef der Sicherungsgruppe in Hamburg und bestätigt erneut den Aufenthaltsort von Conrad AHLERS. 
BRÜCKNER rät HOPF, den BKA-Vizepräsidenten DICKOPF anzurufen, um die Möglichkeiten einer Auslieferung von AHLERS zu klären. 
Die Sicherungsgruppe bittet das Verteidigungsministerium allerdings nicht um Hilfe, um etwa AHLERS in Spanien festzusetzen.


zwischen 23:00 und 0:00

HOPF hält Rücksprache mit DICKOPF vom BKA und dem Ministerialrat Dr. KLEINKNECHT vom Bundesjustizministerium. Beide beteuern, es gäbe keinen legalen Weg für eine Auslieferung von AHLERS aus Spanien


Samstag, 27.Oktober 1962, 0:00 Uhr

Die Hamburger Wohnung von Conrad AHLERS wird von zwei Beamten der Sicherungsgruppe durchsucht. Dort schlafen aber lediglich die Kinder von AHLERS, bewacht von einer Tante. 
Die Beamten in Hamburg erfahren, dass der SPIEGEL -Redakteur erst am 08. November zurückkehren wird


kurz nach 0:00 Uhr

Jetzt greift Franz Josef STRAUSS ins Geschehen ein – er telefoniert mit seinem Staatssekretär HOPF – er will AHLERS so schnell wie möglich verhaftet sehen, nachdem schon die Verhaftung von Rudolf AUGSTEIN voll daneben gegangen ist. Anschließend ersucht STRAUSS seinen Adjutanten Willi WAGENKNECHT, schnellstmöglich eine Verbindung mit dem Militärattaché OSTER in der deutschen Botschaft von Madrid herzustellen. Dieser ist jedoch nicht erreichbar


0:45 Uhr

Adjutant WAGENKNECHT gelingt es, zumindest den Kanzler der deutschen Botschaft ans Telefon zu bekommen. Daraufhin greift STRAUSS selbst zum Telefon und befiehlt dem Botschaftskanzler dafür zu sorgen, dass ihn OSTER binnen einer halben Stunde zurückruft. Weiterhin erkundigt er sich, ob sich AHLERS tatsächlich in Spanien aufhalte. Der Botschaftskanzler bestätigt dies. Eigentlich hat STRAUSS Botschaftsangehörigen nichts zu sagen, denn deren Dienstherr ist der Außenminister. Dennoch weist STRAUSS den Botschaftskanzler zu absoluter Geheimhaltung an: 

„Ich verpflichte Sie, über dieses Telefongespräch mit niemandem zu sprechen, als mit dem Oberst Oster. Dies ist ein dienstlicher Befehl. Ich handle in diesem Augenblick auch im Namen des Herrn Bundeskanzlers und des Herrn Außenministers.“


1:00 Uhr

Nach erfolgter Durchsuchung des Hauses von AHLERS in Hamburg geben die Beamten den Aufenthaltsort an die Sicherungsgruppe in Bad Godesberg weiter. Diese weiß jedoch bereits seit 22:00 Uhr vom Korruptionsreferenten Karl-Helmut SCHNELL, dass der SPIEGEL -Redakteur nicht in Deutschland ist


zwischen 0:00 und 1:00 Uhr

Die Interpol-Zentrale in Wiesbaden bittet mit freundlichen Worten die spanischen Behörden im Namen des Bundeskriminalamts um die vorläufige Festnahme von AHLERS - Interpol hat keinerlei Anweisungsrechte. Begründung den spanischen Kollegen gegenüber: Es bestünde ein Haftbefehl, ausgestellt vom Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof Wolfgang BUDDENBERG. Tatsächlich benutzt ein Beamter des BKA den Fernschreiber der Interpolzentrale, die sich im selben Gebäude befindet. So entsteht der Anschein, es handle sich um ein Schreiben von Interpol selbst


1:25 Uhr

Jetzt meldet sich der Militärattaché Achim OSTER, den man zu diesem Zweck aus dem Bett geholt hat, befehlsgemäß bei Franz Josef STRAUSS am Telefon und erfährt, dass gegen AHLERS ein Haftbefehl wegen militärischen Geheimnisverrats vorliegt. STRAUSS gibt an, im Namen des Bundeskanzlers zu handeln und verlangt von OSTER die unverzügliche Festsetzung AHLERS: 

