Anne BRORHILKER: ihre Demontage durch Staatsanwaltschaft und Politik in 11 Kapiteln

Recherchiert, rekonstruiert und aufgeschrieben von zwei “Handelsblatt”-Journalisten: Sönke IWERSEN und Volker VOTSMEIER.

Beide bekamen dafür 2025 einen “Wächterpreis der Tagespresse” zugesprochen. Erschienen war der Report in der Wochenendausgabe 30./31.August/1.September 2024 des “Handelsblatt”


Deutschlands bekannteste Staatsanwältin in Sachen Steuerhinterziehung war nach Einschätzung ihres Vorgesetzten offenbar eine ziemliche Niete. „Inhaltlich unzulänglich“, nennt Stephan NEUHEUSER, Chef der Staatsanwaltschaft Köln, die Arbeit von Anne BRORHILKER. Ihre Berichtsentwürfe seien „regelmäßig deutlich überarbeitungsbedürftig“ gewesen. Schon NEUHEUSERs Vorgänger habe mit BRORHILKER sprechen müssen, weil sie ihr „obliegende zentrale Pflichten nicht erfüllte“.

NEUHEUSERs Worte stammen aus einer Antwort von Benjamin LIMBACH (GRÜNE) auf eine Anfrage an die nordrhein-westfälische Landesregierung. Die FDP-Fraktion legte dem NRW-Justizminister am 23. November 2023 einen 25-seitigen Fragenkatalog vor. Hintergrund war „das beherrschende rechtspolitische Thema in Nordrhein-Westfalen“, schrieben die Abgeordneten Henning Höne, Marcel Hafke und Werner Pfeil: die Aufarbeitung der Steueraffäre Cum-Ex, in der BRORHILKER federführend ermittelte.

Minister LIMBACH hatte im September 2023 angekündigt, BRORHILKERs Abteilung aufzuspalten. Sie sollte die Hälfte ihrer Fälle an einen Mann abgeben, der in Steuerstrafsachen kaum vorgebildet war.

Dabei galt Cum-Ex als einer der größten Finanzskandale der Nachkriegszeit. Banken und Investoren ließen sich Steuern „erstatten“, die sie gar nicht gezahlt hatten. Der Schaden wurde auf zwölf Milliarden Euro geschätzt.

BRORHILKER war die Staatsanwältin, die wie keine Zweite an der Aufklärung arbeitete. „Mehr als 80.000 Bürgerinnen und Bürger unterzeichneten binnen weniger Tage eine Petition' ,Cum-Ex-Täter*innen nicht davonkommen zu lassen'„, erinnerten die FDP-Politiker den Minister an die öffentliche Reaktion auf seine Pläne.

Tatsächlich ließ der Minister in der Folge davon ab. Die Abgeordneten fragten nun, wie LIMBACH überhaupt auf die Idee kommen konnte, seine eigene Koryphäe in Sachen Cum-Ex zu demontieren.

Denn alles schien doch auf bestem Weg. BRORHILKER hatte Steueranwalt Hanno BERGER hinter Gitter gebracht, einen der größten Strippenzieher in der Cum-Ex-Affäre. Mit seiner Revision scheiterte BERGER vor dem Bundesgerichtshof. Auch gegen mehrere Manager der Privatbank M.M. Warburg hatte BRORHILKER Schuldsprüche erreicht.

Aktuell lief der Prozess gegen den Eigentümer Christian OLEARIUS, dessen Nähe zum heutigen Bundeskanzler Olaf SCHOLZ (SPD) den Cum-Ex-Skandal bis ins Kanzleramt trug. Im Frühjahr 2024 folgten weitere Schuldsprüche. Das Gericht verurteilte zwei Londoner Investmentbanker zu mehrjährigen Haftstrafen. Außerdem traf es Yasin QURESHI, geständiger Ex-Vorstand der Varengold Bank.

Im April 2024 bat BRORHILKER um die Entlassung aus ihrem Dienstverhältnis. „Ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird“, sagte sie in einem Interview mit dem WDR. BRORHILKER hat seither weitere Interviews gegeben, auch im Handelsblatt. Über die konkreten Gründe ihrer Kündigung schwieg die Staatsanwältin.

Die Antworten des Justizministeriums auf die Anfrage der FDP im NRW-Landtag zeigt nun erstmals offen, welche Geringschätzung BRORHILKER von ihrem Vorgesetzten erfuhr. Justizminister LIMBACH ließ sich nach eigenen Angaben für seine Antwort von Stephan NEUHEUSER informieren. Der Leiter der Staatsanwaltschaft Köln zeichnete von BRORHILKER das Bild einer Minderleisterin.

Schriftsätze ihrer Abteilung seien „oft unvollständig und unklar“ gewesen, berichtete NEUHEUSER an LIMBACH. Er habe „einen Verwaltungsvorgang eingesehen“ und erfahren, „dass diese Schwächen bereits länger bestanden“. BRORHILKERs Berichte hätten ein Verständnis für die Besonderheit der Cum-Ex-Verfahren vermissen lassen. Sie sei „in dringenden Fällen“ kurzfristig nicht erreichbar gewesen. BRORHILKERs Vertreterin hätte die Kastanien aus dem Feuer holen müssen.

Wer solche Vorgesetzten hat, braucht keine Feinde!

Wer solche Vorgesetzten hat, braucht keine Feinde. Unter BRORHILKERs Regie klagte die Staatsanwaltschaft Köln 16 Männer und eine Frau an. Alle Strafprozesse führten zu Verurteilungen, oft mit hohen Haftstrafen. Drei Urteile hat der Bundesgerichtshof bestätigt. Kein Ermittler hat eine bessere oder auch nur vergleichbare Bilanz.

Das fiel auf, national wie international. Der frühere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans nannte BRORHILKER einen „Leuchtturm in der Bekämpfung organisierter Steuerkriminalität“. Die Nachrichtenagentur Bloomberg führte sie als einzige Deutsche in ihrer „Top 50“ - die Liste der „Menschen und Ideen, die das globale Geschäft bestimmen“. Das britische Magazin „Global Investigations Review“ kürte ihr erstes Verfahren 2021 zum „weltweit wichtigsten Gerichtsfall des Jahres“.

Kenner ihrer Arbeit halten BRORHILKERs nachträgliche Demontage für eine Unverschämtheit. „Das ist üble Nachrede, eine Schmutzkampagne“, sagt der ehemalige NRW-Justizminister Peter BIESENBACH. „Die Schriftsätze von Frau BRORHILKER waren immer tadellos. In meiner Zeit gab es nie Beschwerden über ihre Berichte.“ Stefan WEISMANN, Präsident des Landgerichts Bonn, bestätigt: „BRORHILKER war eine Top-Ermittlerin, ihre Arbeit in der Sache hervorragend.

Das Thema ist hochpolitisch. „Der Abgang von Oberstaatsanwältin BRORHILKER ist ein ganz schlechtes Signal“, sagt Sven WOLF, der für die SPD im NRW-Landtag sitzt und dem Rechtsausschuss angehört. „Sie hat diese Behörde zur Speerspitze im Kampf gegen Steuerkriminelle gemacht.