„Herr Oberst Oster, ich komme soeben vom Bundeskanzler und dies, was ich jetzt zu sagen habe, ist ein dienstlicher Befehl zugleich im Namen des Bundeskanzlers" , so STRAUSS, „es ist von entscheidender Bedeutung, dass Herr Ahlers so schnell wie möglich festgesetzt wird, damit der Generalbundesanwalt durch Ahlers erfährt, wo das Loch im Verteidigungministerium ist." 

Die Bedenken des Militärattachés zerstreut er mit der Behauptung, ein Haftbefehl von Interpol wäre bereits unterwegs


2:00 Uhr

Mit diesem Wissen bzw. mit diesem inoffiziellen Auftrag trifft sich OSTER mit dem Leiter der Konsularabteilung der Botschaft Christian FEIT und berichtet ihm von der Aktion gegen den SPIEGEL und dem dringenden Haftbefehl gegen AHLERS. Beide beschließen den Konsulatssekretär zu verständigen, der gute Kontakte zum Chef der spanischen Interpolzentrale, Pozo GONZÁLES hat. Schließlich gelingt es den drei Männern, GONZÁLES zur Kooperation zu überreden, indem sie immer wieder auf den angekündigten Haftbefehl von Interpol verweisen. GONZÁLES gibt daraufhin den Befehl zur Festnahme AHLERS


nach 2:00

Daraufhin telefoniert OSTER aus Madrid mit HOPF in Bonn und unterrichtet ihn von der veranlassten Festnahme von AHLERS. Staatssekretär HOPF wiederum gibt die Information an Franz Josef STRAUSS weiter


3:00 Uhr

Conrad AHLERS und seine Frau werden von Polizisten in ihrem Hotelbett in Torremolinos aufgeschreckt, festgenommen und auf das Polizeipräsidium in Malaga gebracht. Dort versucht man ihnen zu erklären, dass sie dringend in Deutschland benötigt würden


gegen 5:00 Uhr

Im Hamburger SPIEGEL -Büro sind die Arbeiten an der SPIEGEL -Ausgabe Nr. 44 beendet. Darauf hin werden die letzten Räume des SPIEGEL -Gebäudes verschlossen und versiegelt


5:30 Uhr

Der Leiter der Konsularabteilung von FEIT gibt Militärattaché OSTER eine Rückmeldung: AHLERS ist von der spanischen Polizei festgesetzt. Der wiederum vermeldet dies nach Bonn an Franz Josef STRAUSS


zwischen 6:00 und 7:00 Uhr

AHLERS ist damit noch nicht in Deutschland. Er ist auch nicht wirklich verhaftet. Die spanische Polizei hat bisher keinen konkreten Grund und kann AHLERS auch nicht unbegrenzt festhalten – AHLERS ist Ausländer. 
Auf Drängen des Geschäftsträgers der deutschen Botschaft setzt sich daher OSTER erneut mit Staatssekretär HOPF in Verbindung. HOPF wiederum bittet die Sicherungsgruppe, dringend einen ‚echten’ Haftbefehl von Interpol nach Spanien zu senden. 
Die Verantwortlichen der Sicherungsgruppe leiten die Angelegenheit an ihren BKA-Vizepräsidenten DICKOPF weiter


10:00 Uhr

Heilwig AHLERS, Ehefrau von Conrad AHLERS, wird freigelassen und kontaktiert den deutschen Honorarkonsul Emil KÜSTNER. Der wimmelt sie ab. Erst nach einem zweiten Anruf ist er bereit, mit dem Polizeipräsidenten von Malaga zu sprechen, um zu erfahren, was gegen ihren Mann vorläge.