Eine andere Partei, derselbe Verdacht: „Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Justizminister Frau BRORHILKER nicht nur entmachten, sondern ganz loswerden wollte“, sagt der FDP-Abgeordnete Werner PFEIL. „Man muss es so klar sagen: Justizminister LIMBACH ist für die Misere verantwortlich und hat jetzt auch noch seine beste Ermittlerin vergrault.“

Die FDP-Fraktion wird das Thema in der nächsten Plenarsitzung des Landtags auf die Agenda setzen. Damit seien aber längst nicht alle parlamentarischen Möglichkeiten ausgeschöpft, sagt PFEIL. Er hat eine Idee: „Durch einen Untersuchungsausschuss würden die zu Wort kommen, die bisher weder im Plenum noch im Rechtsausschuss zu Wort kommen konnten.“

Steht Deutschland ein neuer Justizskandal bevor? BRORHILKER sagt, das Dienstgeheimnis gelte für sie auch nach ihrem Dasein als Beamtin. Sie könne weder jetzt noch in Zukunft über das sprechen, was sich in der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium zugetragen hat.

Oberstaatsanwalt Ulrich BREMER, der für die Staatsanwaltschaft Köln spricht, verweist bei Nachfragen zur Bewertung von BRORHILKER auf die Antwort von LIMBACH auf die Große Anfrage der FDP. Der Justizminister schätze Frau BRORHILKER außerordentlich, sagt sein Sprecher. LIMBACH habe bei seiner Antwort lediglich die Wahrnehmungen von NEUHEUSER wiedergegeben. Ein eigenes Bild habe er sich vorher nicht gemacht.

Das Handelsblatt hat in der Finanzbranche, der Politik und in der Justiz geforscht. Nach und nach ergab sich das Bild einer Schlangengrube. Jahrelang wurde BRORHILKER von ihrer eigenen Behörde und dem übergeordneten Justizministerium behindert und angefeindet. Nun ist der Apparat sie los. Hier ist das Protokoll ihrer Demontage, in elf Kapiteln.

Kapitel 1: Am Anfang ein Zufall

Handelsblatt-Collage, Foto: Michael Englert, Collage: J.BRAUCKMANN

 

Die Geschichte von Anne BRORHILKER und den Cum-Ex-Ermittlungen beginnt 2013. Die Staatsanwältin hat die ersten elf Jahre ihrer Beamtenkarriere hinter sich und gerade ihren 40. Geburtstag gefeiert. In den baufälligen Räumen der Staatsanwaltschaft in Köln-Sülz ermittelt BRORHILKER in der Baubranche, in Fällen von Sozialabgabebetrug und bei Umsatzsteuerhinterziehung.

Im Spätsommer jenes Jahres landet der erste Cum-Ex-Fall in ihrer Behörde. Kaum jemand außerhalb der Finanzszene kennt den Begriff. Und wenn alles seinen normalen Gang nehmen würde, bliebe auch BRORHILKER eine Laiin.

Eigentlich ist die Staatsanwaltschaft Bonn am Zug. Sie ist zuständig, weil es in dem Fall um Steuererstattungen des Bundeszentralamts für Steuern geht, das in der früheren Hauptstadt seinen Sitz hat. Doch BRORHILKERs Vorgesetzter Hanns-Joachim WOLFF erkennt, dass seine Ermittler dafür besser geschult sind als die Kollegen in Bonn. Er zieht den Fall an sich.

Dann hilft BRORHILKER der Kollege Zufall. Fälle werden in Staatsanwaltschaften nach Eingang verteilt. Eigentlich ist eine Kollegin an der Reihe. Doch die arbeitet nur halbtags. Weil der Fall so groß ist, übernimmt BRORHILKER.

Dabei ist sie nicht die erste Ermittlerin, die sich mit Cum-Ex beschäftigt. Gut 20 Jahre bedienten sich Banken und ihre besten Kunden unbehelligt aus der Steuerkasse. Ab 2011 weigerten sich erste Finanzämter, Steuererstattungen aus Cum-Ex-Geschäften zu überweisen. In Wiesbaden ergingen am 3. Februar drei Steuerbescheide an den Milliardär Rafael ROTH. Er sollte 113 Millionen Euro zurückzahlen, plus zehn Millionen Zinsen. Eine Klageschlacht begann.

Im Juli 2012 legte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt die erste strafrechtliche Cum-Ex-Ermittlungsakte an. Im November durchsuchten Beamte die Kanzlei des Steueranwalts Hanno BERGER. Er floh in die Schweiz.

Drogerieunternehmer Erwin MÜLLER

All das weiß BRORHILKER im Sommer 2013 noch nicht. Vor ihr liegt nur die Akte aus dem Bundeszentralamt für Steuern. Sie enthält einen Brief des Stuttgarter Rechtsanwalts Eckart SEITH. Er vertritt den Drogerieunternehmer Erwin MÜLLER.

Der Fall MÜLLER zeigt das Prinzip von Cum-Ex. Drei Mal investierte der Milliardär in solche Geschäfte. Zwei Mal lief alles wie vorgesehen. MÜLLER strich satte Renditen ein, auch die begleitenden Banken, Anwälte und Wirtschaftsprüfer verdienten prächtig. Dass der Gewinn aus der Steuerkasse kam, sagt MÜLLER, habe er nicht gewusst.

Beim dritten Mal stellte sich das Finanzamt quer. MÜLLER verpasste nicht nur seinen Gewinn, sondern verlor auch den Großteil seines Einsatzes - 47 Millionen Euro. Er wandte sich an den Rechtsanwalt SEITH. Der klagte gegen die Bank, die den Cum-Ex-Fonds an MÜLLER verkauft hatte - und versorgt seitdem die Staatsanwaltschaft mit Informationen.

BRORHILKER staunt. SEITH nennt als Treiber des Steuerbetrugs Adressen wie die Schweizer Bank Sarasin, das Hamburger Traditionshaus M.M. Warburg, die Luxemburger Fondsgesellschaft Sheridan und Anwälte wie Hanno BERGER. Zig Millionen Euro seien von Investoren wie MÜLLER eingesammelt worden. Großbanken wie Macquarie hätten teils das Zwanzigfache an Krediten dazugeschossen, um mehr Aktien handeln zu können. Alles habe darauf abgezielt, die deutsche Steuerkasse um Hunderte Millionen Euro zu erleichtern.

Razzien in Frankfurt/M, London, Dublin, Paris, Madrid - in den USA, Kanada und Australien

Handelsblatt-Collage, J. BRAUCKMANN

Mehr als ein Jahr wühlt sich BRORHILKER durch den Fall. Je weiter sie kommt, desto klarer wird ihr, welche gewaltigen Ausmaße Cum-Ex hat. Hier haben sich nicht bloß ein paar Kriminelle zusammengefunden. BRORHILKER liest Mails, in denen fünfzig Personen und mehr in „cc“ stehen. Aktienhändler, Spitzenjuristen, Bankvorstände, Wirtschaftsprüfer. BRORHILKER berichtet ihrem Chef: Wir haben es hier mit einer ganzen Industrie von Steuerbetrügern zu tun.

Am 14. Oktober 2014 kommt sie aus der Deckung. Monatelang hat BRORHILKER diesen Tag vorbereitet, mit der europäischen Justizbehörde Eurojust eine der größten internationalen Razzien aller Zeiten geplant. Jetzt sitzt sie in der Einsatzzentrale beim Landeskriminalamt in Düsseldorf. Kurz nach Sonnenaufgang in Deutschland greifen die ersten Beamten zu.

Fast zeitgleich werden Ermittler in Frankfurt, London, Dublin, Paris und Madrid bei Banken sowie Privatadressen renommierter Manager vorstellig, auch in den USA, Australien und Kanada. BRORHILKER hat Razzien in der Schweiz arrangiert, in Luxemburg, Malta, Gibraltar und auf den Britischen Jungferninseln. In den nächsten Tagen und Wochen werden ganze Lastwagen voller Beweismaterial in Köln eintreffen.

Kapitel 2: Die Wut des Spiritus Rector Hanno BERGER

Noch während die Beamten erste Zeugen befragen und Akten sicherstellen, erfährt ein Mann von der Razzia, der von sich glaubt, er kenne das Recht besser als jeder andere. „Kannste mir mal sagen, was das noch mit Rechtsstaat zu tun hat, was wir da jetzt erleben?, fragt Hanno BERGER seine Gesprächspartnerin am Telefon. „Gar nix.“

BERGER, von 1981 bis 1995 in der Finanzverwaltung Hessen tätig, zuletzt als höchster Bankenprüfer in Deutschlands Bankenmetropole, wechselte 1996 in die Privatwirtschaft, machte Station bei Shearman & Sterling und Dewey Ballantine. 2010 gründete er seine eigene Kanzlei.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt führt BERGER in ihren Akten als „Spiritus Rector“ in Sachen Cum-Ex. Seit seiner Flucht 2012 lebt er im Schweizer Bergdorf Zuoz. Seine Ohren hat er überall. Einer seiner Anwälte ist Wolfgang KUBICKI, ein FDP-Politiker mit Ambitionen aufs Amt des Bundesfinanzministers.

Eine „schöne Scheiße“, sei es, dass Beamte heute auch einen Geschäftspartner in Luxemburg durchsucht hätten, beschwert sich BERGER am 14. Oktober 2014 in einem Telefonat. „Hätt' nur nicht gedacht, dass sie da aufkreuzen. [...] Ich hab' die ganze Zeit gesagt, der Laden muss dichtgemacht werden. [...] Die haben so viel da an möglichen Informationen, die sie rausfischen.

Dabei war sich BERGER jahrelang sicher, dass ihm kein Finanzamt und kein Steuerfahnder der Welt seine Cum-Ex-Geschäfte kaputtmachen könne. Schuld an den doppelten Steuererstattungen sei eine Lücke im Gesetz, erklärt er jedem Journalisten, der ihn in seinem Schweizer Exil anruft. Es sei nicht verboten, das auszunutzen.

Der eigentliche Skandal sei, dass er sich vor diesen übergriffigen Ermittlern verstecken müsse, sagt BERGER. Er sehne den Tag herbei, an dem er das alles vor einem neutralen Gericht erklären könne. Noch jahrelang wird BERGER behaupten: „Ich bin ein Mann des Rechts.“

Es war alles Show. Was immer Männer wie BERGER ihren Mandanten, den Medien oder sich selbst einredeten - ihre angeblich geniale Investmentstrategie war eine bloße Fieberfantasie. „Denklogisch unmöglich“ nannte das Finanzgericht Köln in einem Urteil 2019 die Idee, eine Steuer könne zwei Mal erstattet werden. Das genau dies trotzdem gelang, sei zwar „ein Glanzstück, aber eben ein kriminelles Glanzstück“.

Und so tobt BERGER nun, als er am 14. Oktober 2014 erfährt, wo die Kölner Staatsanwältin BRORHILKER überall durchsuchen lässt. Als er merkt, wie nahe sie ihm gekommen ist. „Kann doch nicht wahr sein. Ach du Scheiße. Die waren in London bei KPMG?“, fragt BERGER seine Gesprächspartnerin, als die ihm erzählt, dass auch Akten der britischen Wirtschaftsprüfer von den deutschen Beamten beschlagnahmt wurden. „Sind die denn wahnsinnig?

BERGERs Wut hält Tage an. „Linksfaschistisch und kommunistisch“, nennt er in einem Telefonat am 15. Oktober die Begründung der Durchsuchungsbeschlüsse. Dann richtet sich sein Zorn gegen die Frau, die ihn jagt.

„Kleine Tante und blöde Kuh, nennt BERGER die Staatsanwältin. Seine Gesprächspartnerin solle BRORHILKER beim nächsten Termin „fertigmachen“. Die ist skeptisch, hat Respekt vor BRORHILKER. Sie warnt BERGER: „Was sie kann, ist Cum-Ex.“

BERGER schwant eine Verschwörung. Was ihn sorgt, sei der „politische Vernichtungsfeldzug“ gegen sich, wie in anderen totalitären Staaten, sagt er. Aber BERGER will das nicht hinnehmen. 50 Millionen Euro hat er mit Cum-Ex verdient. Die kann er nun einsetzen. Sein Plan: Man müsse „denen aufs Maul hauen“.

BERGER geht zur Gegenoffensive über. Gegen die „sozialistische Drecksbande“, wie er die Ermittler nennt. Gegen die „Schweinerichter“, die deren Durchsuchungsbeschlüsse unterschreiben. Und vor allem gegen Anne BRORHILKER. Er wird sie anzeigen.

Kapitel 3: Die Einzelkämpferin

BRORHILKER's Chefs können sich für das Jahrhundertverbrechen nicht erwärmen. Zentnerweise hat die Staatsanwältin Beweismaterial herangeschafft. Etliche der größten Namen in der Finanzbranche sind verdächtig. Die Aufklärung soll BRORHILKER nach dem Willen ihrer Vorgesetzten trotzdem im Wesentlichen allein erledigen. Vier Mitarbeiter des Landeskriminalamts in Düsseldorf helfen, in Köln kommt kurz vor der Großrazzia ein zweiter Staatsanwalt dazu. Millionen von E-Mails, Terrabyte von Daten, Querverbindungen rund um den Globus. BRORHILKERs Team bleibt so klein, wie es ist.

Das freut diejenigen, die mit Cum-Ex Millionen verdienten. Dass jetzt das kleine „Einsatzkommando Tax“ alles auswerten soll, beruhigt die Szene, ja es amüsiert sie. Ihr Credo: Die spinnt doch, die BRORHILKER.

Die Gelassenheit der Cum-Ex-Branche ist gut begründet. Ein bundesweiter Vergleich der Ermittlungen zeigt, wie ungewöhnlich das ist, was in Köln in den folgenden Jahren geschehen wird. Fast überall anderswo laufen die Ermittlungen so, wie es sich ein Verdächtigter nur wünschen kann.

  • 127 Millionen Euro zahlte die HSH Nordbank in Hamburg an Steuern und Zinsen 2013 aus Cum-Ex-Geschäften zurück. Es musste also jemanden geben, der den Staat zuvor geschädigt hatte. Schwere Steuerhinterziehung beginnt bei 50.000 Euro. Hier ging es um mehr als das 2000-Fache.
  • Die Hamburger Staatsanwaltschaft kümmerte das kaum. „Beobachtungsvorgänge“, seien damals zu Cum-Ex angelegt worden, sagt ein Sprecher. Zur Einleitung eines Strafverfahrens sah man keinen Grund. Dito bei der Hamburger Privatbank M. M. Warburg, die noch mal 60 Millionen Euro mehr Schaden anrichtete.
  • Die Landesbank Baden-Württemberg hinterzog zwischen 2007 und 2009 nach eigener Auskunft mit Cum-Ex Steuern in Höhe von 166 Millionen Euro. Die Bank zahlte das Geld zurück. Aber wer war verantwortlich? Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart begannen 2013. Sie waren und sind nach Darstellung der Behörde „sehr umfangreich und aufwendig“, das Verfahren „besonders komplex“. Die Personalstärke, mit der dieser Fall bearbeitet wird? Eine Person.
  • Ein noch viel größeres Cum-Ex-Rad als in Hamburg oder Stuttgart drehte die Westdeutsche Landesbank in Düsseldorf. Jahrelang seien die Geschäfte auf Kosten der Steuerzahler das Einzige gewesen, was in der WestLB profitabel war, berichten Insider. Aber als die FDP im August 2013 im Landtag Fragen dazu stellte, sagte Finanzminister Norbert WALTER-BORJANS (SPD): „Der Landesregierung ist nicht bekannt, dass die WestLB AG Cum-Ex-Geschäfte durchgeführt hat.“

Damit gaben sich alle zufrieden, trotz aller Anzeichen des Gegenteils. „Natürlich haben wir Cum-Ex-Geschäfte gemacht“, sagte ein Ex-Mitarbeiter der WestLB dem Handelsblatt im November 2015. Das sei kein Geheimnis gewesen.