11:25 Uhr

BKA-Vize DICKOPF telegraphiert einen Haftbefehl in deutscher Sprache direkt an die spanischen Behörden und kündigt telefonisch eine Übersetzung ins Spanische an


danach

Heilwig AHLERS wird von der Polizei erneut abgeholt und auf das Präsidium zurück gebracht. Unterdessen trifft Honorarkonsul KÜSTNER ein. Die Beamten können ihm den Grund für die Festnahme des Ehepaars AHLERS jedoch nicht sagen und geben vor, auf „Weisung von oben“ gehandelt zu haben. 
Das deutsche Archäologische Institut meldet sich bei Heilwig AHLERS und besorgt ihr die Nummern von Militärattaché Achim OSTER sowie dem Leiter der Konsularabteilung an der Madrider Botschaft Christian FEIT. Beide sind alte Bekannte von Conrad AHLERS. Militärattaché Achim OSTER zeigt sich nicht gesprächsbereit, obwohl er das Ehepaar AHLERS noch wenige Tage zuvor auf einem Spaziergang durch Madrid begleitet hat


12:00 Uhr

In Hamburg stellt sich Rudolf AUGSTEIN Beamten des Hamburger Polizeipräsidiums und wird auf der Stelle festgenommen


gegen 13 Uhr

Der stellvertretende BKA-Präsident Paul DICKOPF telefoniert erneut mit den spanischen Sicherheitsbehörden in Malaga und empfiehlt, Conrad AHLERS zu einer freiwilligen Ausreise zu bewegen


14:30 Uhr

Ein weiterer Haftbefehl aus Deutschland kommt bei den spanischen Behörden an. Dieses Mal findet sich darauf ein Zusatz – ein Vorschlag des BKA: AHLERS solle zur freiwilligen Ausreise nach Deutschland überredet werden


abends samstags

Heilwig AHLERS spricht mit Christian FEIT, der sie umfassend über die Aktion gegen den SPIEGEL unterrichtet. Er schlägt außerdem vor, dass sie und ihr Mann eine Erklärung unterschreiben sollen, wonach beide freiwillig nach Deutschland zurückkehren würden. 
Auf dem Polizeipräsidium unterzeichnet das Ehepaar AHLERS die Erklärung. Conrad AHLERS wird jedoch nicht freigelassen, sondern bleibt eine weitere Nacht in Arrest


Sonntag 28.Oktober 15:20 Uhr

Conrad und Heilwig AHLERS betreten „freiwillig“ eine Maschine der Lufthansa nach Deutschland – ohne Zwischenlandung. 
Dies war die einzige Möglichkeit für die deutsche Botschaft - bzw. das Verteidigungsministerium und alle anderen an der Verhaftung Interessierten, AHLERS auf ‚legalem Weg’ in die Bundesrepublik zurück zu holen


19:15 Uhr

Conrad AHLERS landet auf dem Flughafen von Frankfurter/Main. Dort wird er auf der Stelle von der Polizei verhaftet – die Panne ist ausgebügelt

In der Zeit zwischen der Festnahme Conrad AHLERS am 18. Oktober 1962 und dem Beginn der Bundestagsdebatte am 7. November 1962 herrscht in der Bundesrepublik helle Aufregung. Die Ereignisse entwickelen sich dabei zu Ungunsten von Franz Josef STRAUSS: 

Jetzt will im Bonner Bundestag die SPD-Opposition wissen, was wirklich geschehen ist. Sie beantragt dazu eine parlamentarische Fragestunde, in der die Regierung, also die zuständigen Minister, Auskunft geben müssen.

Zwischenzeitlich sind erste Informationen über die seltsamen Umstände auch der Verhaftung von Conrad AHLERS an die Presse durchgesickert. Viele Zeitungen stellen Fragen. Ebenso die Bevölkerung. Die Parlamentsopposition greift diese Fragen auf: in Fragestunden bzw. Bundestagsdebatten. Wegen der ausweichenden und unvollständigen Auskünfte und der begrenzten Redezeit bzw. Fragestundendauer wird sich dies über drei Tage hinziehen: drei Tage, an denen die Wahrheit scheibchenweise ans Tageslicht kommen wird. 

Wir dokumentieren – sehr kompakt – in der hinterlegten Tabelle (pdf), 

  • was gefragt und wie und was geantwortet wird (linke Spalte)
  • wie es sich tatsächlich zugetragen hat (rechte Spalte)

(MaWe)