Das klang deutlich, war den Verantwortlichen aber nicht deutlich genug. WALTER-BORJANS saß ab 2010 selbst im Aufsichtsrat der WestLB. 2012 ging die Bank unter. Rechtsnachfolgerin wurde die Portigon AG. Deren Vertreter dementierten kategorisch, was in der Zeitung stand.

2016 kam die Staatsanwaltschaft, 2020 die Rechnung. Allein für die Cum-Ex-Geschäfte aus den Jahren 2006 und 2007 forderte der Fiskus eine Nachzahlung von 450 Millionen Euro. Strafrechtlich wurde in der Sache bis heute niemand angeklagt.

Hanno BERGER hat im Oktober 2014 also allen Grund zu fluchen, dass ausgerechnet bei ihm intensiv ermittelt wird. In einem Telefonat kündigt er an, er wolle „Informationen über Borjans, das Schwein“ in Sachen WestLB an das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ geben. BERGER werde nun „draufhauen auf die Schweine“.

BERGER verkennt, dass es Anne BRORHILKER überhaupt nicht kümmert, wem er Informationen über Politiker steckt. Innerhalb eines Jahres hat sie eine internationale Ermittlerkooperation aus dem Boden gestampft. Nun setzt sie das Cum-Ex-Puzzle Stück für Stück zusammen - inklusive BERGER. Und hat der Flüchtling schon bisher kein Glück, kommt jetzt auch noch Pech dazu.

Kapitel 4: Zwei Insider packen aus

Ende 2014 meldet sich ein Mainzer Anwalt bei der Steuerfahndung Wuppertal. Er vertritt einen Mann, der sich Paul Smith nennt. Bis vor Kurzem war sein Mandant Tax Director eines Unternehmens für die Vermittlung von Wertpapiergeschäften, zugehörig zur französischen Großbank Société Générale.

Smith sagt, er habe Beweise für Cum-Ex-Geschäfte von 130 Finanzinstituten. Er könne nicht nur zeigen, wie sie funktionieren, sondern auch, woran die Steuerbehörden bisher scheiterten, solche Geschäfte nachzuweisen. Smith wisse das deshalb so genau, weil er in seinem Unternehmen selbst „für die Abwehr von Verfahren wegen Beihilfe zu Steuervergehen“, zuständig gewesen sei. Nun wolle er sein Wissen verkaufen.

Es beginnt ein langes Schachern. Im Sommer 2015 werden sich beide Seiten bei fünf Millionen Euro einig. Es ist der höchste Betrag, den der deutsche Staat je für solche Daten gezahlt hat. Nordrhein-Westfalen wird zum Wissenszentrum für Cum-Ex.

BRORHILKERs Arbeit rückt damit in den Fokus der Bundespolitik. Im Februar 2016 konstituiert sich ein Untersuchungsausschuss des Bundestags zu Cum-Ex. In den folgenden 16 Monaten wird er 46 mal tagen und 70 Zeugen befragen.

Anfang 2016 durchsucht BRORHILKER die Hamburger Bank M.M. Warburg, dann ist Zwangspause. BRORHILKER wird ein halbes Jahr zur Generalstaatsanwaltschaft geschickt. So will es die Beamtenlogik, Milliardenskandal hin oder her.

Dann kommt der 7. November 2016. In einem acht Quadratmeter großen Vernehmungsraum mit milchigen, vergitterten Fenstern empfängt BRORHILKER einen besonderen Gast. Er heißt Kai-Uwe STECK und möchte Kronzeuge werden.

STECK ist ein Mann, der sich als geläuterter Cum-Ex-Täter ausgibt. Er sei seiner eigenen Gier verfallen, habe sich bei seinen kriminellen Steuergeschäften für unantastbar gehalten. Einmal erwischt, sei er in einen Abgrund der Scham und Depression gestürzt. Im Zeugenstand des Landgerichts Bonn wird STECK Jahre später seinen Gemütszustand so beschreiben: „Ich kann jetzt morgens in den Spiegel schauen, ohne mich zu übergeben.“

Für BRORHILKER ist STECK ein Geschenk. Der Anwalt war einmal Protegé von Hanno BERGER, Deutschlands Steuerguru. 2006 betreuten sie ihr erstes Cum-Ex-Geschäft, 2010 machten sich die beiden als BERGER STECK & Kollegen selbstständig. Am 28. November 2012 erhielten sie in ihrer Kanzlei im 32. Stock des Frankfurter Skyper unangekündigten Besuch von Polizei und Steuerfahndung.

BERGER war gerade unterwegs und nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Er ließ STECK zurück. Erst zerbrach ihre Kanzlei, dann ihre Freundschaft.

STECKs Anwalt Alfred DIERLAMM überzeugt ihn davon, dass BERGERs Wir-gegen-die-Nazis-Strategie nicht zielführend sei. STECK muss umdenken, auch in seinem Rollenverständnis. In der Cum-Ex-Welt sei ihm, abgesehen von Sekretärinnen, nicht eine einzige Frau untergekommen, sagt STECK dem NDR-Magazin Panorama. Das sei eine reine Männerwelt gewesen. „Investmentbanker, Anwälte, Steuerberater - alles nur Männer. Und jetzt spielt die Hauptrolle eine Frau.

Gemeint ist Anne BRORHILKER. „Sie hat meinen vollen Respekt“, sagt STECK. „Dass ich das mal über die Feindin von einst sagen würde, hätte ich auch nicht gedacht.“

BRORHILKER sei eine Person, die man wegen ihres zierlichen Äußeren sehr schnell unterschätze. Dabei sei sie sehr durchsetzungsstark, sehr intelligent und furchtlos. Sie habe sich nie von ihrem Weg abbringen lassen. Auch dann nicht, als „die Granaten bei ihr einschlugen“, sagt STECK.

Seine erste Vernehmung beim LKA in Düsseldorf am 7. November 2016 beginnt um 9.43 Uhr und endet um 17.41 Uhr. Am nächsten Tag geht es weiter. Dutzende Gespräche folgen.

Kapitel 5: Was macht die da?

So groß der Respekt des Kronzeugen für BRORHILKER, so gering ist ihre Wertschätzung in der eigenen Behörde. Beamte in der Staatsanwaltschaft Köln sehen BRORHILKER nicht als Leuchtturm im Kampf gegen Steuerkriminalität, wie es später einmal ein Minister formulieren wird. Sie halten BRORHILKER für übergeschnappt.

Wer um Gottes Willen lässt da ganze Lastwagen von Arbeit auf den Hof fahren und hat dann nichts Besseres zu tun, als gleich das nächste Großverfahren anzustoßen? Kollegen, die an BRORHILKERs Büro vorbeikommen, können sie vor lauter Aktenordnern und Kisten kaum sehen. Ihr unbändiger Arbeitseifer sät keine Anerkennung, sondern Zwietracht.

Das Getuschel hört nicht mehr auf. Was will BRORHILKER damit erreichen, Großbanken in Frankfurt, London und New York gleichzeitig auszuforschen? Glaubt die Staatsanwältin, sie sei etwas Besseres? Will sie ihre Kollegen schlecht aussehen lassen?

BRORHILKERs direkter Vorgesetzter heißt Torsten ELSCHENBROICH. Er gibt BRORHILKER keine Hilfestellung, sondern will wissen, wann sie endlich fertig wird mit ihrem Verfahren. Es gebe schließlich noch andere Dinge in NRW als Cum-Ex. Mehrfach sei es zu lautstarken Wortgefechten zwischen den beiden gekommen, berichten Insider. Auf Nachfragen dazu verweist ein Sprecher der Staatsanwaltschaft auf die Antwort der Landesregierung auf die Anfrage der FDP.

Die Zahlen sprechen für BRORHILKER. Allein mit den Erkenntnissen aus ihren Ermittlungen und den Informationen der Whistleblower konnten Staatsanwaltschaft Köln und Steuerbehörden 2016 schon Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zurückholen und weitere Auszahlungen durch das Bundeszentralamt für Steuern unterbinden. BRORHILKERs Cum-Ex-Projekt ist keine Belastung für die Behörden. Es ist ein Profit-Center.

Trotzdem hat die Staatsanwältin auch weiter oben in der Hierarchie keine Freunde. Behördenleiter Joachim ROTH stellt BRORHILKER kaum zusätzliches Personal zur Verfügung. Von Justizminister Thomas KUTSCHATY (SPD) gibt es in seiner Amtszeit 2010 bis 2017 nicht eine öffentliche Aussage zu Cum-Ex.

Auch sein Nachfolger gibt zu, dass er das Thema anfangs unterschätzte. Peter BIESENBACH (CDU) sagte einmal, er habe vor seinem Antritt im Juni 2017 kaum gewusst, was Cum-Ex eigentlich sei. Da war der Bundestagsuntersuchungsausschuss in der Steueraffäre längst abgeschlossen und der 830 Seiten starke Bericht gedruckt.

Wer denkt, die Missachtung ihrer Arbeit durch ihre Chefs könne BRORHILKER stoppen, liegt falsch. Im September 2017 lässt sie die deutsche Niederlassung des US-Finanzdienstleisters State Street durchsuchen, im März 2018 filzt sie ein zweites Mal die Büros der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. Im November 2018 meldet sie sich beim US-Finanzriesen Blackrock. Dort sitzt Friedrich MERZ (CDU) im Aufsichtsrat.

Kritiker spotten, BRORHILKER wolle sich mit der ganzen Welt anlegen. Sie kontert mit einem Hinweis auf das Legalitätsprinzip. Wo immer eine Staatsanwältin auf Hinweise illegaler Handlungen treffe, sei sie gezwungen zu ermitteln. So wolle es das Gesetz.

Im Herbst 2019 kommt BRORHILKERs erste Anklage vor Gericht. Zwei britische Börsenhändler, früher im Dienst der Hypo-Vereinsbank, die Cum-Ex-Geschäfte mit der Warburg-Bank tätigten, sind beschuldigt. Beide sind geständig. In der Cum-Ex-Szene bricht Panik aus.

Jeder Schritt von BRORHILKER wird jetzt nervös beobachtet. Im August 2019 durchsucht sie erneut Clearstream, eine Tochter der Deutschen Börse, einen Monat später die Commerzbank. BRORHILKERs Name taucht immer häufiger in den Medien auf. Ihre Vorgesetzten fassen einen Entschluss.

Kapitel 6: Wer am Faden zieht

Am 17. September 2019 lädt NRW-Justizminister BIESENBACH (CDU) zu einer Pressekonferenz in Düsseldorf. Das Thema: Cum-Ex. Es gebe etwas Wichtiges zu verkünden, heißt es im Vorfeld. Die Journalisten sollten das nicht verpassen.

Anne BRORHILKER ist nicht im Raum, als die Veranstaltung beginnt. Neben dem Justizminister sitzen ihr Vorgesetzter ELSCHENBROICH und Behördenleiter Joachim ROTH. Sie sind gekommen, um sich zu feiern.

56 Cum-Ex-Verfahren mit mehr als 400 Beschuldigten führe die Staatsanwaltschaft Köln inzwischen, sagt ROTH. Die Ermittlungen liefen wie am Schnürchen. Der Durchbruch sei gewesen, „als es gelang, die ersten Leute zum Reden zu kriegen“, sagt Elschenbroich. Von da an seien immer mehr gefolgt. „Niemand will der Letzte sein, der noch etwas sagen könnte.“ Durch den ersten Cum-Ex-Prozess steige der Druck noch.

Dann ist der Minister dran. Cum-Ex sei Chefsache, sagt Peter BIESENBACH. Er kündigt an, die Zahl der Stellen für die Steuerermittlungen zu verdoppeln - von fünf auf zehn. Das Verfahren in Bonn diene als Blaupause. Künftig werde es „Anklagen im Akkord“ geben. BIESENBACH: „Der Rechtsstaat ist stark!

Es gibt Nachfragen. Frau BRORHILKER habe doch schon 2013 den ersten Cum-Ex-Fall übernommen, erinnern Journalisten den Minister. Bewies ihre internationale Razzia nicht bereits 2014, welche Ausmaße die Affäre hat? Nun ist es Herbst 2019. Warum ließ man die Staatsanwältin so lang allein?

BIESENBACH lässt antworten. Es sei schon richtig gewesen, den größten Steuerskandal Deutschlands mit einer minimalen Personalstärke anzugehen, erklärt Oberstaatsanwalt Elschenbroich. Man habe Cum-Ex erst einmal verstehen müssen. Da hätte es „nichts gebracht, wenn zehn Staatsanwälte Akten gewälzt hätten, ohne zu wissen, wonach sie suchen sollten“.

Behördenchef ROTH ergänzt: „Es kam darauf an, einen Faden zu entwirren und das Knäuel dann neu zu ordnen. Da nützt es nichts, wenn 100 Leute an dem Faden ziehen oder einer das macht und 99 schauen zu.“

So verlassen die Journalisten die Veranstaltung mit einer Erkenntnis. Das Prinzip der Arbeitsteilung funktioniert vielleicht weltweit, aber nicht in der NRW-Justiz. Eine Frage bleibt: Wie sollen zehn Beamte 56 Verfahren mit 400 Beschuldigten zum Abschluss bringen?

Kapitel 7: Arbeit, Arbeit, Arbeit

Neun Monate später sind es 61 Verfahren und 800 Beschuldigte. Bald kommen sieben Ermittlungskomplexe von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf hinzu. Das sind noch mal zusätzlich 80 Beschuldigte, viele davon von der WestLB, deren Cum-Ex-Geschäfte schon fünf Jahre zuvor detailliert im Handelsblatt standen. Auch das Großverfahren der HSBC Trinkaus landet in Köln.

Nachrichten wie diese beruhigen die Cum-Ex-Szene. Insider bemerken Mitte 2020 einen Stimmungswechsel unter den Steuerhinterziehern. Habe es angesichts des Prozessbeginns am Landgericht Bonn vor einem Jahr noch die Neigung gegeben, sich bloß schnell mit der Justiz anzufreunden, würden Beschuldigte nun auf Konfrontation und Verzögerung umschalten. Ihre Botschaft an den Rechtsstaat: Ihr werdet ja doch nicht fertig.

BRORHILKER hat noch ganz andere Sorgen. Der Prozess in Bonn dreht sich um Cum-Ex-Geschäfte der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. Bei den Ermittlungen hat sich eine politische Tangente ergeben. Eine Spur führt in die Hamburger SPD. Und zum Kanzler.

Privatbank M.M. Warburg in Hamburg und Olaf SCHOLZ (SPD)

HB-Collage, J. BRAUCKMANN: Bankbesitzer Christian OLEARIUS und sein Bankhaus M.M.Warburg in Hamburg

Vier Jahre zuvor wollte das Hamburger Finanzamt 47 Millionen Euro von der M.M. Warburg zurückfordern. Bankeigentümer Christian OLEARIUS, seit Dekaden eng verdrahtet in der Hanseatischen Wirtschaft, Kultur und Politik, schaltete die SPD-Politiker Johannes Kahrs und Alfons Pawelczyk ein. Sie organisierten ihm Treffen mit dem damaligen Ersten Bürgermeister Hamburgs, Olaf SCHOLZ. Im November 2016 verzichtete das Hamburger Finanzamt auf das Geld von M.M. Warburg.

BRORHILKER kennt diese Details auch deshalb, weil sie bei Durchsuchungen die Tagebücher von OLEARIUS fand. Der Bankchef war ein fleißiger Chronist und hielt seinen Austausch mit der Hamburger SPD und der für seine Bank zuständigen Finanzbeamtin Daniela P. penibel fest. Bei Kahrs, Pawelczyk und Daniela P. sieht BRORHILKER den Anfangsverdacht der Begünstigung.

HB-Collage, J. BRAUCKMANN

Das Trio könnte der M.M. Warburg bei der Hinterziehung von Steuern geholfen haben. Wieder hält sich BRORHILKER an das Legalitätsprinzip: Jedem Verdacht muss nachgegangen werden. Im Spätsommer 2020 will sie in Hamburg durchsuchen, um weitere Beweise einzusammeln. Die mit ihr ermittelnde Kriminalhauptkommissarin befürwortet diesen Schritt. Das Gericht gibt grünes Licht. Doch ihr Chef stellt sich quer. Oberstaatsanwalt ELSCHENBROICH verhindert die Razzia.

BRORHILKER ist außer sich, berichten Eingeweihte. Sie versteht zwar, dass sie Entscheidungen ihres Vorgesetzten akzeptieren muss. Aber sie kann sie nicht akzeptieren, wenn sie aus ihrer Sicht gegen Grundprinzipien des Rechtsstaats verstoßen.

In solchen Streitfällen geht die betreffende Ermittlungsakte komplett zur Prüfung an das zuständige Justizministerium. Am 3. September 2020 schreibt BRORHILKER einen Vermerk. Darin breitet sie ihre Verdachtsmomente nochmals aus.

BRORHILKERs Recherche überzeugt das Justizministerium. Die Durchsuchung in Hamburg, die ihr Vorgesetzter ELSCHENBROICH verbot, findet doch statt, allerdings erst am 22. September 2021. Der Streit mit ihrem Vorgesetzten hat BRORHILKER ein Jahr gekostet.

Die Behörde sieht darin bis heute keinen Fehler. „Die Prüfung eines Anfangsverdachts ist nicht mit der Lösung einer mathematischen Aufgabe zu vergleichen“, sagt Oberstaatsanwalt Ulrich BREMER, der für die Behörde spricht. Bedingung für Ermittlungen seien „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“. Das sei „eine allgemein gehaltene gesetzliche Definition“, die „vielfach verschiedene Interpretationen ein und desselben Sachverhaltes zulässt“.

BRORHILKER sagt dazu nichts. Bremsen ließ sie sich auch nicht. Im August 2020 durchsucht sie beim Bundesverband deutscher Banken. Im Oktober beginnt der zweite Cum-Ex-Prozess in Bonn, diesmal gegen einen ehemals ranghohen Manager der Traditionsbank M.M. Warburg.

Auf der höchsten politischen Ebene in Nordrhein-Westfalen hat man BRORHILKERs Bedeutung als Aushängeschild der Kriminalitätsbekämpfung erkannt. Im Januar 2021 gewährt NRW-Innenminister Herbert REUL (CDU) bis zu 40 zusätzliche Kripobeamtinnen für Cum-Ex-Ermittlungen. Für Justizminister BIESENBACH ist der Streit zwischen BRORHILKER und ihrem Vorgesetzten ELSCHENBROICH ein Warnzeichen. Er sorgt vor.

Im März 2021 richtet der Minister einen neuen Schwerpunkt für Cum-Ex ein - die Hauptabteilung H. BRORHILKER wird Chefin und erhält 20 Stellen. Sie muss nicht mehr an ELSCHENBROICH berichten. Dass ihre Abteilung viele Monate nicht auf der Internetseite der Staatsanwaltschaft Köln zu finden sein wird - geschenkt.

Kapitel 8: Neuer Minister, neue Probleme

Im Juni endet der Prozess vor dem Landgericht Bonn mit einem historischen Urteil - ein erster Cum-Ex-Täter muss ins Gefängnis. Christian S, der ehemalige Generalbevollmächtigte der M.M. Warburg, lange der engste Mitarbeiter von Christian OLEARIUS, erhält eine Strafe von fünfeinhalb Jahren Haft.

Für BRORHILKER werden die nächsten Monate zu einer juristischen Ehrenrunde. Der Bundesgerichtshof und der Bundesfinanzhof sprechen Entscheidungen zu Cum-Ex. Beide bestätigen BRORHILKERs Rechtsauffassung. Im Februar 2022 entscheidet das Schweizer Bundesamt für Justiz, dass Hanno BERGER ausgeliefert werden kann.

Kurz darauf holt die deutsche Polizei den ehemaligen Staranwalt nach fast zehn Jahren Flucht an der Schweizer Grenze ab und bringt ihn in die Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim. Im April beginnt sein Prozess. BRORHILKERs Anklage wird für BERGER mit einer achtjährigen Haftstrafe enden. Doch vorher ändern sich die Vorzeichen ihrer Arbeit.

Nach der NRW-Wahl am 15. Mai 2022 hat die bisherige Regierung aus CDU und FDP keine Mehrheit mehr. Die Grünen dagegen verdreifachen ihr Ergebnis fast und bilden eine Koalition mit der CDU. Als Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sein Kabinett umbildet, ist für einen wichtigen Fürsprecher BRORHILKERs kein Platz mehr. Justizminister BIESENBACH verliert sein Amt.

Grüne Wende: Justizminister Benjamin LIMBACH

Sein Nachfolger heißt Benjamin LIMBACH. Der Grünen-Politiker will neue Schwerpunkte setzen. In Dortmund richtet er eine „Zentralstelle für die Verfolgung der Umweltkriminalität“ ein. Zum Steuerskandal Cum-Ex hört man nach seinem Amtsantritt kaum etwas von ihm.

BRORHILKER arbeitet einfach weiter. 2022 hat sie schon die Bank of America durchsuchen lassen, Barclays in London, JP Morgan in New York und erneut die Deutsche Bank. Die Cum-Ex-Affäre nimmt ein ungeheures Ausmaß an.

Doch hoffnungsvolle Anfragen nach mehr Personal werden nun aus dem Justizministerium kühl zurückgewiesen. Stattdessen sollen sich BRORHILKERs Staatsanwälte jetzt nebenbei um Corona-Straftaten kümmern.

Im August 2022 merkt man auch in Hamburg, dass aus dem NRW-Ministerium ein anderer Wind weht. Der Senat in der Hansestadt beschäftigt sich in einem Untersuchungsausschuss mit der Frage, ob es unter dem ehemaligen Ersten Hamburger Bürgermeister und heutigen Bundeskanzler Olaf SCHOLZ zu politischer Einflussnahme zugunsten des Hamburger Bankiers Christian OLEARIUS kam.

Die Frage zielt auf Cum-Ex-Geschäfte der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. Weil die eigenen Strafbehörden die Sache verschlafen haben, braucht der Hamburger Untersuchungsausschuss Hilfe aus Nordrhein-Westfalen. Der ehemalige Justizminister Biesenbach hatte die Übersendung der Beweismittel schon zugesagt. Doch unter seinem Nachfolger hakt die Amtshilfe.

So oft die Hamburger auch darum bitten - und so wortreich der Minister und seine Mitarbeiter ihre Amtshilfe auch zusagen - eine Übermittlung der Cum-Ex-Akten findet nicht statt. Mal müsse man diese Bedenken prüfen, mal jene Nachfragen klären, heißt es aus Düsseldorf. Monate vergehen.

Anfang Juli 2023 droht Richard SEELMAECKER, Obmann der CDU im Ausschuss, schließlich unverhohlen mit einer Klage, sollte die NRW-Justiz weiter mauern. So etwas ist noch keinem Justizminister in Deutschland passiert.

Fast ein Jahr nach der Zusage des NRW-Ministeriums, die nötigen Daten zu liefern, erreicht den Arbeitsstableiter im Untersuchungsausschuss, Steffen Jänicke, ein neuer Brief aus Düsseldorf. „Bitte seien Sie versichert, sehr geehrter Herr Dr. Jänicke, dass wir den Anspruch des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses auf Amtshilfe durch eine zeitgerechte Vorlage von Akten und anderen Gegenständen sehr ernst nehmen“, schreibt der Ministerialbeamte Marc SOTELSEK am 2. Juni 2023. Man wolle mit einer vierköpfigen Delegation am 5. Juli 2023 nach Hamburg kommen, um „idealerweise in die Erörterung eines Konzepts einzutreten, um die Gewährleistung einer raschen Aktenvorlage sicherzustellen“.

Der Termin findet statt, die Düsseldorfer Delegation mit hochrangigen Beamten übergibt in Hamburg einen Datenträger mit sieben Terrabyte. Ein Eklat scheint abgewendet. Dann öffnen die Hamburger Politiker die ersten Dateien. Es sind die falschen.

Am 9. September 2023 schreibt SEELMAECKER einen neuen Brief an LIMBACH. Es seien zwei weitere Monate vergangen, ohne dass NRW dringend notwendige Daten übermittelt habe. Der Abgeordnete setzt dem Minister ein Ultimatum bis zum 20. September.

Kapitel 9: Sündenböcke aus Köln

Benjamin LIMBACH (GRÜNE) zürnt. Ein Jahr ist der Minister jetzt im Amt. Wollte er sich als Speerspitze gegen die Umweltkriminalität etablieren, steht er nun als Bremser bei der Bekämpfung von Steuervergehen im Rampenlicht. Im Rechtsausschuss am 16. August 2023 sucht LIMBACH einen Sündenbock.

Er findet Joachim ROTH. „Der Leitende Oberstaatsanwalt in Köln lieferte die Informationen, die wir zur Unterrichtung des Ausschusses gebraucht hätten, mit großer Verzögerung oder gar nicht“, sagt LIMBACH. Seine eigenen Briefe an den Hamburger Untersuchungsausschuss, in denen LIMBACH Gründe für die ausbleibende Amtshilfe nannte, spielen in der Darstellung des Ministers nun keine Rolle mehr.

Die Staatsanwaltschaft Köln sei eine Behörde außer Kontrolle. Anordnungen seines Ministeriums hätten „leider nicht zum Erfolg“ geführt. „Schon mein Haus und ich konnten aufgrund der teils nicht schlüssigen Berichtslage nicht mehr nachvollziehen, mit welchen Gründen uns der Leitende Oberstaatsanwalt nicht einmal eine teilweise Zusammenstellung der angeforderten Akten und Asservate mit einer unmissverständlichen Freigabeerklärung zur Weiterleitung an den Ausschuss vorlegte.

LIMBACH sieht sich im Streit mit den Hamburger Politikern als Lösung. Das Problem sei die Staatsanwaltschaft. Der Minister sagt: „Das Informationsrecht der Abgeordneten wäre ohne das Eingreifen meines Hauses vereitelt worden.“

Joachim ROTH weiß an diesem Tag längst, dass seine Karriere am Ende ist. Schon vier Wochen vor LIMBACHs Rede im Rechtsausschuss veröffentlicht seine Behörde ein Bild. ROTH steht links, LIMBACH rechts, gemeinsam halten sie eine Urkunde. Darunter der Text: „Der Leitende Kölner Oberstaatsanwalt Joachim ROTH wird auf eigenen Antrag mit Ablauf des 31. Juli 2023 nach einem Berufsleben im Dienst für die Bürgerinnen und Bürger des Landes in den Ruhestand treten.“

 

Handelsblatt-Illustration, Foto: Michael Englert

Kapitel 10: Der Eklat

Einen Monat später wird Stephan NEUHEUSER neuer Leiter der Staatsanwaltschaft Köln. Die Richtung hat LIMBACH vorgegeben: NEUHEUSER soll sich um BRORHILKER und ihre Cum-Ex-Abteilung kümmern. „Ein besonders helles Schlaglicht ist auf die Verwaltung und Organisation der Dienstgeschäfte von Hauptabteilung H der Staatsanwaltschaft Köln gefallen und hat dort einige Schwierigkeiten hervortreten lassen“, sagt LIMBACH im Rechtsausschuss. Es gebe Handlungsbedarf.

Kaum im Amt, handelt NEUHEUSER. Der neue Leiter der Staatsanwaltschaft Köln schlägt dem Minister vor, die Abteilung von Anne BRORHILKER aufzuspalten. Eine neue Hauptabteilung I soll gegründet werden und die Hälfte der Cum-Ex-Fälle aus der Hauptabteilung H übernehmen. NEUHEUSER hält es nicht für nötig, vorher mit BRORHILKER oder dem Generalstaatsanwalt Thomas Harden über diesen Schritt zu sprechen.

„Es war für sie ein Schlag in die Magengrube“, sagt ein Vertrauter von BRORHILKER. Zehn Jahre lang habe sie an der Aufklärung von Cum-Ex gearbeitet wie keine andere. Und dann setze man ihr einen Novizen vor die Nase.

Laut Flurfunk soll sich BRORHILKER künftig mit Ulrich Stein-Visarius absprechen. Er ist als Leiter der zweiten Abteilung für Cum-Ex im Gespräch. Noch führt er das Referat für Jugendstrafrecht im NRW-Justizministerium. In Streitfällen soll Stephan NEUHEUSER entscheiden. Für BRORHILKER wäre es ein Rückschritt in eine Welt, die sie gut kennt: Männer mit weniger Fachkompetenz als sie handeln über ihren Kopf hinweg.

Die Oberstaatsanwältin kommt zu einem radikalen Schluss. Sie wird hinschmeißen. Wie es der Zufall will, sucht die Bürgerinitiative Finanzwende gerade einen neuen Geschäftsführer. BRORHILKER schreibt eine Bewerbung.

Gleichzeitig richtet sie einen Brief an den Personalrat. Er ist das Gremium, das die Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen gegenüber dem Justizministerium vertritt. Auf neun Seiten schildert BRORHILKER, wie sie die Dinge sieht. Den Konflikt mit dem Hamburger Untersuchungssauschuss; das Verhalten des Ministers und des neuen Chefs der Staatsanwaltschaft; die Pläne für ihre Abteilung.

Welcher Zweck mit der Teilung der Hauptabteilung verfolgt wird, bleibt unklar“, schreibt BRORHILKER. Es sei zu befürchten, dass diese organisatorische Maßnahme die Ermittlungen „erheblich beeinträchtigen wird, da wegen der zahlreichen sachlichen Überschneidungen in diesen Fallkomplexen eine einheitliche Sachbehandlung nicht mehr gewährleistet erscheint“.

Der Kölner Generalstaatsanwalt Thomas HARDEN teilt ihre Sorge. Anfang September 2023 formuliert er seinerseits ein Schreiben an den Justizminister: „Zu dem vorbezeichneten Bericht des Leitenden Oberstaatsanwalts in Köln, dem offenbar ein Vorgespräch im Ministerium der Justiz zugrunde liegt, an dem ich bedauerlicherweise nicht eingebunden war.“

HARDEN erlaubt sich eine Bemerkung: „Eine derart grundlegende Neuausrichtung der Hauptabteilung H scheint nur dann zeitnah effektiv und vor allem mit Erfolg umsetzbar, wenn auch Oberstaatsanwältin BRORHILKER dahintersteht. Das ist offenbar nicht der Fall.“

Harden warnt LIMBACH, die geplante Umstrukturierung müsse „sehr überzeugend begründet werden, damit nicht der Eindruck entstehen oder der Vorwurf erhoben werden kann, die Strafverfolgung auf dem Gebiet der Cum-Ex-Straftaten solle entscheidend behindert werden“. Eine solche Begründung, schreibt HARDEN, sehe er nicht. Im Gegenteil.

Es würden „Jahre verstreichen“, bis eine neue Hauptabteilung den erwünschten Kenntnisstand für die zu bearbeitenden Cum-Ex-Verfahren hätte, schreibt Harden. Eine faktische Entmachtung BRORHILKERs sei auch „Wasser auf den Mühlen“ der Cum-Ex-Beschuldigten, die „bisher durchweg erfolglos Befangenheitsanträge gegen Oberstaatsanwältin BRORHILKER angebracht haben. [...] Vor diesem Hintergrund vermag ich den Antrag des leitenden Oberstaatsanwalts jedenfalls derzeit nicht zu befürworten.“

Es hilft nichts. NEUHEUSER setzt sich durch. Die Aufspaltung von BRORHILKERs Abteilung soll schon am 16. Oktober 2023 vollzogen werden. An seine Mitarbeiter schreibt NEUHEUSER am 29. September: „Das Ministerium der Justiz hat hierzu mit Erlass vom 22.9.2023 das für diese Organisationsmaßnahme erforderliche Einverständnis erklärt.“

Es passiert genau das, wovor Generalstaatsanwalt HARDEN gewarnt hat. LIMBACH gerät bundesweit in die Schlagzeilen als Minister, der seine beste Staatsanwältin sabotiert. Beifall kommt aus der falschen Ecke. Anwälte von Cum-Ex-Beschuldigten frohlocken, sie hätten doch immer schon gewusst, was die BRORHILKER für eine sei.

Nun zeigt LIMBACH, was er für einer ist. Der Justizminister dreht sich auf dem Absatz um und zerreißt die Pläne von NEUHEUSER für eine Neuordnung der Cum-Ex-Aufklärung. Am 11. Oktober spricht LIMBACH mit BRORHILKER, tags drauf sagt er im Rechtsausschuss: „Die angehaltene Organisationsentscheidung vom 22. September 2023 wird nicht weiterverfolgt. Wer der Sache verpflichtet ist, hinterfragt Standpunkte, Ideen und auch sich selbst.

BRORHILKER wird nicht entmachtet, sondern bekommt mehr Personal. Die Oberstaatsanwältin genieße sein Vertrauen und habe großartige Arbeit geleistet, sagt LIMBACH. BRORHILKER sei „eine hervorragende Ermittlerin“.

Kapitel 11: Glückwunsch zum Abschied

Sie glaubt ihm nicht mehr. BRORHILKER bleibt bei ihrer Entscheidung, ihre Beamtenkarriere zu beenden. Ihre Bewerbung bei Finanzwende erhält sie aufrecht.

Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als mich ihre Bewerbung erreichte“, erinnert sich Gerhard SCHICK, Gründer und Chef der Bürgerorganisation “Finanzwende”, die sich einer gerechteren Finanzpolitik verschrieben hat. Wer könnte ein besseres Gesicht für diese Sache sein als BRORHILKER?

Am 22. April 2024 macht sie ihre Entscheidung in einem Interview mit dem WDR bekannt. Sie werde die Staatsanwaltschaft Ende Mai verlassen. Die Behörden und die Politik hätten zwar verstanden, wie groß die Schäden durch Cum-Ex seien. „Trotzdem war und ist es so, dass es keine zentrale Zuständigkeit gibt. Es gibt keine Bündelung“, sagt BRORHILKER. „Es war auch nicht so, dass die Politik da einen Schwerpunkt gesetzt hat.“ Das dürfe nicht so bleiben: „In der Finanzkriminalität begegneten sich die Beamten und die Kriminellen nicht auf Augenhöhe. Da geht es oft um Täter mit viel Geld und guten Kontakten. Und die treffen auf eine schwach aufgestellte Justiz.“

Es ist auch eine Justiz mit zwei Zungen. „Ich empfinde es als zutiefst bedauerlich, dass Frau BRORHILKER uns verlässt“, sagt Minister LIMBACH, als er nach der Personalie BRORHILKER gefragt wird. Für die Justiz sei dies zweifellos ein großer Verlust und bedauerlich für die Cum-Ex-Ermittlungen.

Zu ungefähr derselben Zeit formuliert LIMBACH die Antworten auf die Anfrage der FDP im Landtag. BRORHILKER erscheint darin als bestenfalls durchschnittliche Beamtin, eher eine Belastung für ihre Behörde als eine Hilfe. Die Abgeordneten müssen denken: Vielleicht ist es so am besten.

Es ist eine Auffassung, die mancher in der Staatsanwaltschaft teilt. „Ein Dienststellenleiter von mir hat gesagt: Die BRORHILKER hat sich verrannt. Gut, dass sie weg ist“, berichtet ein ehemaliger Kollege von ihr. Neu sei diese Abneigung nicht. „Früher haben wir zusammen gegen Umsatzsteuerkriminelle ermittelt. Sie war abends oft lange im LKA. Sie hatte oft Ärger mit Vorgesetzten, denen ihr Ermittlungseifer zu viel war. Das macht Arbeit; so jemanden will man in der Behörde nicht.“

Die Nachreden auf BRORHILKER klingen wie eine Systemkritik. „Ihre ärgsten Feinde waren selbst Staatsanwälte und Ministerialbeamte“, sagt ein Insider. Dabei finde man „eine solche Ermittlerin in Deutschland kaum ein zweites Mal“, meint ein hochrangiger Beamter, der mit ihr zusammengearbeitet hat. „Frau BRORHILKER war im Hinblick auf Energie, Qualität und juristische Fachkenntnis herausragend.“

Doch Leistung, so heißt es aus der NRW-Justiz, lohnt sich nicht. „Für den außergewöhnlichen Einsatz müsste man eigentlich Lob erwarten. Toll gemacht oder so“, sagt ein Richter, der BRORHILKER aus einem gemeinsamen Projekt kennt. Stattdessen habe man ihre Arbeit intern nur bemäkelt.

„Man kann nicht immer nur gegen den Strom schwimmen, das macht auf Dauer mürbe“, erklärt der Richter. „Ich kann ihre Entscheidung verstehen. Ich habe Frau BRORHILKER dazu gratuliert.“


Anmerkung der Redaktion:

Anne BRORHILKER ist inzwischen Vorständin bei der NGO “Finanzwende” in Berlin und arbeitet aus dieser Position heraus für mehr Steuergerechtigkeit und gegen undurchsichtigen Finanzlobbyismus, Geldwäsche und die Verjährung der Cum-Ex-Geschäfte.